Attentat in Paris: Kurdische Organisationen glauben nicht an Einzeltäterschaft
Vorwurf der Beweismittelvernichtung nach Anschlag in Paris: Eine der Getöteten war Anti-IS-Kämpferin und hatte Kaderfunktion in kurdischem Dachverband, der nun den türkischen Geheimdienst verdächtigt.
Kurdische Medien, Organisationen und Teile der Community sind nach den tödlichen Schüssen auf drei Menschen am 23. Dezember im Umkreis des kurdischen Kulturzentrums in Paris nicht von der Einzeltäterthese überzeugt und verdächtigen den türkischen Geheimdienst, hinter den Morden zu stecken.
Eine der Getöteten, die mit bürgerlichem Namen Emine Kara hieß, war nach Angaben kurdischer Medien Mitglied des Exekutivrats der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), zuvor Aktivistin der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und hatte in Nordsyrien unter dem Nom de guerre Evîn Goyî gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gekämpft. Die KCK glaubt vor diesem Hintergrund nicht, dass die 48-Jährige nur ein Zufallsopfer des kurz nach dem Anschlag festgenommenen Rassisten William M. war.
Die französischen Behörden seien mit Nachdruck aufgefordert, gründlich zu ermitteln und "alle Verantwortlichen" vor Gericht zu bringen, erklärte der Dachverband. Er sehe den Anschlag "als geplanten Terrorakt und eindeutige Fortsetzung des Massakers vom 9. Januar 2013, bei dem Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienstes hingerichtet wurden – ebenfalls in Paris", berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF vergangene Woche.
Alle drei damals getöteten Frauen hatten ebenfalls Kaderfunktion in kurdischen Organisationen – Sakine Cansiz galt in der Bewegung als lebende Legende, nachdem sie 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei verhaftet worden war, sich dort als erste Frau vor Gericht politisch verteidigt und mehrere Jahre ungebrochen in einem Foltergefängnis verbracht hatte.
Sie zählte zweifellos zu den politischen Vorbildern von Emine Kara, die sich 1988 schon mit 14 Jahren der Bewegung anschloss. Die Anti-IS-Kämpferin sei das "Hauptziel" des Anschlags am 23. Dezember 2022 gewesen, hieß es in der KCK-Erklärung. Neben ihr waren der kurdische Musiker Mîr Perwer und dem langjährige Aktivist Abdurrahman Kızıl erschossen worden.
Überwachungstechnik in Tatortnähe gefunden – und sogleich gesprengt
Als weiteres Indiz für die Drahtzieherschaft des türkischen Geheimdienstes werten kurdische Medien einen Vorfall am Abend des 30. Dezember: im 10. Arrondissement, wo sich auch das nach dem kurdischen Sänger Ahmet Kaya benannte Kulturzentrum befindet, hatte die Polizei am Freitag gegen 20.30 Uhr bei einer Routinekontrolle Überwachungstechnik in einem Fahrzeug entdeckt, war aber von einer Bombe ausgegangen und hatte Alarm ausgelöst, um den Behälter kontrolliert zu sprengen.
Nach der Sprengung wurde festgestellt, dass es sich um keine Bombe gehandelt habe. Bilder der Vorrichtung ließen kurdische Journalisten auf einen IMSI-Catcher schließen, mit dem Mobilfunkverkehr und WLAN in der Umgebung abgefangen werden kann. Für die Polizei schien die Sache erledigt, da es sich um keine Bombe handelte. Allerdings war laut einem Bericht der Zeitung Le Parisien auch der Geheimdienst eingeschaltet worden, da der Fund nach Überwachungstechnik ausgesehen hatte.
Angesichts der mutmaßlichen Geheimdiensttechnik sprächen "viele von Vertuschung und Beweismittelvernichtung im Zusammenhang mit dem Anschlag vom 23. Dezember", hieß es am heutigen Montag in einem ANF-Bericht. Es bestehe der dringende Verdacht, "dass hinter den Morden von Paris kein rassistischer Einzeltäter, sondern der türkische Geheimdienst steckt".
Simpler Rassist ohne Hintermänner?
Der festgenommene Täter William M. hat nach Medienberichten sowohl die Morde als auch eine rassistische Motivation gestanden. Der 69-jährige Ex-Lokführer gab an, er habe es generell auf "nicht europäische Ausländer" abgesehen gehabt. Ganz danach sah es auch aus – und zwar schon vor dem Attentat.
William M. war am 12. Dezember auf freien Fuß gekommen, nachdem er rund ein Jahr zuvor mit einem Säbel in einer Unterkunft für Geflüchtete aufgetaucht war und zwei Menschen verletzt hatte. Der Prozess stand noch bevor – der Mann stand deshalb unter gerichtlicher Aufsicht, war aber angeblich in keiner Datei als Rassist oder Rechtsextremist erfasst. Den Hass auf "nicht europäische Ausländer" will er nach einem Einbruch im Jahr 2016 entwickelt haben.
Gesagt hat er jedenfalls offiziell kein Wort darüber, dass ihn jemand angestiftet, ihn beauftragt oder ihm einen Tipp gegeben habe, wer als Opfer in Frage käme, falls er weiterhin einen privaten Rassenkrieg führen wolle.
Ist dies damit ausgeschlossen oder wäre auch denkbar, dass er etwas verschweigt, weil er sich in der Rolle des "einsamen Wolfs" besser gefällt? Angst um sein Leben hat er nach eigenen Angaben wohl nicht. Angeblich bedauert er sogar, sich nach der Tat nicht selbst getötet zu haben.
Der Demokratische Rat der Kurden in Frankreich gibt sich mit dem bisher überlieferten Geständnis jedoch nicht zufrieden: "Wir sind empört, weil man uns glauben machen will, dass es sich um einen simplen Rechtsextremen handelt", sagte dessen Sprecher Agit Polat laut einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
Es könne kein Zufall sein, dass der mutmaßliche Täter ausgerechnet zum Ahmet-Kaya-Zentrum kam, eines seiner Opfer in einem gegenüber gelegenen kurdischen Restaurant niederschoss und dann 150 Meter die Straße, die voller internationaler Läden sei, entlanglief, um schließlich in einem kurdischen Friseursalon um sich zu schießen, bevor er überwältigt werden konnte.