"Armut, Hunger, Naturzerstörung sind eine logische Begleiterscheinung unseres Wirtschaftens"
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Der Politikwissenschaftler Norbert Nicoll über den zerstörerischen Zwang zum fortwährenden Wirtschaftswachstum und dem drohenden "Zivilisationsbruch"
"Keine Kultur kann auf lange Sicht erfolgreich sein, wenn sie ihre Ressourcen systematisch übernutzt und sie die Lebenschancen der folgenden Generationen einschränkt" sagt Norbert Nicoll im Interview mit Telepolis. "Adieu, Wachstum! Das Ende einer Erfolgsgeschichte" verfasst hat, betont, dass in unserer Wirtschaftsordnung alles auf Wachstum aus sei, aber dadurch schwere Schäden für den Planeten und die Menschen entstünden. Der "Zwang zum fortwährenden Wachstum" lasse echte Nachhaltigkeit nicht zu.
"Armut, Hunger, Naturzerstörung - das sind keine Krisen des Kapitalismus, sondern eine logische Begleiterscheinung unseres Wirtschaftens", so Nicoll, der an der Universität Duisburg-Essen zur Nachhaltigen Entwicklung lehrt. Ein Interview über die vielfältigen Krisen unserer Zeit, die, wie Nicoll erklärt, oft von Medien aufgrund der Komplexitiät der Verwerfungen nur als Einzelkrisen präsentiert würden.
Herr Nicoll, in Ihrem Buch schreiben Sie: "Wenn das Erdöl weniger wird, bohren wir tiefer. Wenn ein Wald gerodet ist, widmen wir uns dem nächsten. Wenn ein Feld nicht mehr genug Ertrag abwirft, tragen wir mehr chemischen Dünger auf. Wenn die Fischbestände zurückgehen, fahren wir weiter auf das Meer hinaus." Ist mit dieser Erkenntnis ein Kernproblem unserer Zeit auf den Punkt gebracht?
Norbert Nicoll: Zweifellos. Wir sind Teil einer Kultur, die die Probleme der Gegenwart mit expansiven Strategien zu lösen versucht. Es ist jedoch absehbar, dass diese Strategien nicht bis in alle Ewigkeit Bestand haben können. Keine Kultur kann auf lange Sicht erfolgreich sein, wenn sie ihre Ressourcen systematisch übernutzt und sie die Lebenschancen der folgenden Generationen einschränkt.
Sie haben ein Buch mit dem Titel "Adieu, Wachstum" verfasst. Wo liegt das Problem an der kapitalistischen Wachstumsidee?
Norbert Nicoll: Das ist eine wichtige Frage, die nur schwerlich kurz zu beantworten ist. Ich kann an dieser Stelle nur einige Aspekte anreißen. Zunächst muss man feststellen, dass der Kapitalismus in den letzten 200 Jahren in der westlichen Hemisphäre recht erfolgreich gewesen ist. Der Wohlstand ist wie nie zuvor angestiegen - und in vielen Bereichen wie zum Beispiel der Gesundheit gab es enorme Fortschritte. Die meisten Menschen in Deutschland leben heute bedeutend besser als ihre Vorfahren vor 200 Jahren.
"Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen"
Das stimmt. Aber die Entwicklung hat auch Schattenseiten.
Norbert Nicoll: Eindeutig. Sie hat sogar viele Schattenseiten - sie ging einher mit der Ausbeutung von Natur und Menschen. Gleichzeitig mit dem Wachstum der Wirtschaft und der beachtlichen Wohlstandsentwicklung stiegen der Energieverbrauch, die Treibhausgas-Emissionen und die Weltbevölkerung stark an. Hier zeichnen sich zumindest auf lange Sicht Grenzen ab.
Im Kapitalismus geht es darum, grob vereinfacht, in einer Art Endlosschleife aus Geld mehr Geld zu machen. Es ist wie mit dem Fahrradfahren. Je mehr man strampelt, desto schneller geht es voran. Rückwärts geht es nicht - und wer plötzlich anhalten muss, legt vielleicht einen uneleganten Abstieg hin. Auch Stillstand ist nicht vorgesehen. Der Kapitalismus muss wachsen. Die Frage nach dem Warum des Wirtschaftens wird dabei gar nicht mehr gestellt. Die Wirtschaft sollte allerdings den Menschen dienen - leider ist es heute genau umgekehrt.
Der Kapitalismus lässt sich als eine Art dialektisches Verhältnis aus Produktivität und Plünderung beschreiben. Er saugt die Schätze der Natur regelrecht auf, um diese in Produkte zu verwandeln und damit die Arbeitsproduktivität zu steigern. Und damit wiederum die Gewinne.
Alle Kosten werden so weit wie möglich externalisiert. Die kapitalistischen Strukturen mit ihrem durch das Prinzip der Kapitalakkumulation hervorgerufenen Zwang zum fortwährenden Wachstum lassen echte Nachhaltigkeit nicht zu. Armut, Hunger, Naturzerstörung - das sind keine Krisen des Kapitalismus, sondern eine logische Begleiterscheinung unseres Wirtschaftens. Es geht nur um das Ziel Geldvermehrung. Und der Raubbau an der Natur oder die Entlassung von Tausenden Arbeitskräften sind Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Es ist klar, dass wir nicht so weiter wirtschaften können. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen.
Wir, die Menschen, die Politiker, tun aber so, als könne das Wachstum immer weitergehen, als wären die Ressourcen des Planeten unendlich.
Norbert Nicoll: Ja, es greifen zahlreiche Mechanismen, die verhindern, dass wir uns dieser zentralen Frage stellen. Auch hier kann ich nur einige Punkte anreißen. Manche Mechanismen wie die Verleugnung und die Verdrängung sind vielen Leser sicher bekannt. Viele Menschen sind auch so sehr mit ihrer Arbeit und der Bewältigung ihrer Alltagsaufgaben befasst, dass sie gar nicht mehr zum Nachdenken kommen. Sie fühlen sich wie der Hamster in seinem berühmten Rad. Er muss immer schneller rennen, um doch nur auf der gleichen Stelle zu bleiben. Diese ausgelaugten Menschen sinken dann abends in ihren Fernsehsessel und sind froh, wenn sie noch für einige Stunden mit leichter Unterhaltung berieselt werden.
Hinzu kommt: Es wird in Politik und Wirtschaft strukturell zu kurzfristig gedacht. Die großen Unternehmen denken in Quartalen. Und die meisten politischen Entscheidungsträger blicken kaum über die Legislaturperiode hinaus.
Man könnte sagen: Auf der Titanic war auch alles in Ordnung - bis das Desaster nicht mehr zu übersehen war.
Norbert Nicoll: Auf der Titanic war das vielleicht so. Passagiere und ein großer Teil der Besatzung dürften ahnungslos gewesen sein. Heute ist das Wissen um die Probleme schon groß. Erst kürzlich haben 15.000 Wissenschaftler aus aller Welt einen eindringlichen Appell an die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft gerichtet und einen Kurswechsel angemahnt. Dieser ist immer noch möglich, wenn auch das Zeitfenster immer kleiner wird - noch haben wir aber keinen Schiffbruch erlitten.
Die Bearbeitung der verschiedenen Krisen kann in eine sehr autoritäre Richtung gehen
Sie schreiben in Ihrem Buch von einem drohenden "Zivilisationsbruch" und einer weiteren Erosion demokratischer Errungenschaften. Was meinen Sie damit?
Norbert Nicoll: Spätestens seit den frühen 1980er Jahren hat ein Rückbau von sozioökonomischen Rechten stattgefunden. Neoliberale Politik hat dazu geführt, dass Reallöhne kaum noch steigen, Sozialleistungen gekürzt und Gewerkschaften geschwächt wurden. Deregulierung und Liberalisierung waren seinerzeit wichtige Schlagworte. Steuern für die großen Unternehmen und die Reichen wurden gesenkt.
Die Ungleichheit ist deutlich gestiegen. Diese ist ebenso schädlich für eine demokratische Gesellschaft wie der Abbau von sozialen Rechten. Zum neoliberalen Rollback hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 der Krieg gegen den Terror gesellt. Seitdem werden politische Rechte scheibchenweise abgebaut. Der Überwachungsstaat wird im Gegenzug aufgebaut. Demokratie braucht aber Privatsphäre.
Beschäftigt man sich mit der Geschichte der letzten 2000 Jahre, so lernt man, dass Systeme über ihr eigenes Verfallsdatum hinaus existieren können. Manchmal kommt ein Zusammenbruch schnell, manchmal auch nicht. Auf Krisen wird oft autoritär und gewaltsam reagiert. Die Kräfte mit differenzierten Analysen führen im Regelfall nicht das Wort, sondern jene, die einfache Lösungen anbieten und Sündenböcke ausgemacht haben. Meine Befürchtung ist also, dass die Bearbeitung der verschiedenen Krisen, mit denen wir entweder schon jetzt konfrontiert sind oder dies absehbar sein werden, in eine sehr autoritäre Richtung gehen könnte.
Lassen Sie uns näher auf den Begriff des Wirtschaftswachstums eingehen. Was ist damit überhaupt gemeint?
Norbert Nicoll: Wirtschaftswachstum bedeutet, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wächst. Das Bruttoinlandsprodukt ist seinerseits definiert als der Gesamtwert aller in einem Land in einem Jahr produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen. Im Jahr 2016 lag das BIP Deutschlands nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei rund 3,14 Billionen Euro.
Die Vorstellung, dass das Wachstum immer weitergehen wird und weitergehen muss, ist weit verbreitet. Sie haben in Ihrem Buch ein sehr markantes Zitat von Angela Merkel angeführt. Sie sagte einmal: "Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Und umgekehrt: Mit Wachstum Investitionen, Arbeitsplätze, Gelder für die Bildung, Hilfe für die Schwachen und am wichtigsten Vertrauen bei den Menschen." Was denken Sie, wenn Sie das lesen?
Norbert Nicoll: Frau Merkel spricht eine Meinung aus, die von nahezu allen Parteien geteilt wird - und das seit vielen Jahrzehnten. Wirtschaftswachstum ist das wichtigste politische Ziel. Man geht davon aus, dass ohne Wachstum die Einkommen nicht steigen, die Arbeitslosigkeit nicht sinken und die Kredite nicht zurückgezahlt werden können. Unser derzeitiges ökonomisches System ist auf Wachstum gegründet. Ob das aber auch in Zukunft funktionieren kann, wage ich zu bezweifeln. Über diese Frage müsste viel mehr öffentlich debattiert werden.
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