Auf Kriegsfuß mit den Lesern
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Die Leitmedien verlieren in der Russland-Berichterstattung den Kontakt zur Bevölkerung - und wundern sich nun darüber. Was steckt hinter dem seltsamen Bruch mit dem eigenen Publikum?
Zwei Machtblöcke prallen in der Ukraine derzeit aufeinander. Zugleich tobt in den deutschen Medien ein Kampf um die Deutung des Konflikts. Der Graben scheint dabei weniger zwischen einzelnen Zeitungen oder Sendern zu verlaufen, als vielmehr zwischen den Journalisten der Leitmedien insgesamt und ihren Lesern bzw. Zuschauern.
Bernd Ulrich, Stellvertretender Chefredakteur der Zeit, diagnostizierte diese Situation in der vergangenen Woche in einem längeren Kommentar:
Woran liegt es, dass so viele Bürger die Krimkrise ganz anders beurteilen als Politik und Medien? (…) Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann stehen zurzeit zwei Drittel der Bürger, Wähler, Leser gegen vier Fünftel der politischen Klasse, also gegen die Regierung, gegen die überwältigende Mehrheit des Parlaments und gegen die meisten Zeitungen und Sender. Aber was heißt stehen? Viele laufen geradezu Sturm, bei den Leserbriefen scheint der Anteil der Kritiker noch deutlich höher zu sein als seinerzeit anlässlich von Sarrazins Buch.
Der Vizechef der Zeit ist dabei nicht allein mit seiner Irritation angesichts des offenbar als überraschend wahrgenommenen Gegenwinds von Seiten der eigenen Leser. Auch die FAZ konstatierte kürzlich:
In den Kommentarspalten der Nachrichtenportale schlagen die Leser eine Schlacht um die Deutung der Krim-Krise (…) Auf den großen deutschen Nachrichtenseiten schreiben Leser - größtenteils unter Pseudonym - täglich Tausende Kommentare. Zumeist sind sie sehr kritisch. Aber noch nie war es so wild wie derzeit, berichten Mitarbeiter, die das sichten, was über die Kommentarfunktionen und auch über Facebook hereinschwappt. Sichten müssen.
"Woher kommt die Empörung?"
Keine Frage, die gegensätzlichen Lesermeinungen werden im Mainstream als Bedrohung wahrgenommen. Es geht um Deutungshoheit, aber auch um Identität: Für wen arbeitet man als Journalist? Wessen Zeitungen sind das, die da offenbar so sehr an ihren Lesern vorbeischreiben? Die betroffenen Kollegen versuchen sich an Erklärungen, die ein erstaunliches Maß an Hilflosigkeit offenbaren. So schreibt die FAZ:
Manch einer vermutet, dass zumindest ein Teil der Empörungswelle im deutschsprachigen Internet von Moskau organisiert sein könnte. Nachweisen lässt sich das nicht. Die IP-Adressen, von denen die Kommentare abgesandt wurden, stammen zum größten Teil aus Deutschland. (…) Woher kommt die Empörung? Vielleicht drückt sich in den Kommentaren tatsächlich ein Unmut gegenüber der Politik der Bundesregierung aus.
Andere werden deutlicher. Christian Neef etwa, langjähriger Russland-Experte des Spiegel, forderte in der vergangenen Woche in der Printausgabe des Magazins unter der Überschrift "Schluss mit der Romantik", dass die vermeintlichen Russland-Versteher in Deutschland endlich ihren verklärten Blick auf das Land korrigieren müssten:
Aber Russland ist nicht Europa. Es wird auch nie Europa sein. Es hat nach dem Krieg und den seelischen Zerstörungen der Stalin-Zeit keine Phase der Aufklärung durchgemacht. (…) Putin setzt auf Macht und begründet sie mit einer konservativen, antiwestlichen Ideologie. Er spricht davon, dass 'viele der euroatlantischen Länder moralische Prinzipien und alle traditionellen Identitäten verleugnen: nationale, kulturelle, religiöse und selbst sexuelle'. Man müsse 'eine Bewegung zurück und nach unten, in die chaotische Dunkelheit und zu primitiven Zuständen' verhindern. Russland müsse dabei vorangehen.
Neef sieht in Russland starke reaktionäre Tendenzen, die von einigen im Westen (gemeint sind wohl auch die zahlreichen kritischen Leserkommentare) ausgeblendet würden.
Doch was wäre, wenn sowohl Neef als auch Putin Recht hätten? Wenn also Russland tatsächlich eine Phase der Aufklärung fehlt, zugleich aber der Westen aktuell eine Art "Aufklärung rückwärts" vollzieht? Stichworte wie Guantánamo, Abu Ghraib oder auch den mutwilligen Bruch von Völkerrecht bei den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen, sowie schließlich die tausendfach tötenden Drohnen in Pakistan kann man ja tatsächlich kaum anders umschreiben, denn als "Rückfall in chaotische Dunkelheit und primitive Zustände".
Die vor diesem Hintergrund behauptete moralische Überlegenheit des Westens stößt vielen Lesern mehr und mehr übel auf - was eigentlich niemanden verwundern dürfte. Weshalb also reagieren die etablierten Kommentatoren nun so überrascht? Und was ist eigentlich deren Weltsicht? Die Schärfe des derzeitigen Konfliktes führt jedenfalls dazu, dass eben dieses persönliche Koordinatensystem nun immer deutlicher artikuliert wird. So schreibt Bernd Ulrich in der Zeit:
Seit 9/11 hat der Westen Kriege geführt, die unter höchstem moralischen Aufwand begründet wurden und die am Ende doch vergeblich waren (Afghanistan) oder sich als reiner Betrug herausstellten (Irak). (…) Mit seinem Drohnenkrieg bewegt sich auch Barack Obama wieder in einer völkerrechtlichen Grauzone. (…) Die militärischen Interventionen des Westens in dieser Zeit sind für mich keineswegs Ausdruck einer imperialen Grundstimmung, die sich von Afghanistan bis Libyen jeweils andere Schauplätze gesucht hat. Ich deute sie ganz verschieden, mal als ideologisch motivierten Irrtum (Irak), mal als Tragödie (Afghanistan), mal als legitim (Libyen).