Attacke in Berlin: Maskenstreit oder Rassismus?

Wehrte sich aus dem Krankenhaus gegen mediale Darstellung: 17-jährige Dilan S. Bild: dilan.srz

Trau, schau, wem: Der Angriff auf eine junge Frau muss neu bewertet werden. Das hat viel mit der medialen Präsentation zu tun. Und mit notwendiger Medienkritik

Das sogenannte "Quellen-W", also die Antwort auf die Frage nach der Quelle von Aussagen, wird im Journalismus tendenziell wichtiger. Das zeigt sich auch an einem aktuellen Beispiel dieser Tage – dem Fall einer 17-Jährigen, die in Berlin an einer Straßenbahnhaltestelle offenbar von mehreren Erwachsenen zusammengeschlagen wurde und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus musste.

Viele Medien hatten zunächst gemeldet, das sei geschehen, weil die junge Frau keine Maske in der Tram getragen habe. Dabei gingen sehr unterschiedliche Medien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk Berlin-Brandenburg oder auch der Blog des rechts-offenen Publizisten Boris Reitschuster wenigstens in einer Hinsicht ähnlich vor.

Zumindest in der Überschrift und im ersten Teil der Beiträge wurde keine Quelle ihres Beitrages deutlich. Erst im Verlaufe der Texte fand sich erwähnt, dass die (Pressestelle der) Berliner Polizei und deren Berichte die Quelle für diese Versionen waren.

Dabei wäre es auch und gerade in diesem Falle sehr sinnvoll gewesen, die (einzige) Quelle der Texte so früh wie möglich zu erwähnen – im Sinne des alten Sprichworts "Trau, schau, wem?", das auf eine ähnliche lateinische Wendung zurückgeht: "Fide, sed cui, vide."

Dieses "Trau, schau, wem?" bildet die Schlussworte der Fabel "Der Löwe und die Ziege", die dem griechischen Dichter Äsop zugeordnet wird: Der Löwe preist das gute Gras neben sich an, doch die Abstand haltende Ziege durchschaut seine Absicht, sie zu fressen. Also – wem sollten wir warum vertrauen, oder auch nicht? Und aktuell insbesondere: Woher haben Medien ihre Informationen?

Herkunft der Information kenntlich machen

Genau das sollte sich in diesem aktuellen Falle schnell als relevant erweisen: Denn einige Tage nach der Veröffentlichung der ersten Berichte erschienen viele Artikel, die sich auf eine ganz andere Version des Geschehens beriefen und nun – endlich – auch die Polizei als Quelle der ersten Version prominent nannten.

Dabei ging es vielleicht auch um die Zuweisung von Verantwortung an die Polizei, die in Ansätzen kritisiert wurde.

Die 17-Jährige hatte sich vom Krankenhaus aus per Instagram zu Wort gemeldet und sprach von einer rassistischen Tat. Sie widersprach damit deutlich der ersten Version der Polizei – und praktisch aller journalistischen Medien bis dahin, welche wenig transparent und ebenso wenig kritisch die Version der Polizei übernommen hatten.

Die Wahrheit sei "verdreht" worden, und zwar in zwei wesentlichen Aspekten: Sie

  1. habe eine Maske getragen (was laut Medienberichten auch die Überwachungskameras der Tram für den Ein- und Ausstieg der jungen Frau belegen), und
  2. sie mehrmals als "Drecksausländerin" beschimpft worden: "Geh dahin, wo du herkommst", solle einer der Angreifer zudem gerufen haben.

Die Gewalt-Tat habe also klar einen rassistischen Hintergrund.

Offenbar vor allem, nachdem sich das mutmaßliche Opfer dieser Gewalttat selber per Plattform öffentlich zu Wort gemeldet und sich damit jenseits etablierter Medien eine Art Gegenöffentlichkeit gebildet hatte, scheint bei der Berliner Polizei ein gewisses Überdenken des bisherigen Agierens begonnen zu haben.

Nun hieß es seitens der Polizei, um "Verwirrungen" aufzuklären, habe man alle Beteiligten noch einmal befragen müssen. Die Polizei-PR führte jetzt ihre bisherige, offenkundig fehlerhafte Darstellung auf die am Ort des Angriffs aufgenommenen Strafanzeigen zurück, die "missverständlich formuliert" gewesen seien.

Berliner Polizei verteidigt eigene Mitteilung

"Wie bei jeder anderen Pressemeldung der Polizei Berlin auch, kann nur der Stand der Informationen wiedergegeben werden, der zum Zeitpunkt des Verfassens der Meldung bestand", habe die Polizei mitgeteilt.

Die junge Frau habe eine Maske getragen und diese Maske lediglich kurz nach unten gezogen, als sie mehrmals rassistisch beleidigt worden und daraufhin ein lautstarker Streit entbrannt sei. Die sechs verdächtigen Erwachsenen, drei Männer und drei Frauen, hätten demzufolge laut korrigierter Polizei-Darstellung "überwiegend keine Masken" getragen.

Es kann an dieser Stelle nicht vertiefend auf die Problematik von etwaigem strukturellen oder auch aktuellen Rassismus in Behörden wie hier der Polizei eingegangen werden. Denn egal, ob man diese Hypothese für plausibel oder erwiesen hält oder auch ganz anderer Auffassung sein mag: Das sogenannte Quellen-W im Journalismus ist ganz sicher nicht ein "fünftes Rad" am Wagen, das im Beitrag irgendwann benannt werden sollte.

Insbesondere bei Beiträgen, für die nur eine Quelle verfügbar ist, sollte diese so früh wie möglich erwähnt werden, damit das Publikum diesen Beitrag eigenständig einordnen kann.

Konkret: Die Aussage: "Polizei: 17-Jährige wegen Nicht-Tragens von Maske zusammengeschlagen" (mit genauer Zeitangabe der Veröffentlichung) wäre auch hier und jetzt noch eine empirisch wahre Aussage, weil genau dies die Version der Polizei zu jenem Zeitpunkt war.

Ohne die Quellenangabe wiederum war diese Version nach allem, was wir nun an Quellen zur Verfügung haben, offenbar von vornherein falsch.

Dieses aktuelle Beispiel der Wichtigkeit frühestmöglicher Quellenangabe ist alles andere als ein Einzelfall. Ich habe hier ein auch im Kontext der aktuellen Ukraine-Krise interessantes Beispiel vom Mai 2018 ausführlich diskutiert: In vielen Medien (wie der Tagesschau) hieß es damals über den putinkritischen russischen Journalisten Arkadi Babtschenko: "Babtschenko erschossen" oder "Babtschenko ermordet", was sich dann einen Tag später als komplett falsch oder eben manipuliert herausstellte. Angeblich, so hieß es später, sei es darum gegangen, einen geplanten russischen Anschlag auf den Mann zu verhindern

Hätten Tagesschau" etc. hingegen mit frühestmöglicher Angabe der Quelle getitelt: "Ukrainische Behörden: Babtschenko ermordet", wäre das bis heute eine empirisch wahre Aussage. Denn genau das hatten jene Quellen an diesem Tag behauptet – und sehr viele etablierte und reichweitenstarke (westliche) Medien hatten es ohne prominente Angabe der Quelle einfach als unbestreitbare Tatsache übernommen.

Insofern von der Struktur des Herangehens und der Beiträge vergleichbar mit dem jetzigen Agieren vieler Medien im Fall der 17-Jährigen in Berlin.

Dabei scheint es weniger wichtig, ob die jeweilige Redaktion die Polizei oder auch ukrainische Behörden für besonders "glaubwürdig" hält – diese Entscheidungen und Einordnungen sollten moderne Medien doch bitte ihrem aufgeklärten Publikum überlassen.

Vertrauen, aber wem und warum? Die beiden Beispiele von 2018 und 2022 zeigen, dass Quellen-Transparenz in wichtigen Bereichen des Journalismus einer der Aspekte ist, bei denen Verbesserungsbedarf besteht.