Arabische Jugend: Proteste gegen die Wand und Auswanderungswünsche

Algier, am 22. Februar 2019. Bild: Kritli hichem/CC BY-SA 4.0

Der Arab Youth Survey plakatiert die Unzufriedenheit der nachwachsenden Generation in den Ländern, die anders als die europäischen einen viel jüngeren Altersdurchschnitt haben

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Die Euphorie war riesig. Monatelang demonstrierten Anfang letztes Jahres Zigtausende in Algerien nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen großen Städten, für eine neue Verfassung und die Ablösung dessen, was "die Macht" ("le pouvoir") genannt wurde - ein Personenkreis im Halbdunkel mit direktem Anschluss zur Regierung, Chef-Posten in der Armee, in Geheimdiensten und Wirtschaftsunternehmen.

Danach wurden die Straßen gekehrt, zuerst, als die Proteste noch liefen, von Demonstranten und den städtischen Angestellten, die große Sympathie für die Sache hatten, später von der "neuen Macht", die der alten zum Verwechseln gleicht.

"Wir sind die Globalisierung"

"Wir sind die Globalisierung, wir können das Land neu aufbauen", war einer der Anfeuerungsrufe, die auf Twitter zu lesen waren. Er stammte von einem technikbegeisterten Emigranten, der im französischen IT-Sektor arbeitete. "Wir können etwas, wir haben über den Rand hinausgeschaut, wir kommen zurück aus unseren Exilländern und engagieren uns in Algerien", könnte man diesen Spruch deuten. Tatsächlich waren einige von einer Rückkehr überzeugt, wie man damals in französischen Medien lesen konnte.

Mittlerweile sind die Proteste versiegt. 400 bis 500 Teilnehmer zählte Le Monde unlängst bei einer - verbotenen - Demonstration zur Erinnerung an frühere Proteste. Der Machtapparat hat die Oberhand behalten. Die Angst vor einer Ausbreitung des Corona-Virus kam ihm zupass. Die Demonstrationen wurden verboten und die "Macht" konnte sich gezielt daran machen, zentrale Figuren der Proteste hinter Gitter zu bringen. Die Verhaftung des Journalisten Khaled Drareni, einer der genauesten Quellen, wenn es um Berichte zu Fortgang, Motiven und Hintergründe der Proteste ging, ist ein Exempel dafür. Die Nachricht über die Verhaftung ging in den News-Wellen der europäischen und westlichen Ländern unter.

Die internationale Öffentlichkeit kümmert sich nicht groß um Algerien. Das Interesse an der Protestbewegung im nordafrikanischen Land war auch vergangenes Jahr schnell erschöpft, als die Bilder der fahnenschwenkenden Demonstranten zur wöchentlichen Routine wurde, sich aber politisch nichts bewegte.

Auch die geopolitischen Interessen standen dagegen, dass aus Algerien der nächste Unruhestaat würde. Es gab ein paar wenige Äußerungen aus den Regierungen der größeren Player, etwa aus Frankreich oder aus Russland, Zurückhaltung lautete da das Gebot, keine Einmischung, zumindest nicht auf offizieller Ebene und bloß keine Zeichen dafür, dass die Proteste unterstützt würden.

Algerien ist wichtig für Öl sowie andere Bodenschätze, die Verbindungen mit auswärtigen Konzernen sollten nicht aufs Spiel gesetzt werden. Außerdem ist Algerien wichtig, wenn es um Terrorbekämpfung und politische Interessen in der Region geht, nicht zuletzt auch bei der Migrationspolitik.

Der Apparat der Macht konnte seine Position festigen, der Aufruhr in den algerischen Straßen verschwand hinter der alten Ordnung, die von neuen Figuren fortgesetzt wird.

Die Alten geben den Jungen keine Perspektive

Das Problem aber bleibt. Die Alten geben den Jungen keine Perspektive. Ihre Apparate bilden eine Wand in vielen Ländern. Nicht nur in Algerien, auch in Marokko, Libyen und in Tunesien gibt es dieses Problem wie auch im Libanon, im Irak, in Syrien und dem durch die Machtübernahme al-Sisis "stabilisierten" Ägypten. Die Situationen sind verschieden. Die irrsinnige Finanzkrise im Libanon, die ganz spezielle politische Situation dort, die kürzlich Macrons Vermittlungs-/Einmischungsversuch gegen die Wand der bestehenden Verhältnisse laufen ließ, ist nicht mit dem in eins zu setzen, was anderswo an Protesten passiert.

Es gibt aber ein paar Gemeinsamkeiten: die Jugendarbeitslosigkeit, die Korruption der politischen Klasse und die Verengung der Perspektiven für die Jüngeren. Dass bei den Krisen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas auch auf die nachwachsende Generation zu schauen wäre, geht beim Großteil der Analysen zu Syrien, Libyen, Irak, Libanon oder Ägypten unter. Im Blick ist die Strategie der wichtigen Interessensmächte, USA, Russland, Nato, Türkei, VAE, EU "im großen Spiel" und die Reaktion der Herren auf den Herrscherstühlen darauf.

Faktoren, die das tägliche Leben unmittelbar mitbestimmen, die Suche nach Arbeit, die Entlohnung, Hitze, Trockenheit, schlechte Ernten, kommen gegenüber der Menge an politik-strategischen Überlegungen zu den Machtverhältnissen kaum vor - meistens in Papieren der Think Tanks, die in Zirkeln kursieren. Man versichert sich gegenseitig der Wichtigkeit der eigenen Arbeit in mehr oder weniger geschlossenen Distributions- und Jobkreisen. Auch da bleibt vieles beim gleichen Personal. Raus gehen Stichworte, exemplarisch: "Klimawandel" oder "Generationenkonflikt".

Disproportion

Leider ist es nicht viel anders, wenn es um die größte Umfrage unter den arabischen Jugendlichen geht. Das reklamiert die Arab Youth Survey für sich. Auch hier achtet man auf den Lack und kratzt nur oberflächlich daran. Sie ist hauptsächlich eine Schautafel-Präsentation (das ausführlichere Whitepaper verschwindet im Hintergrund) auf der Höhe dessen, was die Business-World von Kommunikation erwartet: Video-Clips, kurze eindeutige Ergebnisse, cleane Positionen, keine Verstörung. Alles andere wäre bei den Verantwortlichen der Umfrage, die bestens mit der IMF-Welt, dem großen Business und PR verknüpft sind, eine Überraschung. Es geht um handgereichte Häppchen, aus denen sich wortreiche mahnende Vorträge machen lassen, die nichts ändern.

Und doch: Es wurden 4.000 Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren aus 17 Ländern, zu gleichen Anteilen männlich und weiblich, zum ersten Mal mit Teilnehmern aus Syrien, befragt. Die Umfrage wurde sogar zwei Mal durchgeführt, vor und nach Ausbruch der Corina-Krise - so spiegeln die Ergebnisse doch mehr wieder, als es subjektive, anekdotische Einsichten leisten. Es zeigt sich eine Disproportion zwischen dem Anspruch der Regierenden in arabischen Ländern, für Stabilität zu sorgen, weshalb sie dann öfter in Berichten als "alternativlos" dargestellt und in der Politik auch so behandelt werden (siehe Algerien), und den Einschätzungen der Befragten.

80-Prozent-Unterstützung für Proteste...

So unterstützen laut den "Findings" weit über 80 Prozent, manchmal fast an die 90 Prozent, der Jugendlichen in Algerien, Irak und dem Sudan die Proteste der Regierung in diesen Ländern. Im Libanon sind es 82 Prozent. 86 Prozent der Befragten in Libyen, über die Hälfte der Befragten in Tunesien und 40 Prozent der 18- bis 24-jährigen Ägypterinnen und Ägypter sind der Überzeugung, dass es im nächsten Jahr wieder zu Protesten kommt.

... Auswanderungswünsche

42 Prozent der Befragten überlegen sich zu emigrieren, 15 Prozent davon "versuchen es aktiv", 27 Prozent sind am Überlegen. Der Anteil derjenigen, die sich Gedanken zur Auswanderung machen oder dies als Wunsch haben, ist mit 63 Prozent am größten in den arabischen Ländern an der Ostküste des Mittelmeers und den Hinterländern wie dem Irak (der früher gebräuchliche Begriff für die Region lautete Levante). In Nordafrika sind es 47 Prozent. Am kleinsten ist der Anteil in den Golfstaaten (13 Prozent).

Die Vereinigten Arabischen Emirate gehören wie die USA, Kanada, Großbritannien und auch Deutschland zu den bevorzugten Zielländern.

Arbeitslosigkeit

Große Sorgen machen sich die Jungen über ihre Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. "Unemployment is top issue", heißt es in den Ergebnissen der Studie. Die Arbeitslosigkeit ist die erste Sorge. 87 Prozent sind darüber beunruhigt. Bei der Frage danach, ob sie ihrer Regierung vertrauen, dass sie dieses Problem in den Griff bekommen könnte, weist die große Übersichtszahl eine geteilte Meinung aus. 51 Prozent vertrauen dem nicht, 49 Prozent schon. Einig sind sich 77 Prozent der Befragten in den 17 Ländern darin, dass ihre Regierung mit Korruption zu tun hat.

Die Arbeitslosigkeit in der MENA-Region (Mittlerer Osten und Nordafrika) ist mit 30 Prozent die weltweit höchste. 72 Prozent der Befragten gaben an, dass es ihrem Gefühl nach seit der Corona-Krise noch schwieriger geworden ist, einen Job zu finden. Im Libanon und in Jordanien sind es 91 und 90 Prozent. Schaut man sich die Internetnutzung der Jugendlichen in den arabischen Ländern an, so sieht man ganz ähnliche Werte. 90 Prozent in Saudi-Arabien nutzen soziale Medien als Nachrichtenquelle. Die Länder sind längst nicht mehr abgeschottet.