"Auch mit halbem Kopf kann ein Soldat glücklich sein"

Graphik von Augustinus Heumann zu Karl Wagenfelds Dichtung "Daud un Düwel" von 1912

Soldaten-Veräppelung vor hundert Jahren - polemisch präsentiert aus aktuellem Anlass von Bundespräsident Gaucks Rede

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Wir leben, wie uns der evangelische Theologe und Bundespräsident Joachim Gauck dieser Tage aufklärt, in einer "glücksüchtigen Gesellschaft". Man hält nicht mehr viel vom Opfer und ist entsetzt über Soldatensärge aus Kriegseinsätzen, die doch (mit einer Ausnahme) alle Bundestagsparteien befürworten. Richtig gebrauchen kann man ein solches Volk für höhere Weihen noch nicht. Irgendetwas müssen die Menschen bei den Ideen der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika falsch verstanden haben. Sie nehmen heute tatsächlich das unveräußerliche Recht, zu leben und glücklich sein zu wollen, für sich in Anspruch.

Vor solchen revolutionären, ja pflichtvergessenen Vorstellungen von "Leben" und "glücklich sein" hat schon der preußische Staatsprotestantismus im Vorfeld deutscher Kriege stets zu warnen gewusst, und der hiesige Staatskatholizismus stand ihm darin spätestens ab 1900 in nichts nach.

Mit staatlicher Kriegstheologie versehene Trostgabe des deutschen Kaiserreiches für die Angehörigen der Toten, hier für die Familie des 1916 auf dem Schlacht-Feld von Verdun ums Leben gekommenen Soldaten Georg Thiel

Wer die geistigen Grundlagen der Pastorenpredigt für Opfersinn und wider die Sucht nach Glück präzise erkunden möchte, dem empfehle ich unbedingt das Buch eines befreundeten evangelischen Theologen: "Herbert Koch: Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt" (Düsseldorf 2009). Herbert selbst votiert freilich für einen Gott, der seine Sonne über "Gute und Böse" scheinen lässt, herausquellende Soldatendärme verabscheut und die Menschen - ähnlich wie einst die subversiven bürgerlichen Revolutionäre der USA - zum Glücklichsein anstiftet. Wo kämen wir hin, wenn womöglich so ein Pastor bei uns Bundespräsident würde?

Nun hat der Chor der regierungsfähigen Parteien dem amtierenden Bundespräsidenten Joachim Gauck schon einhellig Beifall gespendet für seine jüngsten Auslassungen. Bei den regierungsfähigen Oppositionsparteien fand man die Rede von einer "glücksüchtigen Gesellschaft" zwar nicht so hilfreich, aber ansonsten wurde dem Staatsoberhaupt bescheinigt, beim Thema "Krieg" wirklich einen wunden Punkt der Gesellschaft getroffen zu haben. (Also doch: mehr Hingabe, Ihr lieben Leute!) Den Menschen müsse man allerdings auch richtig erklären, warum oder wofür ihre Angehörigen in Auslandseinsätzen der Bundeswehr bisweilen ihr Leben zu opfern haben und dann gänzlich tot in die Heimat zurückkehren.

Da wartet auf die herrschende Politikerkaste aber eine echte Herausforderung, nicht nur bezogen auf den Kriegsschauplatz Afghanistan. Die Argumentationskunst müsste ja schon die Höhen der Alchemie erklimmen, die aus "Sch….." bekanntlich Gold machen kann. Vielleicht sollte man zuvor doch lieber erkunden, ob sich die christliche Kriegsopfertheologie vom wahren Glück und suchtfreien Leben nicht auch hierzulande noch einmal reanimieren lässt?

Hollywoods Kriegskino (Der Schatten des Kreuzes) hat wirklich sehr viele hochkarätige Produktionen aufzuweisen, die bei der emotionalen Unterstützung eines solchen Projektes große Dienste leisten können. (Auf Verstandeskräfte, die ja außerdem mit den subversiven Lebensglücksvorstellungen der US-Revolutionäre vom 4. Juli 1776 gefährlich eng zusammenhängen, setzt doch bei der Durchsetzung von Politik heutzutage kein Mensch mehr!) Sie halten diesen Vorschlag für völlig unrealistisch? Warten Sie ab, es kann alles viel schneller wieder so kommen wie in alten Zeiten, als man denkt. Der Anfang für eine zeitgemäße preußische Pastorenpredigt ist jedenfalls schon mal gemacht.

Kriegsgegner, die sich in ihrer hohen Moral sonnen und das "Feindbild Soldat" brauchen

Bevor ich weiter unten den Telepolis-Lesern einen schier unglaublichen Text-Fund zum Thema "Soldatenglück" präsentiere, möchte ich in meiner Polemik auch noch einige Antimilitaristen und Pazifisten bedenken, mit denen ich zum Teil über eine gemeinsame Mitgliedschaft in Friedensorganisationen verbunden bin. Die Fraktion jener Kriegsgegner, die sich in ihrer hohen Moralität sonnen wollen und deshalb das "Feindbild Soldat" in existentieller Weise brauchen, erweist sich nämlich noch immer als resistent gegenüber notwendigen Lernprozessen.

Kriege werden im Dienste machtvoller Interessenskomplexe von Parlamentariern und Regierungsmitgliedern in feinen Anzügen oder Kleidern geführt, nicht von befehlsempfangenden Soldaten. Wer seine Redemanuskripte auf Friedensveranstaltungen mit erregten und billig zu habenden Attacken auf Soldaten würzt, arbeitet für die Verschleierung dieser einfachen Wahrheit! Im moralistischen Kindergarten will man wissen, dass ja schließlich heute keiner mehr gezwungen wird, den Soldatenrock anzuziehen. Als Pazifist, der in aufgeklärten und linken Traditionen steht, weiß man hingegen um biographische, psychische und sozioökonomische Bedingungen der Militärrekrutierung.

Wer die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg der USA und deren Erfolge auch nur im Ansatz verstanden hat, wird die historische Erfahrung des Bündnisses von Friedensbewegten und Soldaten nie wieder verdrängen. Die Friedensbewegung sollte viel mehr Plakate von Soldatensärgen zeigen. Aber sie sollte gleichzeitig noch mehr paradoxe Bildbotschaften der Solidarität mit Soldaten und ihren Angehörigen ins Land schicken - Botschaften, die niemand von ihr erwartet und die doch gerade jene Einsicht vermitteln würden, die die Mächtigen der Politik fürchten: Die einzigen Anwälte, die Soldaten auf diesem Globus haben, sind die Gegner des Krieges, die zugleich ja auch die einzigen Anwälte der Opfer von Soldaten sind!

Die Bundestagsfraktion "Die Linke" war mit ihrem Antrag "Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz" vom Februar dieses Jahres durchaus nicht schlecht beraten!

Wer als Pazifist Krieg gegen Soldaten führt, ist dumm und macht sich obendrein zum Gehilfen des Kriegsapparates. Pazifisten müssen natürlich mit allen geeigneten Mitteln vor einer Beschäftigung bei Kriegsministerien und anderen kriegsdienstleistenden, todbringenden Sektoren warnen. Kein denkender Mensch kann beim vergleichenden Blick auf die realexistierenden Budgets für Militär und für sogenannte "Hilfe" auf die Idee kommen, dass Kriegseinsätze von einer Politik getragen sind, die menschliches Elend minimieren will. Kurt Tucholskys klare Benennung des Soldatenberufs aus der Weltbühne von 1931, die sich der Sache nach schon bei frühen Kirchenvätern findet, bleibt außerdem alternativlos.

Zu den Soldaten, die mich in der Vergangenheit aufgrund meiner immerwährenden Friedenstaube an der Kleidung angesprochen haben, gehört auch ein junger Afghanistan-Veteran mit abgründigen Erfahrungen. Er versuchte mir zu vermitteln, was es heißt, mit Schießbefehl in ein Gebäude einzudringen. Es ging alles so schnell, und mit den amtlichen Informationen konnte er das Vorgefundene nicht zusammenreimen. Er hatte bis dahin nicht gewusst, wie es ist, wenn man auf Menschen schießt. Es folgte … ein Vierteljahr in der Psychiatrie. Dieser Soldat hat in meinen Armen geweint. Warum erzählen die Pastoren, die auf Staatskosten mit in die Kriege ziehen, nicht Erfahrungen dieser Art als "Wort zum Sonntag"?

Ich kann es auch als Pazifist nicht anders sehen: Soldaten und Soldatinnen sind meine Menschengeschwister! Sie haben ein Recht, glückliche Menschen werden zu können. Und sie haben ein Anrecht darauf, dass Politiker mit hohem Gehalt und höchstem Schutz vor jeglicher Gefahr für Leib und Leben nicht über die sinnlose Hingabe IHRES Lebens predigen oder befinden.

"Aber dich haben sie schon genau so belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun"

Nun endlich will ich zu jenem Text kommen, der illustriert, wie man schon vor hundert Jahren deutsche Soldaten vera[eppelt] hat. Der an Zynismus wohl kaum zu überbietende Fund ist mir bei meinen regionalen Mundartforschungen unter die Augen gekommen. Sein Autor ist der münsterländische Katholik Karl Wagenfeld (1869-1939), der selbst nie auf einem Kriegsschauplatz als Soldat eingesetzt war.

Als Anhänger eines schon vor dem ersten Weltkrieg rassistisch infizierten "Stammesdenkens" und als Chefideologe des Westfälischen Heimatbundes baute er Brücken hin zur völkischen Bewegung, auf denen sich dann später auch ein nahtloses Zusammengehen mit dem Nationalsozialismus vollzog. Wagenfeld selbst wurde aufgrund seiner präfaschistischen Prägung bereitwillig Mitglied der NSDAP. Noch immer halten einige unbelehrbare Zeitgenossen ihn nur für den Vertreter eines ernsten "konservativen Katholizismus". Nach dem jüngsten Forschungsbeitrag, den der Historiker Karl Ditt über ihn vor kurzem im Sammelband "Fragwürdige Ehrungen!?" zur westfälischen Straßennamen-Debatte veröffentlicht hat, wird eine solche Einordnung wohl kaum noch möglich sein.

Während des Ersten Weltkrieges hat sich Karl Wagenfeld als plattdeutscher Kriegslaientheologe, Kriegspropagandist und Hasslyriker betätigt, was ich in einer neuen Studie zur westfälischen Kriegsdichtung 1914-1918 ausführlich darstelle. Alle "kompromittierenden Texte" dieses Komplexes hat man in der nach 1945 veranstalteten Wagenfeld-Werkausgabe gezielt ausgeklammert, so dass sie seit einem knappen Jahrhundert kaum rezipiert worden sind. Dazu gehören auch die plattdeutschen Feldbriefe an die Frontsoldaten: mit Rezepten gegen den Schützengrabenstumpfsinn, heiteren Aufmunterungen, forschen Draufschlag-Sprüchen, "deutschen Pfingstpredigten", Opferbelehrungen und kriegszielpolitischen Programmen.

Den unschlagbarsten "Trost" der ganzen Reihe enthält das sechste Sammelheft der Feldbriefreihe "An'n Herd" von 1917 auf den Seiten 54-63. Wagenfeld erzählt den Soldaten im Schützengraben von seiner Bahnrückreise nach einem erhebenden Aufenthalt an der Ostsee. Er hat Halt im "heiligen Köln" gemacht, dort mit einem wütenden Faustschlag ausgerufen, dass die Feinde den deutschen Rhein nicht bekommen, am Bahnhof Schwerstverwundete gesehen und schließlich eine "Ausstellung für Kriegsfürsorge, Kriegsbeschädigten-Fürsorge, Berufsausbildung und Umbildung" besucht.

Dort gibt es ein "Denkmal der christlichen Liebe" zu sehen, einen wahren Altar für den versehrten Menschenleib - als Kontrast zur "Kriegskirche des Teufels". Früher waren "Krüppel" ohne Arme oder Beine nur eine Last für ihre Mitwelt, doch die Kölner Ausstellung lehrt nun - auch den Dichter - eine revolutionär neue Sichtweise. Modernste Prothesen ermöglichen im Verein mit "Willenskraft und Übung" fast ein ganz normales Leben. Die futuristische Mensch-Maschine-Symbiose ist schon weit fortgeschritten zu diesem Zeitpunkt. Beim Lesen kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auch halbe Soldatenköpfe sind gar kein Problem mehr …

Den Blick auf die historische Realität der medizinischen und sozialen Staatssorge für die Veteranen von 1914-1918 müssen wir hier aussparen (im Internet findet man einiges dazu und ebenso Anschauungsmaterial zum Erscheinungsbild überlebender Kriegsopfer mit halben Köpfen oder abgetrennten Gliedmaßen). Ich dokumentiere nachfolgend den neuniederdeutschen Mundarttext von Wagenfeld durch eine möglichst wortgetreue hochdeutsche Übersetzung, deren Verbreitung ausdrücklich erwünscht ist. Ein weiterer Kommentar ist danach nicht nötig.

Textdokumentation zu Karl Wagenfeld: Hochdeutsche Übersetzung aus den plattdeutschen Feldbriefen an die Frontsoldaten (1917)

[…] Aber gestern habe ich in Köln etwas gesehen, das ist ein großes Stück Heiligtum. Keine Kirche, nein, ein großes Fabrikgebäude birgt das Heiligtum in sich. Denkt nicht, das Heiligtum wäre ein Heiligenbild oder ein Überbleibsel von einem großen oder kleinen Heiligen - nein, das Heiligtum ist die große, große Menschenliebe, wie es die Ausstellung für "Kriegsfürsorge, Kriegsbeschädigten-Fürsorge, Berufs-Ausbildung und Umbildung" laut und eindringlich predigt, Tag für Tag zu Tausenden von Menschen.

Ein altes Sprichwort sagt: "Wo unser Herrgott eine Kirche baut, da baut der Teufel eine Kapelle." Mit diesem großen Krieg baut der Teufel, so scheint mir, einen großen Dom zu seiner Ehre, ein Dom, in dem Hass und Tod auf dem Hochaltar sitzen. Und da baut unser Herrgott eine Kapelle, in der auf dem Altar die christliche Liebe ihren Platz hat. Und so eine Kapelle für die christliche Liebe ist die Kölner Ausstellung.

Wenn man an einem großen Bahnhof steht, und es kommt ein Zug vom Roten Kreuz mit Verwundeten, und die Krankenträger tragen auf ihren Tragen ein Häufchen Elend nach dem anderen heraus, dann tut einem das Herz im Leibe weh bei dem Gedanken: was wird aus all den armen Kerlen, die sich da für uns die Knochen kaputt schießen lassen? Und Ihr, die Ihr draußen all die abscheulichen Wunden seht, die der Krieg in Menschenleiber gerissen hat, Ihr denkt sicher oft: der bleibt sein Leben lang ein trauriger Krüppel, sich selbst und anderen zur Last. Ich sage ganz ehrlich, ich habe auch oft so gedacht, aber seitdem ich die Ausstellung in Köln gesehen habe, denke ich über eine ganze Masse Dinge doch anders.

Was war früher ein Mann, der beide Arme oder Beine verloren hatte? - Ein armes Tier, auf Gottes Barmherzigkeit und die der Menschen angewiesen. In der Ausstellung hingen alte Bilder aus dem Nationalen Hygienemuseum in Dresden, auf denen das ganze Elend von solchen armen Tieren dargestellt war, wie sie sich mit Müh und Not fortschleppten. Den einen oder anderen von solchen armen Teufeln haben wir ja selbst auch sonst schon gesehen. Und heute? Die Ausstellung zeigt, wie Menschenliebe und Menschenverstand diesen Leuten helfen will und kann. Dass ein Mann mit zwei künstlichen Beinen wieder gehen kann, sogar ohne Stock gehen kann, das habe ich schon gesehen; aber was ein Mensch machen kann, der beide Arme ab hat bis auf ein paar Stümpfe, was er machen kann mit zwei künstlichen Armen, dabei hat mir doch der Verstand still gestanden.

In der Ausstellung war so ein Mann - er war Amerikaner und hieß Smith - der führte allen Leuten vor, dass er mit seinen künstlichen Armen und Händen alles tun kann, was ein Mensch mit seinen Armen, die ihm unser Herrgott hat wachsen lassen, auch macht. Der Mann kämmte sich mit einem Kamm, schnürte sich die Schuhe auf und zu, aß mit Messer, Gabel und Löffel, goss sich aus einer Flasche etwas ins Glas und trank, steckte sich eine Zigarette an, schrieb mit Feder und Tinte, schnallte sich selbst die Arme ab und wieder an, zog sich den Rock an und - was noch längst nicht jedermann kann - rasierte sich den Bart ab - und das alles mit - merkt Euch das gut! - mit zwei künstlichen Armen! Dass dieser Mann das nicht sofort am ersten Tag konnte, als er seine Arme bekam, das ist ja wohl klar - als wir die erste Hose bekamen, als wir uns das erste Mal rasierten, da hat das auch ein kleines oder großes Malheur gegeben - aber man sah an diesem Mann doch, was Willenskraft und Übung erreichen können. Und ich meine, das ist was, was man einem jeden, der im Krieg einen kleinen oder großen Knacks wegbekommen hat, nicht laut genug zurufen kann: Wenn du im Krieg einen Arm oder ein Bein oder alle beide verlierst, lass den Kopf nicht zu tief hängen! Es ist ja schlimm, gewiss, aber mit Ausdauer, mit Willenskraft und Übung kannst Du etwas fertigbringen, was man bis jetzt gar nicht für menschenmöglich gehalten hat, Du kannst ein Mensch sein, der genau wie die Gesunden sich helfen und sein Brot verdienen kann. Denk nicht, du wärest nichts mehr wert! Kopf hoch! Wolle bloß - und Du kannst!

Willen - und Du kannst, das sah man an Kriegsbeschädigten, die in der Ausstellung an Maschinen mit einem Arm gerade so flink arbeiteten wie andere mit zweien; das sah man auch auf vielen Photographien, auf denen Leute mit künstlichen Armen und Beinen alles taten, was Leute mit gesunden Knochen können. Nicht bloß in Fabriken, nein, auch in der Landwirtschaft. Da gab es Sensen, Pflüge, Spaten, Mähmaschinen für Einarmige und "Beinbeschädigte", mit denen diese alles so machen können, als wenn sie gesund wären. Darum [soll], wer Malheur hat, nicht den Mut verlieren. Der Mensch kann alles, was er will - er muss bloß wollen. Aber nicht bloß die, welche die Arme oder Beine kaputt oder verloren haben, können wieder brauchbare Menschen werden; selbst die, die es am Kopf traf, dass man meinen sollte, sie wären geliefert, kann man wieder herstellen, so dass man still steht und sich wundert. Da gab es Photographien und Köpfe aus Wachs, auf denen sah man die scheußlichsten Verwundungen, die man sich denken kann; der halbe Kopf war oft weg, wenn die in die Hände der Ärzte kamen. Und wenn man dann daneben zum Vergleich die Bilder sah, wie die Doktoren sie wieder zurechtgemacht hatten! Man soll es nicht für möglich halten! Solange das größte Stück vom Kopf noch drauf sitzt, braucht kein Mensch die Hoffnung aufgeben.

Selbst die, die einen Schuss ins Gehirn, mitten in den Verstandeskasten bekommen hatten, so dass der Verstand in die Brüche gegangen war, so dass sie nicht mehr denken und sprechen, lesen, schreiben und rechnen konnten, sind von den Ärzten und geduldigen Trainern wieder auf die Reihe gebracht worden, so dass sie mit allem wieder fertig werden können. Selbst für die Blinden, die Ärmsten von allen Armen, haben Menschenliebe und Menschenklarheit allerlei ausgedacht, so dass sie arbeiten und sich als Menschen fühlen können, die der Welt noch zu etwas nütze sind - und das ist ein Gedanke, der über manche schwere Stunde hinweg hilft.

Und auch die, die der Krieg so getroffen hat, dass sie ihr altes Gewerbe nicht weiter treiben können, brauchen nicht verzweifeln. Dann heißt es eben: Umlernen! "Man wird so alt wie eine Kuh und muss doch immer lernen dazu!" So heißt es ja schon immer. Zum Lernen wird man sein Leben lang nicht zu alt. Es geht immer noch. Ich sage Euch, ich habe Arbeiten von Kriegsbeschädigten gesehen, die umgelernt hatten, Arbeiten, die ein Stolz für die ganze Ausstellung waren. Ich will nur einige Beispiele nennen: ein Schuhmacher, der den Pechdraht nicht mehr ziehen konnte, hat Bilder gemacht, die sich sehen lassen können; ein Gewerkschaftssekretär, der blind geworden war, war Blindenlehrer; ein Fußbodenverleger und ein Wagenmacher hatten sich im Zeichnen für ihr Gewerbe ausgebildet, ebenso ein Maurer und noch viele andere. Guter Wille, der bewirkt Wunder!

Und dann noch eine Sache! Die schönen Häuschen, die auf der Aufstellung standen! Sie sind für wenig Geld zu bauen, und Kriegsbeschädigte sollen an allen Ecken im deutschen Reich, jeder in seiner Heimat, Gelegenheit haben, sich für das Geld, das sie vom Staat kriegen, ein eigenes Haus auf eigenem Grund zu einem billigen Preis anschaffen zu können! Darum, wen der Krieg geschlagen hat, und alle, die er noch schlagen kann: Kopf hoch! Menschenliebe und Menschenwille wollen und können helfen! Gott gibt keine Wunde, ohne nicht auch die Salbe dafür zu geben.

Nun könnte ich Euch noch eine ganze Masse erzählen von dem, was ich auf der Ausstellung gesehen habe, aber der Brief wird zu lang. Bloß das will ich noch sagen, damit man auch einen kleinen Begriff davon bekommt, was für unsere Soldaten da draußen getan wird vom Staat, vom Roten Kreuz und von der "Liebestätigkeit" im Lande. Und mir scheint, es ist viel, was geschieht, und wenn es Euch da draußen hart und sauer wird, dann muss Euch der Gedanke daran, dass getan wird für Euch, was menschenmöglich ist, doch gut tun und Euch helfen, auszuhalten und standhaft zu bleiben bis zum Sieg.

Im Westen sank die Sonne als glühender Ball und malte den Himmel feurigrot, als der Zug mich wieder ins Münsterland brachte. Im Westen Kriegsglut und Blut, in der Heimat Ruhe und Frieden. In Westen und Osten Hass gegen Euch, Hass, der Euch umbringen will. In der Heimat Liebe, die Euch gutmachen will, was Ihr für uns tut. Gott helfe uns! Wir können es nicht alleine.

Guod befuohlen!
En hiärtlick Kumpelment
Jue Landsmann
KARL WAGENFELD

Quelle des plattdeutschen Originaltextes: An’n Herd VI.: Jans Baunenkamps Höllenfahrt, Therese Schulte Kloßfall u.a. = Plattdeutsche Feldbriefe von Karl Wagenfeld. Warendorf: J. Schnellsche Verlagsbuchhandlung (C. Leopold) [1917], Seite 56-63.