Arm gewohnt

Leerer Einkaufskorb und Wohnungsschlüssel aus 100-Euroscheinen

Studie des Paritätische Gesamtverbandes zeigt: Armut in Deutschland ist höher als gedacht. Hohe Wohnkosten sind ein Grund. Junge Erwachsene und Rentner besonders gefährdet.

Eine "bahnbrechende Berechnung zur Wohnarmut in Deutschland" kündigte der Paritätische Gesamtverband am 13. Dezember in einer neuen Studie an.

In der Kurzexpertise, die sich auf Daten des Statistischen Bundesamts stützt, werden die Armutsbetroffenheit nach vulnerablen Gruppen und Regionen aufgeschlüsselt und sozialpolitische Maßnahmen empfohlen.

Steigende Wohnkosten – Wohnortwechsel ein Risiko

"Wohnen macht arm!", konstatiert die Paritätische Forschungsstelle in der Studie. Die Forschenden Greta Schabram, Jonas Pieper, Andreas Aust, Katja Kipping und Joachim Rock haben eine Wohnarmuts-Grenze ermittelt, der zufolge 17,5 Millionen Menschen in Deutschland – 21,2 Prozent der Bevölkerung – von Wohnarmut betroffen sind.

Sie gehen von einem relativen Armutsbegriff aus, dem zufolge Menschen arm sind, wenn sie "von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem [EU-]Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar" gilt.

Wie erklärt sich die Differenz zwischen konventioneller Armutsquote und Wohnarmutsquote? 5,4 Millionen weitere Menschen als in gewöhnlichen Berechnungen werden erfasst, wenn – anders als bei der konventionellen Armutsformel – die Wohnkosten berücksichtigt werden. Lebensstandard ist nicht nur einkommens-, sondern auch wohnabhängig.

Menschen mit gleichen Einkommen können unterschiedliche Lebensstandards haben, wenn die Wohnkosten divergieren.

Unter den Bedingungen eines sinkenden Bestands an Sozialwohnungen, steigenden Neubaukosten, einem unregulierten Mietmarkt und mehr Konkurrenz um Wohnraum steigen die Wohnkosten. Eine Mietkündigung kann schnell eine soziale Härte werden, der Wechsel der Wohnung selbst "nach einem Arbeitsplatzwechsel selten ohne finanzielle Überlastung" vonstatten gehen.

Besonders betroffen sind Menschen mit niedrigen Einkommen. Sie geben einen höheren Anteil ihres Einkommens für Wohnkosten aus: Im Schnitt 46 Prozent gegenüber etwa 30 Prozent bei Normalverdienern. Dies betrifft insbesondere Rentner, Alleinerziehende, junge Berufstätige und Studierende. Ein Beispiel der Studie veranschaulicht, wie Mietzahlungen zum Armutsrisiko werden können:

Studentin Mila Nguyen in Leipzig: Die 21-jährige Studentin Mila Nguyen studiert in Leipzig und hat ein monatliches Einkommen (Kindergeld, Unterhalt der Eltern und Nebenjobs) von 1.350 Euro, womit sie über der konventionellen Armutsgrenze von 1.314 Euro liegt.

Zu Beginn ihres Studiums konnte sie kostenfrei bei einer Freundin wohnen. Als die Freundin jedoch berufsbedingt in eine andere Stadt umzog, musste Mila Nguyen sich eine neue Bleibe suchen. Mit viel Glück findet sie ein WG-Zimmer für eine Warmmiete von 400 Euro. Nach Abzug der Wohnkosten bleiben ihr nun 950 Euro im Monat zur Verfügung, womit sie unter der Wohnarmutsschwelle von 1.016 Euro liegt.

Paritätischer Gesamtverband

Junge, Alte, Alleinerziehende besonders gefährdet – nicht nur Mieter betroffen

Insgesamt sind laut der Studie 21,2 Prozent der Bevölkerung, 17,5 Millionen Menschen, von Wohnarmut betroffen. Die Wohnarmutsbetroffenheit ist regional unterschiedlich verteilt, liegt aber in allen Bundesländern bei über 16 Prozent. Besonders hoch fällt sie in Bremen (29,3 Prozent), Sachsen-Anhalt (28,6 Prozent), Hamburg (26,8 Prozent), Nordrhein-Westfalen (24,2 Prozent) und Hessen (23,7 Prozent) aus.

Spitzenreiter der Wohnarmut in den Altersgruppen sind junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren mit 31 Prozent Betroffenheit, gefolgt von Älteren über 65 Jahren mit 27,1 Prozent und Unter 18-Jährigen mit 20,6 Prozent Betroffenheit. "Eine hohe Vulnerabilität bei jungen Erwachsenen ist schlecht für die berufliche Chancengleichheit im Rahmen der Berufsausbildung", wie die Studie kritisiert.

Infografik, Säulendiagramm
Armut in Deutschland nach Altersgruppen. Daten: Paritätischer Gesamtverband / Grafik: TP

Bedenklich ist auch die Aufschlüsselung nach Familienstand. 41,7 Prozent der Alleinstehenden über 65 Jahren, 40,4 Prozent der alleinstehenden Frauen und 34,4 Prozent der alleinstehenden Männer sind von Wohnarmut betroffen. Alleinerziehende sind zu 36 Prozent betroffen, Zwei-Erwachsenen-Haushalte mit drei oder mehr Kindern zu 30,1 Prozent.

Während 11,9 Prozent der Erwerbstätigen von Wohnarmut betroffen sind, sind es 27 Prozent der Rentner, 61,3 Prozent der Erwerbslosen und 37,7 Prozent sonstiger Nicht-Erwerbspersonen.

Auch Eigentum schützt laut der Studie nicht vor Wohnarmut. Immerhin 13,3 Prozent der Menschen mit Wohneigentum sind von Wohnarmut betroffen, während es bei den Mietern im Schnitt 28,9 Prozent sind. Bei Erstgenannten wurden in der Erhebung auch Hypothekenzinsen, Versicherungen und Steuern berücksichtigt.

Wohnkosten verringern

Die Verfasser der Studie unterbreiten Vorschläge, um der Wohnarmut politisch zu begegnen. Eine Ausweitung der Mietpreisbremse sowie ein Mietendeckel könnten steigenden Mietkosten entgegenwirken.

Mehr Investitionen in öffentlichen Wohnungsbau, die Entfristung von Sozialbindungen sowie Investitionszulagen für Gemeinnützigkeit könnten den Konkurrenzdruck am Wohnungsmarkt verringern. Begleitet werden müsse dies durch einen existenzsichernden Mindestlohn, eine Stärkung kinderbezogener Leistungen, der gesetzlichen Rente und des BAföGs

Vor allem müsse die Bundesregierung dem vereinbarten Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr nachkommen. Jenes hatte sie 2023 um über 100.000 nicht gebaute Wohnungen gerissen, für 2024 geht der Bauindustrieverband nur von 230.000 neuen Wohnungen aus. Bedenklich sei insbesondere der fallende Bestand an Sozialwohnungen.

Jener hat sich seit 2006 von über 2 Millionen auf 1,07 Millionen im Jahr 2023 halbiert. Jedes Jahr fallen 41.000 Wohnungen aus der befristeten Sozialbindung. "Die Schuldenbremse sollte daher für Zukunftsinvestitionen geöffnet werden", erklärt Lukas Siebenkotten vom Deutschen Mieterschutzbund.

"Der Markt regelt es nicht!", heißt es hingegen in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus dem Juli. Eine bestandssichernde, nachhaltige und soziale Bewirtschaftung großer Wohnungsbestände in öffentlicher Hand sei ihr zufolge möglich und gegenüber der deregulierten Privatwohnwirtschaft sogar kostengünstiger.