Auf Tuchfühlung mit Baby Love

Ein Auszug aus dem Roman "Die 12 Leidensstationen nach Pasing

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Dann kam also der große Tag - Mitte Juli war es -, ich hatte die Schule eine Stunde früher verlassen und machte mich zuhause bereit für alles Kommende. Die Uhr zeigte 12:30 Uhr. Schon jetzt, zwei Stunden vor dem Date mit Bonny, überlegte ich fieberhaft, welche Kleidung ich für das Treffen anziehen solle. Um meinem Auftritt eine etwas melancholische, Fürst-der-Finsternis-mäßige Note zu geben, entschied ich mich dafür, ganz in Schwarz zu erscheinen, meiner Lieblingsfarbe: Also zog ich eine schwarze Jeans an, schwarze Roboterstiefel und ein schwarzes T-Shirt, mit all dem Brimborium an Armreifen, Silberringen und Nietenbändern, das ich aufbieten konnte. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, auch noch ein Sweatshirt überzuziehen, um meinem Körper ein weniger schlaksiges, dürres Aussehen zu verleihen, doch der Sommertag war so heiß, dass meine Haut unter dem Sweatshirt zu jucken begann, also beließ ich es bei einem T-Shirt. Dann trug ich besonders viel Kajal auf, hörte eine Weile "Everybody Wants To Rule The World" von Tears for Fears, steckte in einem Anfall von Übermut eines der Kondome ein, die ich tags zuvor gekauft hatte, und verließ die Wohnung.

Das Treffen war auf 14:30 Uhr anberaumt, und da ich immer noch viel zu früh dran war, entschied ich mich, noch kurz in den Stadtpark zu gehen, um Kräfte zu sammeln und ein paar Zeilen Platon zu lesen, wie vor einem Wettkampf, den man möglichst ruhig antreten muss. Also stieg ich an der Bushaltestelle Planeggerstraße aus, ging hinunter zur Würm, setzte mich unter die Eichen und versuchte, ein wenig den Gorgias durchzublättern. Nach einer halben Seite musste ich jedoch aufgeben: Meine Gedanken gingen in alle Himmelsrichtungen, mein Magen gab brummelnde Geräusche von sich, und ich zitterte fast vor Angst, heute eventuell meine Unschuld zu verlieren. Der stickige Eichengrund raubte einem jede Luft, und mir war fast übel beim Gedanken an die Feuerprobe, die mir in kurzer Zeit bevorstand. Ich gab es schließlich auf, weiter Platon zu studieren, steckte das Reclam-Heftchen wieder in meine Hosentasche und stapfte die Böschung hinauf, um den 34er erneut zu besteigen. Während der Busfahrt klopfte mein Herz so laut, dass ich Angst hatte, der Busfahrer würde sich umdrehen und mit einem Blick nach hinten raunzen: "Wos? Der junge Mann mit der Kreislaufschwäche? Hod er scho wieder a'n Drogenzusammenbruch? Braucht er scho wieder a Valium, weil er auf'm Affen is?"

Doch der Busfahrer fuhr zielstrebig und kommentarlos nach Pasing hinein, drehte seine Runde um den Block der Gleichmann- und Bäckerstraße, fuhr weiter zur Offenbachunterführung und durchquerte die Gegend, die als Kolonie I bekannt war. Als Treffpunkt hatte Bonny die Haltestelle Nymphenbad vorgeschlagen, direkt vorm Café Feichthofleite am Schlosskanal, nur einen Steinwurf entfernt von dem Haus, in dem Roderick wohnte. Der Bus zog zügig die Offenbachstraße und die Nusselstraße entlang, und ich sah nach draußen auf die wohlvertrauten Häuser und Gärten und dachte, dass es vielleicht das letzte Mal sein würde, dass ich das alles mit solcher Unschuld sah. Dann erkannte ich durchs Busfenster von weitem auch schon Bonny, wie sie dort auf dem Bürgersteig stand, unglaublich liebreizend und sexy. Und wie ich sie dort vorm Café Feichthofleite warten sah, fühlte ich mich plötzlich sehr leicht, und ich hatte nur noch Lust auf unser Treffen.

Der Busfahrer öffnete die Türe, ich trat hinaus auf die Straße, und von der Straße wehte mir einer der süßesten Gerüche meines Lebens entgegen, ein Geruch von italienischen Tramezzini, Flieder und Gras, in dieser bayerischen Prachtlandschaft unweit des Nymphenburger Parks, und ich dachte mir nur: Das ist der richtige Tag, um seine Unschuld zu verlieren. Einen besseren gibt es nicht.

Bonny stand auf dem Gehweg. Sie war ziemlich gewagt zurechtgemacht - fast wie ein Bonbon, das darauf wartete, ausgepackt zu werden -, mit einer korngelben Jeans, einem Seidentüchlein um den Hals, einem engen, blauen Seidenhemd, das extrem straff in ihre Jeans geschoben war, und Stöckelschuhen. Das Lächeln, mit dem sie ihre Zahnspange zeigte, war infam schön und ungeniert.

"Grüß dich!", sagte sie, lachte und winkte. "Hast gleich herg'funden? Ich hab schon Angst g'habt, dass du nicht kommst! Ich dacht' mir: Jetzt macht er vielleicht 'n Rückzieher, weil ich so direkt war."

"Nein, nein...!", sagte ich beschwichtigend. "Auf gar keinen Fall! Ich fand das totaaal cool, dass du da so mutig warst! Ich bin nur versehentlich fünf Minuten zu spät, weil ich vorher noch kurz im Stadtpark war. Ich hab selbst schon Angst gehabt, weil... weil ich dachte, dass du vielleicht gar nicht auftauchst..."

Was schwafelst du da, Unglückseliger! - schoss es mir durch den Kopf - Contenance! Bloß keine Schwäche zeigen! Du redest dich um Kopf und Kragen! Doch Bonny blieb relaxt, gnädig überhörte sie mein Gestammel.

"Hast' gut herg'funden mit'm Bus?", fragte sie und lachte.

"Klar...", sagte ich. "'N Freund von mir wohnt ja hier in der Nähe..."

Bonny stützte eine Hand in die Hüfte und fragte herausfordernd:

"Und, was mach mer jetzt?"

Verlegen kratzte ich mich am Kopf, blickte umher und sah auf das Café Feichthofleite, wo mehrere formschöne, verlockende Tischchen auf der Terrasse standen. Vor allem aber erspähte ich im Halbdunkel des Eiscafés ein Regal mit einer endlosen Reihe an italienischen Bittern, Likören, Vermouths und Süßweinen.

"Wir könnten 'nen Campari trinken!", sagte ich und nickte in Richtung Café.

"'A'n C-a-m-p-a-r-i trinken!'", lachte Bonny und zeigte völlig ungeniert ihre wunderschönen Zähne mit der sexy Zahnspange. "Die Kajal-Clique! 'Jetzt trink ma erst amal a'n Campari - um drei Uhr nachmittags -, und dann schau ma, wo die Party is!' Ihr macht's euerm Namen ja alle Ehre! 'An Campari trinken'...! Naaaaa, jetzt geh mer erst amal a bisserl spazieren!"

Bonny steckte ihre Hände in die hinteren Hosentaschen und gab mir mit dem Kopf einen resoluten Wink. Ich folgte ihr ein paar Meter in Richtung Würm und fragte:

"Woher... Woher weißt du denn das mit dem Namen Kajal-Clique?"

"Na, so hört ma's doch die ganze Zeit in Pasing. 'Die Kajal-Clique hat wieder des gemacht! Die Kajal-Clique hat wieder jenes auseinandergenommen!'"

Ungläubig wandte ich ein:

"Naja... Also... So ganz stimmt das nicht! Das ist 'n total ungerechtfertigter Ruf, der uns da angedichtet wird! Das sind irgendwelche Verleumdungen von böswilligen Geistern!"

"Ja-ja-ja", lachte Bonny hintergründig. "So ganz unschuldig werdet's ihr an euerm Ruf schon nicht sein! Des letzte Mal is sogar erzählt worden, dass wegen einem von euch die Polizei ang'rückt is!" "Ach so, wegen Deibel...", sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ja, aber das wird auch alles verzerrt dargestellt. Deibel ist einfach nur ein armer Teufel, der da Pech gehabt hat und..."

"Ja-ja", sagte Bonny mit Nachdruck, "aber solche Geschichten kursieren auch über Andere von euch: 'Der Thorwald is wieder ausg'rastet', heißt's... 'Der Meindorff hat wieder a'n Tobsuchtsanfall 'kriegt'..."

"Ach, Pipapo...", sagte ich, allerdings auch mit einem gewissen Stolz. "Pasing ist einfach 'n Dorf! Deswegen pfeifen die Spatzen hier jeden Quatsch von den Dächern. Aber um den e-c-h-t-e-n Wert von Menschen zu erkennen, muss man sich schon ein bisschen mehr auf sie einlassen..."

Um diese Aussage zu erhärten, griff ich nun zu einem - zugegebenermaßen - etwas billigen Trick: Ich zog wie beiläufig die Reclam-Ausgabe von Platon aus meiner Hosentasche, kratzte mich damit leicht hinterm Ohr und behielt das Buch in der Hand. Dann ließ ich es gekonnt wie ein Taschenspieler - gaaaanz nebenbei - durch meine Finger gleiten, vom Daumen bis zum kleinen Finger. Die Einlage hatte Erfolg.

"Was l-i-e-s-t 'n du da?", fragte Bonny.

"Ach, nichts...", sagte ich.

"Doch, zeig mal her!", insistierte sie.

Langsam und milde reichte ich ihr das dünne Büchlein. Bonny besah es sich gebannt.

"Hast du jeden Tag, wenn du nach Pasing gehst, a' Buch mit dabei?", fragte sie völlig entgeistert.

Ich zuckte verächtlich mit den Schultern. Bonny war baff. Sie blieb stehen und nickte mehrere Male beeindruckt in Richtung Würm. Dann wandte sie sich wieder an mich und sagte:

"Ich find des voll stark, dass du so viel liest..."

Ich hob dankbar meine Hände.

"Das ist supersüß, dass du das sagst", erklärte ich, "weil normalerweise werde ich nur verarscht deswegen. Roderick beispielsweise nennt mich immer nur 'den Belesenen', und Meindorff verspottet mich als 'Professor Frosch'! Das macht mich manchmal regelrecht krank!"

In Bonnys Gesicht spiegelte sich jetzt wilder Zorn auf Roderick und Meindorff. Das gefiel mir. Doch als nächstes tat sie etwas Sensationelles: Sie nahm meine Hand und hielt sie mit entschlossenem Griff fest:

"Du darfst dich nicht so stark von fremden Meinungen abhängig machen...", sagte sie. "Des Bücherlesen zeigt doch nur, dass du a'n Horizont hast, dass du dich für Sachen interessierst! Du musst einfach a bissel mehr an dich glauben! Du bist doch einer der auffälligsten Menschen hier in Pasing!"

Ich nickte wie im Rausch:

"Ja! Ja!", rief ich. "Das ist wunderschön, dass du sowas sagst! Es ist nämlich in der Tat total ungerecht, wenn man wegen seines Horizonts verarscht wird! Ich mein, ich schlag schon ab und zu mal über die Stränge, aber ich les halt auch gern Platon..."

Bonny ging wieder mit mir ein Stück die Würm entlang, lässig meine Hand schaukelnd. Plötzlich fragte sie:

"Und... was steht'n da drin - bei Platon?"

Ich hielt an und hob schulmeisterlich den Finger.

"Platon... - war ein griechischer Philosoph!", erklärte ich. "Der hat total interessante Sachen gesagt! Kennst du das nicht mit dem Höhlengleichnis?"

"Nein...", sagte Bonny vorsichtig, so als könne ihre Antwort mein Wohlwollen schmälern.

"Habt ihr das nicht in der Schule durchgenommen?", fragte ich. "In Ethik oder so?"

"Nein", sagte Bonny. "Aber erzähl halt einfach, was drinsteht!"

Ich blieb am Schlosskanal stehen und gestikulierte gemessen und ernst:

"Also, im Höhlengleichnis steht, dass alles, was wir um uns herum sehen, Gaukelei ist. Alle sichtbaren Bilder sind Reflexe der Projektionen einer fremden Macht. Wie Schatten von Schatten von Schatten von... irgendetwas, das nach Art eines Projektors auf 'ne Leinwand geworfen wird!"

"Also... dann so wie in a'm Autokino?", fragte Bonny lachend.

"Ja...", sagte ich strahlend, "...so wie in einem Autokino!"

Jetzt waren wir auf der Höhe der Floßmannstraße angekommen, und Bonny hielt an, griff den Zweig eines Nussstrauchs am Wegrand und zog ihn zu sich hin vor die Nase.

"Riech mal!", sagte sie und hielt mir den Zweig hin. "Wie des duftet! Und des daneben, des is Holunder. Mei' Mama interessiert sich sehr für Pflanzen, die weiß die alle beim Namen! Die is' auch selbst den ganzen Tag im Garten am Arbeiten..." Hier machte Bonny eine kurze Pause, dann sah sie mich an und fragte: "Weißt du eigentlich, wo ich wohn?"

"Ähem, so ungefähr!", sagte ich.

"Weil wir könnten eigentlich a bisserl zu mir gehen!"

Jetzt war ich völlig aus dem Konzept gebracht: Denn eigentlich hatte ich ja den Plan gehabt, Bonny nach zwei Aperitifs oder anderen Getränken zu fragen, ob sie mit zu mir kommen wolle. Doch dass sie jetzt den Weg zu sich nachhause einschlagen wollte, stellte den ganzen Plan auf den Kopf.

"Und... - deine Eltern?", fragte ich.

Bonny lachte hell auf, schwang sich in ihren Stöckelschuhen mit einem 360-Grad-Schwung herum und nahm mich wieder bei der Hand.

"Meine Eltern wissen eh, dass ich mich mit dir treff", sagte sie. "Ich hab ihnen des schon erzählt. Die sin' da ganz unkompliziert."

"Aber... sind die jetzt zuhause?", forschte ich nach.

"Ich glaub schon", sagte Bonny lächelnd. "Ich glaub, die sin' grad im Garten und grillen. Fändst 'as schlimm, wenn wir vorbeischauen?"

"Naja..."

"Ich hab ihnen sogar vorg'schwärmt von dir!", sagte Bonny und lachte. "Ich hab g'sagt: Da is a gaaanz a netter, junger Mann im Bus, den würd ich gern mal treffen. Des hamm's schon verstanden. Mei' Mutter is ja sowas wie a Freundin für mich."

"Ahaaa...", sagte ich, obwohl mir die Vorstellung, dass Bonnys Eltern hier völlig frei Einblick in mein Leben bekamen, überhaupt nicht behagte.

"Also... Geh mer zu mir?", fragte Bonny ermunternd.

"Ich weiß nicht... Ich möchte da nicht unangemeldet reinplatzen."

"Aber des is doch kei' Reinplatzen! Die denken sich eh, dass wir kommen. Wir schaun einfach kurz in' Garten, und dann mach ma was Anderes."

"Was Anderes?", fragte ich mit großem Interesse.

"Ja", lachte Bonny und nahm wieder meine Hand. "Was Anderes."

"Sauber", dachte ich mir und hüstelte.


Die Passage stammt aus dem Roman "Die 12 Leidensstationen nach Pasing" von Stefan Wimmer.
Erschienen im Heyne Verlag.

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