Aufstieg Eurasien, Ende der US-Dominanz im Bildungsbereich
Das akademische Bildungssystem in Deutschland gewinnt an Umfang und Internationalität. Die zukünftigen außenpolitischen Eliten werden in sich heterogener und eurasischer geprägt sein
Mit der Veränderung des deutschen Bildungssystems wandelt sich auch die Prägung der zukünftigen außenpolitischen Eliten. Die seit Ende der 1990er Jahre erfolgte deutliche Expansion bei Zunahme Internationalität beendet die Dominanz der USA im akademischen Bildungsbereich. Zukünftige Eliten sind stärker eurasisch ausgerichtet. Damit geht auch die einseitige Orientierung auf die USA zurück.
Ziele, Strategien sowie die Wahl der Mittel staatlicher Außenpolitik basieren wesentlich auf den Werten und Denkmodellen der nationalen Eliten. Zentral für die Herausbildung sind dabei die Prägungen durch das akademische Bildungssystem. Fundamentale Verschiebungen in diesem zeigen entsprechend langfristige Veränderungen der Außenpolitik an. Derzeit unterliegt das Bildungssystem Deutschlands zwei zentralen Veränderungen - Eine deutliche Ausweitung der akademischen Bildung geht mit einer zunehmenden Internationalisierung einher.
Expansion der Hochschulen seit 1960
Die Anzahl der deutschen Studierenden hat sich seit den 1960er Jahren mehr als verzehnfacht. Dabei wechselten sich Phasen hoher Dynamik mit Zeiten der Stabilisierung ab. So erfolgte, nach einem kontinuierlichen Anstieg in den 1960er Jahren, von 1970-1985 einer Vervierfachung der Studierenden auf circa 1,2 Millionen. Bis zur Jahrtausendwende stabilisierte sich die Anzahl in Westdeutschland. Der deutschlandweite Anstieg in den 1990er Jahren ist auf Gründungen und den Ausbau höherer Bildungseinrichtungen in den neuen Bundesländern zurückzuführen.
Ab Ende der 1990er Jahre setzt eine neue Dynamik ein. Die gezielte Ausweitung des Bildungssystems führt bis 2013 zu einer Erhöhung um über 600.000 Studenten. Wird die ebenfalls gestiegene Anzahl von ausländischen Studenten mit eingerechnet, war die absolute Zunahme größer als in den 1970er Jahren.
Der dynamische Aufbau in den letzten Dekaden beruhte vor allem auf dem Ausbau der Fachhochschulen und Berufsakademien. Diese entwickelten sich von Nischenanbietern zu einer tragenden Säule des höheren Bildungssystems. Ihre zunehmende rechtliche Gleichstellung mit den Universitäten ist da nur folgerichtig. Auch darf die zunehmende Bedeutung der privaten Träger nicht übergangen werden, an denen 2012 sechs Prozent aller Studenten ihr Studium absolvierten. Das entsprach 2013 circa 140.000 eingeschriebenen Studenten.
Gegenwärtig gelangt die Dynamik der letzten Jahre an finanzielle und organisatorische Grenzen. Besonders in Ostdeutschland stabilisieren die Bundesländer angesichts sinkender Haushalte, das "erfolgreichste Instrument zur Dämpfung des demografischen Wandels" (Peer Pasternack) kaum. Deutliche Zeichen der problematischen Lage sind u.a. die Schließung ganzer Lehrbereich und die prekäre Lage des Personals.
Zunahme der Studienanfänger
Grundlage dieser Dynamik war eine deutliche Erhöhung der Studienanfänger. Inzwischen beginnen, werden nicht in Deutschland geborene Studenten mitgezählt, über 55 Prozent eines Jahrganges ein Studium. Eine Ausbildung auf Hochschulniveau setzt sich damit als Qualifikationsstandard durch. Zumal sich die klassischen Weiterbildungen für Berufe - insbesondere die Fachwirte der IHK sowie die geprüften Lehrgänge zum Wirtschaftsfachwirt, Bilanzbuchhalter und Steuerberater - zunehmend am Bachelor orientieren und entsprechend das Anforderungsniveau deutlich steigt.
Bildungsinländer - Bildungsausländer
Parallel zu den deutschen Studenten vervierfachte sich auch die Anzahl der Studenten anderer Nationalitäten - von circa 75.000 Mitte der 1980er Jahre auf ungefähr 280.000 im Jahr 2013. Dabei erhöhte sich ihr Anteil von sechs Prozent aller Studenten auf 10-12 Prozent. Die Umstellung auf das Bachelor/Master-System ab Mitte der 2000er Jahre beförderte wesentlich die Internationalisierung des höheren Bildungssystems.
Besonders deutlich stieg der Anteil ausländischer Studienanfänger. Nach neuesten Schätzungen überschritt ihre Anzahl im Studienjahr 2013 erstmals die Schwelle von 100.000. Nicht-deutsche Staatsbürger stellten damit ca. 20 Prozent aller Studienanfänger. Diese Zahlen sind allerdings kritisch zu sehen. Ausländer, die parallel zu ihrem "richtigen" Studium nur einige Semester absolvieren, werden meist ins erste Fachsemester eingestuft - unabhängig vom Stand ihrer Qualifikation.
Die Statistik in Deutschland unterscheidet bei Studenten ohne deutsche Staatsbürgerschaft zwischen "Bildungsinländern" und "Bildungsausländern". Absolventen von deutschen Schulen im In- oder Ausland (z.B.: Goethe-Institut) gelten als Bildungsinländer. Alle Personen mit anderen Abschlüssen entsprechend als Bildungsausländer. Letztere stellen ungefähr 2/3 aller Studenten anderer Nationalität. Einen genaueren statistischen Überblick bietet "Wissenschaft weltoffen" - eine Kooperation des DAAD und dem Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.
Bei den Bildungsinländern dominieren die klassischen Herkunftsländer deutscher Migranten - Türkei, Polen, Italien… Hingegen liegen bei den Bildungsausländern inzwischen (euro-) asiatische Großstaaten (China, Indien und Russland) auf den vorderen Plätzen. Aus diesen kamen noch in den 1990er Jahre jeweils deutlich weniger als 5.000 Studierende pro Jahr. Damals lagen sie ungefähr gleichauf mit den USA. Da sich die Anzahl US-amerikanischer Studierender aber in den letzten zwei Dekaden nur leicht erhöhte, liegen diese inzwischen weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.
Europa und Asien dominieren
Durch die Fokussierung auf das Kriterium der Staatsbürgerschaft unterzeichnen die oben zitierten Statistiken den Anteil der der Studenten mit Migrantionshintergrund. Einen genauen Überblick darüber bietet die Studie des Instituts für Hochschulforschung über "Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012".
Trotz dieser "Lücken" verändert sich aber nicht das Gesamtbild. Bei den ausländischen Studenten dominieren Staaten aus Europa und Asien. Aus Nordamerika (USA, Kanada) kommt inzwischen nur noch ein marginaler Anteil von etwa zwei Prozent - ungefähr 1/5 der Anzahl angehenden Akademiker aus Afrika. Dieses Verhältnis setzt sich auch bei den 200.000 Promovenden in Deutschland fort. Nur noch ein Prozent stammt davon aus Nord- und Südamerika - nur geringfügig mehr als aus Afrika. Es dominieren europäische und asiatische Länder.
Deutsche Studenten im Ausland
Nicht nur die Zunahme ausländischer Studierender treibt die Internationalisierung voran. Gleichzeitig wächst auch die Bereitschaft der Deutschen, zumindest einen Teil des Studiums im Ausland zu absolvieren. Anfang der 1980er Jahren studierten ca. 15.000 Deutsche pro Jahr im Ausland. Bis zur Gegenwart stieg die Anzahl auf über 132.000. Inzwischen sammeln laut einer Studie des Deutschen Bildungsministeriums zur Internationalisierung des Studiums über 30 Prozent der Studenten akademische Auslandserfahrung. In den 1980er Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent.
Auch hier profitieren die USA nicht von der Expansion des deutschen Bildungssystems. 1994 wählten 22 Prozent aller deutschen Studenten im Ausland diese als Zielort, gegenwärtig nur noch sieben Prozent. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den Auslandspraktika. Zwar absolvierten 2012 zehn Prozent aller deutschen Studenten mit Praktika im Ausland eines in den USA. Sie ist damit zwar noch ein zentrales Zielland, aber die absoluten Zahlen stagnieren. Die USA hat auch in diesem Bereich ihre singuläre Stellung verloren.
Aufstieg Eurasiens
Die statistischen Daten haben eine klare Aussage. Die umfassende US-amerikanische Prägung deutscher Eliten über das Bildungssystem der Nachkriegsjahrzehnte geht spätestens seit den 1990er Jahre kontinuierlich zurück. Die USA konnten weder von der gestiegenen Anzahl der Studenten mit Auslandserfahrung noch vom Ausbau der Bildungs- und Forschungskapazitäten profitieren. Im Gegenteil sinken die Anteile und teilweise auch die absoluten Zahlen beständig. Gleichzeitig dominieren seit fast über einer Dekade die Mitgliedsstaaten der EU mit über 70 Prozent als Zielland deutscher und mit 40 bis 50 Prozent als Herkunftsland ausländischer Studenten. Ebenfalls gewinnen aufstrebende Länder wie die Türkei, China, Indien und Russland an Bedeutung.
Hintergrund ist vor allem die Relativierung der Sonderstellungen der USA in Bezug auf die Offenheit ihrer eigenen Gesellschaft gegenüber europäischen Leistungsträgern. Die Harmonisierung der Bildungssysteme, gegenseitige Anerkennungen von Bildungsabschlüssen sowie umfassende Förderprogramme innerhalb der EU/EFTA zeigen hier deutliche Wirkung. Es entsteht ein europäischer Bildungsraum.
Interessanterweise zeigen sich ähnliche Entwicklungen auch in Ostasien. Das sonst eher verschlossenen Japan etabliert sich zunehmend als ein zentrales Zielland für die neuen Eliten Südostasiens. Bisher spielen sich solche Entwicklungen nur in den Randgebieten des Superkontinentes Eurasien ab. Mit dem Aufstieg der neuen Schwellenländer dürfte sich dieser Prozess auch in den inneren Gebieten manifestieren.
Diese Öffnung der ehemals verschlossenen Nationalstaaten gegenüber ausländischen Eliten stellt keine zufällige Entwicklung dar. Gerade Deutschland trieb diesen Prozess offensiv voran. So beschlossen Bund und Länder letztes Jahr, im Rahmen der Strategie zur Internationalisierung der Hochschulen, bis 2020 die Anzahl der ausländischen Studierenden auf 350.000 zu erhöhen.
Ziel ist nicht nur, den befürchteten demographisch bedingten Rückgang der Fachkräfte zumindest abzuschwächen und die eigenen zukünftigen (Wirtschafts-)Eliten besser auf eine globalisierte Welt vorzubereiten. Darüber hinaus versucht Deutschland nun seinerseits, über das Bildungssystem ausländische Eliten zu Gunsten nationaler Interessen zu prägen. Dabei betrachtet es die USA zunehmend als Konkurrent. Die Netzwerke der Eliten-Bildung in Deutschland folgen damit der ökonomisch-politischen Relativierung der USA beim Aufstieg Eurasiens.
Rückwirkung auf nationale Eliten
Die oben beschriebene Entwicklung wird anhalten. Damit wirkt der von den konservativ-atlantischen Eliten angestoßene Prozess auf diese zurück. Nicht nur der Umfang der "Eliten im Wartestand" steigt. Gleichzeitig nimmt die Heterogenität in Bezug auf Ausbildungs-Biographie und den internationalen Erfahrung zu. Damit werden sich neue Ankerpunkte der außenpolitischen Orientierung durchsetzen.
Der alte (west-)deutsche Konsens, primär nach Westen zu sehen, ist zunehmend nicht mehr tragfähig. Die Brüche zwischen Bevölkerung und Machteliten, die in zentralen außenpolitischen Fragen wie den aktuellen Auseinandersetzungen um die Ukraine deutlich werden, müssen auch unter diesen Aspekten diskutiert werden.
Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Die aktuelle Ausgabe "Deutsche Außenpolitik kontrovers" erschien Anfang Juni. Ebenfalls bloggt der Autor auf e-Politik.