Auf dem Weg zum globalen Gehirn
Die digitale Revolution ist die letzte Stufe auf dem Weg zu einem Superorganismus
Peter Russell ist ein Vordenker der Cyberkultur. Als Multi-Wissenschaftler, der Mathematik und Physik studierte, dann zur experimentellen Psychologie überwechselte, eine Psychologie der Meditation schrieb und schließlich zur Computerwissenschaft gelangte, ist sein Horizont weit gespannt. Eine seiner Hauptthesen, die er bereits vor über 10 Jahren entwickelte, ist, daß die Menschheit über die enge Verbindung durch Computernetze in einem neuen evolutionären Sprung allmählich ein globales und kollektives Gehirn entwickelt, dessen Bestandteile die interagierenden und kommunizierenden Menschen darstellen. Seine faszinierende Vision stellt er in diesem Essay vor.
Um die Bedeutung der aktuellen Entwicklungen in der Kommunikation ganz zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit zurückgehen und uns die gesellschaftlichen Veränderungen ansehen, die in den letzten zweihundert Jahren geschehen sind. In dieser kurzen Zeitspanne hat sich das Handlungsfeld der Menschen erheblich verändert.
Vor dem 18. Jahrhundert war die Mehrzahl der Menschen (über 90 %) mit der Produktion von Lebensmitteln, beispielsweise mit dem Ackerbau oder dem Fischfang, und ihrer Verteilung beschäftigt. Dieser Prozentsatz blieb über Jahrhunderte hinweg stabil, wobei die jeweils absoluten Zahlen im selben Maß wie die Bevölkerung selbst wuchsen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung ungefähr alle 45 Jahre. Mit der industriellen Revolution führte der steigende Einsatz der Technik auf die Landwirtschaft zu einer Verlangsamung der Wachstumsrate von landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen und die Kurve begann, sich in der charakteristischen S-Form nach unten zu biegen.
Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in den entwickelteren Ländern eine stete Zunahme von Arbeitsplätzen in der Industrie und Manufaktur, also einen Trend zum Übergang von der Verarbeitung von Lebensmitteln zur Verarbeitung von Mineralien und Energie. Beschäftigungsstatistiken der USA. machen deutlich, daß die Zunahme industrieller Arbeitsstellen weitaus schneller als die der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft war. Sie verdoppelten sich alle 16 Jahre. Um 1900 waren bereits in jedem Sektor genau so viele Menschen (38 %) tätig. Hinsichtlich der Arbeit kann dieses Datum als der Beginn des industriellen Zeitalters in der USA gelten.
In den folgenden siebzig Jahren war die Industrie in den USA dominant. Während der letzten Jahrzehnte hat die Erfindung der Computer und der darauf folgende Anstieg der Informationsverarbeitungskapazitäten zu einer weiteren Veränderung geführt. Die Anwendung der Technik und die Automatisierung der Industrieproduktion ließen die industrielle Beschäftigung so langsam werden, daß sich eine erneute S-Kurve ergab. Zur selben Zeit stieg die Zahl der Menschen, die mit der Informationsverarbeitung zu tun haben - im Druckgewerbe, in Verlagen, in Banken, beim Fernsehen, beim Radio und in Telekommunikationsdiensten, aber auch in der Arbeit mit Computern und den zahlreichen damit verbundenen Tätigkeiten -, exponentiell an. Die Verdoppelungsrate beträgt vielleicht jetzt nur noch sechs Jahre. Mitte der siebziger Jahre hatten die in der USA im Bereich der Informationsverarbeitung Beschäftigten die Zahl derer eingeholt, die in der Industrie Energie und Materie verarbeiten. Von dieser Zeit an wurde Informationsverarbeitung zu unserer vorherrschenden Tätigkeit. Wir hatten das "Informationszeitalter" betreten.
Auch wenn diese Entwicklungen anhand der USA belegt wurden, können parallele Veränderungen in fast allen entwickelteren Ländern beobachtet werden. Auch die weniger entwickelten Ländern zeigen ähnliche Tendenzen, doch liegen sie hinter den entwickelteren in unterschiedlichen Größenordnungen zurück. Ziemlich sicher wird diese Kluft jedoch mit der Zeit geringer werden.
Auch wenn ein Entwicklungsland fünfzig Jahre hinter dem Westen hinsichtlich der beherrschenden Stellung der industriellen Produktion zurückliegt, kann es nur einen Abstand von zehn Jahre haben, wenn es den Übergang zur Informationsgesellschaft leistet. Japan ist ein Beispiel für ein Land, das trotz seines späten Starts mit dem Westen aufgeschlossen hat. Viele durch das Erdöl reich gewordenen Staaten wie Saudi-Arabien oder Kuwait machen schnelle Fortschritte. China hält sich vielleicht, obgleich es noch überwiegend von der Landwirtschaft geprägt ist, nur kurz im Industriezeitalter auf, bevor es eine Informationsgesellschaft wird. Möglicherweise werden andere Länder das Industriezeitalter gänzlich überspringen, zumindest was die Mehrzahl der Arbeitsplätze betrifft.
Verknüpfungen durch die Sprache
Wenn mehr und mehr Staaten der Erde in das Informationszeitalter eintreten, werden Kommunikationstechnologie und Informationsverarbeitung die menschliche Rasse dramatisch beeinflussen, da wir zunehmend in das heranwachsende Netzwerk elektronischer Synapsen integriert werden.
Wenn wir auf die menschliche Geschichte zurückblicken, können wir erkennen, daß dieser Trend zur fortschreitenden Verknüpfung schon seit Jahrtausenden zu geschehen scheint. Der plötzliche Durchbruch der Informationstechnik in der Gegenwart läßt sich als Frucht von Millionen Jahren menschlicher Arbeit betrachten.
Der erste größere Schritt zur wechselseitigen Verbindung geschah durch die Entwicklung der verbalen Sprache. Das führte zu einem tiefen und grundsätzlichen Wandel der Weise, wie wir Wissen über die Welt erwerben. Alle anderen Tiere, abgesehen möglicherweise von Walen und Delphinen, lernen primär aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Ein Hund lernt anhand dessen, was ihm in seinem Leben widerfährt, aber er zieht keinen wesentlichen Nutzen aus der Erfahrung von anderen Hunden auf der Welt. Mit dem Beginn der symbolischen Sprache konnten hingegen die Menschen ihre Erfahrungen mitteilen und dadurch nicht nur aus ihrem eigenen Leben lernen, sondern auch aus dem von anderen.
Das war ein großer evolutionärer Schritt, vielleicht genauso bedeutungsvoll wie der Beginn der sexuellen Reproduktion zwei Milliarden Jahre zuvor. Zwei Zellen konnten zusammenkommen und durch den Austausch genetischer Information ihre vererbten Datenbanken teilen: ein Durchbruch, der, wie wir gesehen haben, es ermöglichte, daß neue Arten tausend Mal schneller entstehen konnten. Auf ähnliche Weise können die Menschen über die Sprache ihre eigenen Erfahrungen und das, was sie gelernt haben, austauschen. Die Folge war ein vergleichbarer Schub in der Evolutionsrate.
Die Sprache ermöglichte es uns, von der biologischen Evolution zu der weitaus schnelleren geistigen Evolution überzugehen. Unsere Lernfähigkeit erweiterte nicht nur das Leben eines jeden einzelnen, sondern führte uns auch auf den völlig neuen Schauplatz einer Gruppenevolution. Wir wurden ein kollektives lernendes System, das einen kollektiven Wissenskorpus hervorbrachte, der die Erfahrung jedes einzelnen weit überstieg, aber zu dem jeder im Prinzip Zugang hatte. Mittels der Sprache vollzogen wir den Schritt von isolierten Organismen zu einem kollektiven Organismus, was man mit der Vereinigung von einzelnen Zellen zur Bildung der ersten Vielzeller vor einer Milliarde Jahre vergleichen kann.
Die Wachstumsrate dieses kollektiven lernenden Systems wurde von einer Reihe von Durchbrüchen in der Telekommunikationstechnik erheblich gefördert. Heute stellen wir uns die Informationstechnologie in Form von Computern und Telekommunikationsmittel vor, aber diese sind selbst das Ergebnis einer ganzen Reihe von Durchbrüchen in der Informationstechnik, die weit in den Beginn der Zivilisation zurückreichen.
Der erste Durchbruch war die Erfindung der Schrift vor ungefähr 10000 Jahren. Vor der Schrift wurde das Wissen vorwiegend durch gesprochene Worte weitergegeben. Das ist ein Vorgang, der Entstellungen, Auslassungen und Mißverständnisse nicht verhindern kann. Die Schrift ermöglichte es, unsere persönlichen und kulturellen Geschichten in einer verläßlicheren Form zu erinnern und sie künftigen Generationen zu überliefern. Der technische Durchbruch der Papierherstellung ließ Aufzeichnungen viel leichter transportieren. Wir konnten unser Wissen mit Menschen in entfernten Ländern teilen und menschliche Gemeinschaften miteinander verbinden.
Die Erfindung der Druckpresse im 15. Jahrhundert vergrößerte die Fähigkeit der Menschheit, geschriebene Information zu verbreiten. Es mußte nicht mehr jede Kopie eines Dokuments von Hand reproduziert werden, was ein ein langsamer und fehleranfälliger Vorgang war, sondern jetzt konnten Tausende von Kopien vom selben Original mechanisch und virtuell gleichzeitig hergestellt werden. In den ersten 50 Jahren nach der Erfindung des Drucks wurden um die 80 Millionen Bücher produziert. Die Philosophien der Griechen und Römer verbreiteten sich, die Bibel wurde vielen zugänglich und durch verschiedenartige Anleitungsbücher ließ sich das Wissen vieler Künste erwerben, was den Weg zur Renaissance bahnte.
Der nächste große Durchbruch ereignete sich im 19. Jahrhundert mit der Erfindung der elektrischen Kommunikation in Form des Telegraphen und später des Telefons. Die Zeit, die man benötigte, um eine Botschaft um die Erde zu senden, verringerte sich von Tagen oder Wochen auf Minuten und später Sekundenbruchteile.
Fünfzig Jahre später fand der nächste Durchbruch mit dem Gebrauch von Radiowellen als Übertragungsmedium statt. Die Menschen mußten nicht mehr materiell durch Kabel verbunden sein und konnten gleichzeitig eine Botschaft an eine große Masse von Menschen schicken, also Information breit verteilen (broadcast). Seitdem expandierten das Radio und sein Nachfolger, das Fernsehen, das es uns buchstäblich ermöglichte, "in die Ferne zu sehen", schnell und ermöglichten es den einzelnen, Zeuge von Ereignissen in der ganzen Welt zu sein.
Zur selben Zeit, als Radio und Fernsehen sich auf der Erde verbreiteten, geschah eine ebenso wichtige Entwicklung in der Informationstechnik: die Erfindung des elektronischen Computers.
Die digitale Revolution
Der erste Computer wurde während des Zweiten Weltkriegs gebaut, um den Geheimdiensten bei der schwierigen Aufgabe zu helfen, komplizierte Codes zu knacken. Gleichzeitig entstand ein wachsendes Bedürfnis, komplexe Berechnungen für technische Entwürfe viel schneller durchzuführen, als dies mit Papier, Bleistift und Rechenmaschine möglich war. Für diese Aufgaben entwarfen Techniker elektronische Rechner, die oft die Größe eines Raums besaßen, was in den 50er Jahren zur Entstehung der ersten elektrischen Computer führte.
Obgleich sie im Vergleich mit den heutigen Standards schwerfällig und langsam waren, stellten diese Maschinen gleichwohl einen riesigen Sprung hinsichtlich der Informationsverarbeitungskapazitäten dar. Während der 60er und 70er Jahre gab es dramatische Erfolge in der Kapazität und Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. Gleichzeitig verkleinerte sich die Größe der Computer erheblich. Der Mikroprozessor oder "Chip", wie er gemeinhin genannt wird, war eine große Revolution in der Computertechnologie. Ein durchschnittlicher Chip war kleiner als einen Zentimeter in der Länge und verfügte über eine größere Rechenkapazität als alle Computer im Jahre 1950 zusammen. Diese Kapazität hat sich jedes Jahr verdoppelt. Über die vielen Vorteile seiner winzigen Größe hinaus ist der Energieverbrauch des Chips erstaunlich gering. Ein durchschnittlicher Computer aus dem Jahre 1970 benötigte mehr Energie als 5000 Taschenrechner mit derselben Rechenkapazität, wie es sie nur zehn Jahre später gab. Das Verhältnis Information/Energie ist stetig gewachsen und schießt jetzt steil in die Höhe. Wir können mehr und mehr mit immer weniger machen.
Zur selben Zeit fielen die Kosten für Informationsverarbeitung dramatisch ab. Die Rechenkapazität wird oft in Millionen Instruktionen pro Sekunde (MIPS) gemessen. Der erste Computer mit Transistoren aus dem Jahre 1950, z.B. der IBM 7090, leistete ungefähr 1 MIPS und kostete eine Million Dollar. Als die ersten Computer mit integrierten Schaltkreisen der späten 60er Jahre, wie der PDP 10 von DEC, 10 MIPS erreichte, war der Preis auf 100000 Dollar gefallen. Der Apple II, der die Computerrevolution der Mitte der 70er Jahre einleitete, senkte die Kosten pro MIPS auf unter 10000 Dollar. 1990 kostete der durchschnittliche Computer ungefähr 1000 Dollar pro MIPS, während Supercomputer wie der Cray 3, der mit 100000 MIPS arbeitet, ungefähr 10 Millionen kostete, was einem Preis von 100 Dollar pro MIPS entspricht. 1994 zahlte man auch für den PC der Preis von 100 Dollar für ein MIPS. In Zukunft werden die Preise weiter absinken. Im Jahr 2000 wird man wahrscheinlich die einem IBM 7090 äquivalente Rechenkapazität für 10 Dollar oder weniger kaufen können.
Während die Computer der 70er Jahre fast ausschließlich von großen Organisationen wie Regierungen und Unternehmen gebraucht wurden, ermöglichte der Mikroprozessor - ein Mikrochip, der selbst ein Computer ist - potentiell allen Menschen auf der Erde, ohne diese der lebensnotwendigen Energien zu berauben, die Verwendung der Computertechnik und der Informationsverarbeitung. Wenn es vergleichbare Veränderungen während der letzten zwanzig Jahre hinsichtlich des Autos gegeben hätte, würde ein Rolls Royce heute fünfzig Cents kosten. Er würde kleiner als zwei Zentimeter sein, einen Benzinverbrauch von Millionen Kilometer pro Liter haben, mit hunderttausend Stundenkilometern durch die Gegend sausen und niemals repariert werden müssen! Solche kleinen Superwagen würden ebenso verbreitet wie unbemerkbar sein. Anfang der 90er Jahre gab es mehr als 100 Millionen PCs in der Welt, und sie rollten in einer Größenordnung von 100000 Stück pro Tag vom Fließband.
Das Netz
Eine weiterer entscheidender Fortschritt ergab sich aus der direkten Verbindung von Computern. Die ersten Computer waren unabhängige Maschinen, die nur mit ihren menschlichen Benutzern interagierten (zu dieser Zeit gab es noch keine Betriebssysteme). Ende der 60er Jahre aber konnten Computer bereits direkt miteinander kommunizieren. 1969 begann die amerikanische Advanced Research Projects Agency (ARPA) mit dem Experiment, Computer über große Entfernungen miteinander zu verbinden, so daß sie Datensätze austauschen und auf anderen Programme laufen lassen konnten. Das Netzwerk wuchs zuerst langsam, aber dann immer schneller. Während der nächsten zehn Jahre wurde durchschnittlich alle 20 Tage ein neuer Computer an das ARPA-Netz angeschlossen.
Mitte der 70er Jahre entstanden neue Netzwerke und verbanden sich mit dem ARPA-Netz. Das neue Netzwerk aus Netzwerken wurde als "Internetwork" und bald als "Internet" bekannt. Das Netz, wie es manchmal auch genannt wird, vergrößerte sich schnell, da sich von überall auf der Erde viele Host-Computer mit ihm verbanden. 1994 war das Internet zu einem riesigen Web von Netzwerken mit mehr als zwei Millionen Host-Computern und geschätzten 40 Millionen Benutzern herangewachsen. Seine Größe verdoppelte sich jedes Jahr.
Ähnlich explodierten die Bulletin Boards, die "Orte" auf dem Netz, bei denen Menschen auf Daten über besondere Themen zugreifen, miteinander diskutieren und andere Gleichgesinnte treffen konnten. 1987 gab es 6000 Bulletin Boards oder BBSs. 1994 waren es bereits 60000, und ihre Anzahl verdoppelte sich alle 18 Monate.
Während derselben Zeitspanne wuchsen auch kommerzielle Provider wie Compuserve, America Online oder Prodigy schnell und brachten Tausende von Datenbanken, Einkaufsmöglichkeiten für Computer, Zeitungen, Magazine, Ausbildungskurse, Flugverbindungen und Email direkt in die Häuser von vielen Millionen Menschen.
Solche erstaunlichen Wachstumsraten können nicht lange anhalten. Wenn sich das Internet weiterhin jedes Jahr verdoppelt, dann würde es 1999 mehr als eine Milliarde Menschen erreichen, was mehr als die vermutliche Zahl der Menschen ist, die sich den Luxus eines PCs und eines Internetzugangs leisten könnten. Die Wachtstumskurve wird sich bereits zuvor in eine S-Kurve verwandeln. Das weitere Wachstum des Netzes wird dann nicht mehr aus der Zahl der Anschlüsse resultieren, sondern aus der Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit der Verbindungen.
Wenn das globale Netz weiter wächst und sich entwickelt, wird es sich zweifellos in vielen Aspekten verändern. Während ich dies schreibe, wird viel über die verschiedenen Gefahren und Herausforderungen gesprochen, mit denen das Internet konfrontiert ist. Es wird immer mehr verstopft, der Adressenraum geht aus, Multimedia nehmen seine Ressourcen über Gebühr in Anspruch. Noch immer ist es weit von der Benutzerfreundlichkeit entfernt. Es gibt ernsthafte Sorgen hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre und des Datenschutzes, und es wird unweigerlich immer kommerzialisierter werden. Aber ein System, das sich in einer Krise befindet, ist nicht notwendigerweise ein absterbendes System. Krisen können wichtige evolutionäre Schübe darstellen, die das System in neue Organisationsstruktuen stoßen und die neue Formen und Prozesse emergieren lassen.
Das Internet hat bereits bewiesen, daß es zu einer weit komplexeren und andersartigen Struktur evolvieren konnte, als sich seine Erfinder das vorgestellt haben. Und da es niemand mehr abschaffen kann, wird es sich weiter entwickeln. Neue Technologien, neue Kommunikationsprotokolle, neue Software und andere Entwicklungen werden es uns schwer machen, uns heute das Netz vorzustellen, wie es in zehn Jahren sein wird, genauso wie wir vor zwanzig Jahren uns nicht vorstellen konnten, daß Laptop-Computer über die Erde hinweg miteinander kommunizieren.
Verschmelzende Technologien
Im Kern dieser Ausbreitung von Netzen und Diensten steht die Integration der Computertechnik und der Telekommunikation. Das globale Telefonnetz aus Kabeln, Glasfaser- und Funkverbindungen hat die Infrastruktur für eine neue Revolution geschaffen. Ein Telefonanschluß irgendwo auf der Welt - in Schweden, Mexiko, China oder der Antarktis - ist nicht mehr nur eine Stelle für ein Gerät, um "fernzuhören", er ist jetzt ein Knoten des Netzwerkes und kann genauso einfach als Anschluß für ein Telex, eine Faxmaschine, einen Pager, einen Terminal, einen Computer, ein Computernetz oder eine Kombination aus alledem dienen. Zusätzlich mit der Möglichkeit, Videobilder ebenso leicht zu senden wie Text, erhält man die Grundlagen der bislang größten Medienrevolution: die Synthese von Fernsehen, Computer und Telefon.
In den nächsten Jahren werden nicht so sehr MIPS als Bandbreite wichtig sein, also wie schnell Daten im Netz übertragen werden können. Ein optisches Glasfaserkabel kann 25 Gigahertz übertragen, was ungefähr die Informationsmenge ist, die durch das Telefonnetz der USA während der Höchstauslastung am Muttertag fließt. Das sind tausend Mal mehr Information als alle Radiofrequenzen zusammen. Und all das auf einer Glasfaser, die so dick ist wie ein menschliches Haar.
Genauso wie der Preis für MIPS während der letzten Jahrzehnte dramatisch abgefallen ist, wird dies auch mit dem Preis für Bandbreite geschehen. George Gilder, Autor von "Life after Television and Telecosm", hat ausfegührt, daß bei jeder großen Revolution die Kosten einer Ware merklich gesunken sind und sie manchmal virtuell kostenlos wurde. Mit der industriellen Revolution wurde die physische Kraft, verglichen mit ihren Kosten, als sie noch von Tieren oder Menschen abstammte, virtuell kostenlos. Plötzlich konnte eine Fabrik 24 Stunden am Tag in Betrieb sein und Produkte in bislang unvorstellbarer Geschwindigkeit herstellen. Physische Kraft wurde so billig, daß man nicht mehr sparsam mit ihr umgehen mußte, sondern man es sich leisten konnte, sie mit Rolltreppen, elektrischen Zahnbürsten und Maschinen, mit denen man Blätter zusammenblasen kann, zu "verschwenden". Wir müssen nicht mehr mit der Verwendung von Transistoren sparsam umgehen, sondern können sie "verschwenderisch" benutzen, um unsere Aussprache zu verbessern, Solitaire zu spielen oder verrückte Hintergründe auf unserem Computerbildschirm zu gestalten. Wenn die Revolution der Telekommunikation zu greifen beginnt, werden wir einen ähnlichen Preissturz bei der Bandbreite sehen. Wir werden Information so auf dem Netz verbreiten können, wie wir das jetzt mit dem Radio und dem Fernsehen durch die Luft können.
Solche Entwicklungen scheinen uns immer schneller dahin zu bringen, was William Gibson in seinem Buch "Neuromancer" den Cyberspace nannte: "A graphic representation of data abstracted from the banks of every computer in the human system. Unthinable complexity. Lines of light ranged in the non-space of the mind, clusters and constellations of data."
In Gibsons Welt betreten Menschen den Cyberspace, indem sie computergenerierte VR-Szenarien direkt in ihre Gehirne einspeisen. Science Fiction? Ja, aber das war vor fünfzig Jahren auch ein Flug auf den Mond.
Das sich entwickelnde globale Gehirn
Die Vernetzung der Menschheit, die mit der Entstehung der Sprache begann, ist nun bis zu dem Punkt fortgeschritten, an dem Information mit Lichtgeschwindigkeit an jeden und überallhin gesendet werden kann. Milliarden von Botschaften in einem immer weiter wachsenden Kommnikationsnetz schwirren hin und her und vernetzen den Geist von Milliarden von Menschen zu einem einzigen System. Läßt sich Gaia selbst ein Nervensystem wachsen?
Die Parallelen sind einer Überlegung wert. Wir haben bereits festgestellt, daß es ungefähr dieselbe Anzahl von Nervenzellen in einem menschlichen Gehirn wie Menschen auf der Erde gibt. Es gibt auch interessante Ähnlichkeiten zwischen der Weise, wie das menschliche Gehirn wächst, und jener, wie die Menschheit sich entwickelt.
Das embryonale menschliche Gehirn durchläuft zwei große Entwicklungsphasen. Die erste ist eine riesige Explosion der Nervenzellen. Acht Wochen nach der Empfängnis beginnend, explodiert die Anzahl der Neuronen und wächst jede Stunde um Millionen an. Nach fünf Wochen verlangsamt sich jedoch diese Dynamik fast so schnell, wie sie begann. Die erste Stufe der Gehirnentwicklung, das Wachstum der Zellen, ist nun abgeschlossen. An diesem Zeitpunkt besitzt der Fötus bereits die meisten Nervenzellen, die er für den Rest seines Lebens haben wird.
Das Gehirn leitet die zweite Phase seiner Entwicklung ein, wenn Milliarden isolierter Zellen sich untereinander zu verbinden beginnen, wobei manchmal Fasern wachsen, die sich mit Zellen auf der anderen Seite des Gehirns verbinden. Bei der Geburt kann eine typische Nervenzelle direkt mit einigen Tausend anderen Zellen kommunizieren. Das Gehirnwachstum nach der Geburt besteht aus der Erweiterung der Verbindungen. Bei einem Erwachsenen haben manche Nervenzellen direkte Verbindungen mit einer Viertelmillion anderer Zellen.
Ähnliche Trends kann man in der menschlichen Gesellschaft beobachten. Während der letzten Jahrhunderte wuchs die Zahl der "Zellen" im embryonalen globalen Gehirn. Heute jedoch verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum und gehen wir gleichzeitig in die nächste Phase über, in der der Geist von Milliarden von Menschen in einem einzigen integrierten Netzwerk zusammenwächst. Je komplexer unsere Telekommunikationskapazitäten werden, desto mehr gleicht die menschliche Gesellschaft einem planetaren Nervensystem. Das globale Gehirn beginnt zu arbeiten.
Das planetare Erwachen
Dieses Erwachen ist nicht nur für uns offensichtlich. Es kann Millionen von Kilometern entfernt aus dem Weltraum festgestellt werden. Wenn jemand vor 1900 neugierig genug gewesen wäre, ein planetares EEG abzunehmen, also die elektromagnetische Aktivität der Erde zu messen, dann hätte er nur zufällige, natürlich entstehende Aktivität wie jene, die durch die Erzeugung von Licht erzeugt wird, beobachtet. Heute aber wimmelt es um die Erde herum von Millionen unterschiedlicher Signale, von denen manche zu einer großen Zahl von Menschen ausgestrahlt, manche durch persönliche Kommunikation hervorgerufen und andere durch das Schnattern von Computern erzeugt werden, die Informationen austauschen. Als sich die gebräuchlichen Radiofrequenzen auffüllten, entdeckten wir neue Möglichkeiten, Informationen über sie zu senden, und wurden neue Energieformen wie das Licht benutzt, die das Potential besitzen, unsere Kommunikationskapazitäten weiterhin zu vergrößern.
Mit der nahezu gleichzeitigen Vernetzung der Menschheit durch die Kommunikationstechnologie und der schnellen und günstigen Verbreitung von Informationen, wird Marshall McLuhans Vision der Welt als ein globales Dorf schnell Wirklichkeit. Aus einer einsamen Hütte in einem englischen Wald kann ich eine Nummer auf den Fidschi-Inseln anwählen, wobei meine Stimme dieselbe Zeit benötigt, um durch die Telefonverbindung nach Fidschi zu gelangen, wie mein Gehirn sie benötigt, um meinem Finger zu sagen, daß er die Taste zum Wählen drückt. Was die Kommunikationszeit betrifft, ist die Erde so klein geworden, daß die anderen Zellen des globalen Gehirns nicht weiter von unserem Gehirn entfernt sind wie die Glieder unseres Körpers.
Zur gleichen Zeit wachsen Geschwindigkeit und Komplexität der globalen Interaktion. 1994 waren an das weltweite Telekommunikationsnetz eine Milliarde Telefone angeschlossen. So kompliziert dieses Netz auch erscheinen mag, ist es jedoch nur ein Bruchteil der Kommunikationsterminals im Gehirn, der Billionen von Synapsen, über die Nervenzellen miteinander interagieren. Nach John McNulty, einem britischen Computerberater, war das Telekommunikationsnetz des Jahres 1975 nicht komplexer als ein Gehirnareal von der Größe einer Erbse. Aber die Datenverarbeitungskapazität verdoppelt sich alle zweieinhalb Jahre und das globale Telekommunikationsnetz könnte, wenn diese Wachstumsrate beibehalten wird, dem Gehirn an Komplexität im Jahr 2000 gleichkommen. Auch wenn dies eine unglaubliche schnelle Entwicklung zu sein scheint, so wahrscheinlich nur deswegen, weil sich kaum jemand vorstellen kann, wie schnell sich manches verändern kann.
Die daraus entstehenden Veränderungen werden so groß sein, daß alle ihre Auswirkungen vielleicht jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Wir werden uns nicht mehr als isolierte Individuen wahrnehmen, sondern wissen, daß wir ein Teil eines schnell zusammenwachsenden Netzes sind, die Nervenzellen eines erwachenden globalen Gehirns.
Auf Peter Russells Homepage finden sich weitere Texte und Informationen.
Der Essay "Towards a Global Brain" ist mit freundlicher Genehmigung des Autors seinem neuesten Buch "The Global Brain Wakens" (Global Brain Inc, Palo Alto, CA) entnommen.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer