Auge um Auge - 2000 Jahre christlicher Antijudaismus

Es wundert, dass keine Website die zahllosen Pogrome dokumentiert, die ihren Ursprung in christlichen Schauer-Phantasien hatten

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Antisemitismus in Deutschland fußt auf der Tradition des christlichen Antijudaismus und ist ohne ihn nicht zu erklären. Das jahrhundertealte negative Bild des Juden ist immer noch präsent: auf Homepages, die über Touristenattraktionen informieren, an den Rändern der Kirchen und in der Volksfrömmigkeit und in Floskeln des alltäglichen Sprachgebrauchs der Politiker. Der Antisemitismus ist kein Vorurteil, schreibt Alan Davies, sondern ein "komplizierter negativer Mythos, der sich über lange Zeit hin in der Geschichte des Westens entwickelt hat." Mit dem christlichen Antijudaismus beschäftigt sich, wenn überhaupt, nur die theologische Fachdiskussion; auf den vielen Websites "gegen rechts" taucht er als Thema nicht auf.

Juden als "verworfenes Volk"

Bilder: Fotoausstellung bei SchalomNet

Der Begriff des Antisemitismus stammt von Wilhelm Marr. In seiner Hetzschrift Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) griff er alle negativen Klischees auf, die den christlichen Diskurs seit dem Mittelalter geprägt haben: Die Juden seien rachsüchtige Gottesmörder und an der Pest schuld, sie begingen Ritualmorde und Hostienschändung.

Der katholische Antisemitismus konnte sich auf die Bibel und die Schriften der Kirchenväter berufen: Die Juden hätten Christus nicht als Messias anerkannt und seien deshalb "verstockt". Noch bis 1965 gehörte das Bittgebet "Oremus et pro perfidis Judaeis" - "lasset uns auch für die treulosen, unredlichen, ungläubigen Juden beten" - zur Karfreitagsliturgie der katholischen Kirche. Erst Papst Johannes XXIII ließ diesen Satz streichen.

Unter dem Tarnmantel messianische Juden versuchen jedoch christliche Fundamentalisten heute noch, Juden zu bekehren. Ultrakonservative Katholiken fordern gar, die Juden sollten sich von ihrem Glauben lossagen.

Ritualmord und Hostienschändung

Zahlreiche Volkslieder, Kompositionen, Kunst und Kirchenbauten dokumentieren die antijüdischen Mythen, die Juden würden christliche Kinder töten, um deren Blut für rituelle Zwecke zu verwenden und den Vorwurf der Hostienschändung. Es wundert, dass keine Website die zahllosen Pogrome zusammenfasst und dokumentiert, die ihren Ursprung in diesen christlichen Schauer-Phantasien hatten. Eine heutige Touristenattraktion Brandenburgs, das Kloster Heiligengrabe in der Prignitz, verdankt seine Gründung 1287 dem Mord an einem Juden, der angeblich eine Hostie gestohlen hatte.

Die Wallfahrt Zur Deggendorfer Gnad in Bayern zur Erinnerung an einen angeblichen Hostienfrevel der Juden im 14. Jahrhundert wurde gegen den Widerstand der einheimischen Bevölkerung erst 1992 eingestellt. Die Ritualmordlegende im österreichischen Rinn bei Innsbruck wurde bis 1998 mit Prozessionen gefeiert, bei denen bis zu 30000 Katholiken erschienen. Die Backsteinkirche im mecklenburgischen Sternberg, heute eine Touristenattraktion, enthält eine spätgotische Schnitzerei mit Darstellung der Judenverbrennung aus dem Jahre 1492. Auch die Kirche im fränkischen Iphofen steht in dieser unseligen Tradition.

Pogrome vor dem Hintergrund christlicher Theologie wegen angeblicher Morde und Hostienfrevels durch Juden ziehen sich wie ein roter Faden durch die deutsche und österreichische Geschichte. Sie sind belegt in Regensburg, Nürnberg, Münster, Würzburg, in München, Ellwangen, Manau in Unterfranken, Oberweichsel bei Bacharach, Hersfeld bei Kassel, Röttingen an der Tauber, Nürnberg, Fulda, Naumburg, Wolfsberg in Kärnten.

Der Judenplatz in Wien erinnert noch heute an eine versuchte Zwangstaufe und den Massenselbstmord der Juden im 15. Jahrhundert und an das damalige Ghetto Unterer Wird. In Baden und am Oberrhein, in Freiburg, in Wildeshausen und in Straßburg wurden die Juden für die Pest verantwortlich gemacht und umgebracht - wie auch in Köln, Dresden, Durlach, Frankfurt/Main, Worms, Speyer und Erfurt. Auf das Märchen, die Juden seien an der Pest im Mittelalter schuld, berufen sich noch heutige Nazis.

Doitsche Dichter und Denker

Johann Wolfgang von Goethe bezeichnete das Volkslied Die Juden von Passau als "bänkelsängerisch, aber lobenswerth"; im Gedicht, überliefert in "Des Knaben Wunderhorn" (1805) von Arnim und Brentano, schänden die Juden christliche Hostien und werden anschließend vor ein Gericht gestellt. Offener Judenhass und Verschwörungstheorien waren in Deutschland schon im 17. Jahrhundert gut für die Karriere: Johann Andreas Eisenmenger schrieb ein Buch: "Entdecktes Judenthum Oder Gründlicher und Wahrhaffter Bericht, welchergestalt die verstockten Juden die Hochheilige Drey-Einigkeit lästern und verunehren." Kurfürst Johann Wilhelm (1690-1716) ernannte ihn dafür zum Professor für Hebräische Sprache. Das Machwerk erlebte noch 1893 eine Neuauflage.

Nicht nur Volkslieder, sondern auch klassische Kompositionen dokumentieren, wie stark die christliche Lehre den Antisemitismus vorbereitet hat: Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, 1727 komponiert und eines der wichtigsten Stücke protestantischer Kirchenmusik, benennt die Juden als Gottesmörder. Der Blutruf aus dem Matthäus-Evangelium - in dem die Juden sich selbst verwünschen, weil sie Jesus ans Kreuz geschlagen haben - war 400 Jahre Bestandteil der Oberammergauer Festspiele und wurde erst 1984 nach einer Intervention des Münchener Bischofs gestrichen (www.freitag.de/2000/24/00241301.htm).

An der Stadtkirche der Martin Luther-Stadt Wittenberg gibt es ein Relief, die so genannte "Judensau", das die Juden mit dem für sie unreinen Tier in Verbindung bringt. Ohnehin kämen Martin Luthers Schriften heute auf den Index und würden als volksverhetzend strafrechtlich verfolgt. Luther formulierte 1543 in "Von den Juden und ihren Lügen":

...Daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich ... Daß man ihnen verbiete, bei uns öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren, bei Verlust Leibes und Lebens.

Diese und andere Zitate christlicher Theologen lassen Christoph Münz polemisieren, der Antisemitismus sei aus dem Geist des Christentums geboren worden. Die heutigen christlichen Theologen distanzieren sich verschämt von ihren antijüdischen Vordenkern und ebensolchen "heiligen" Büchern. Christlicher Antijudasimus als Fundament der deutschen Alltagskultur, die mit dem Holocaust endete, ist offenbar eine peinliche Angelegenheit. Kritiker werden den Kirchen vor, sie betrieben Ent-Schuldigung statt sich zu ihrer Schuld zu bekennen. Auch das am 16. März 1998 veröffentlichte Dokument "Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah" der Vatikanischen "Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden" werde dem Thema nicht gerecht.

Auge um Auge

Die Idee, das Judentum sei eine Religion starrer Gesetze und predige Rache, ist Unfug, aber im öffentlichen Diskurs trotzdem präsent - vor allem in der sprichwörtlichen Redewendung des alttestamentarischen Auge um Auge. Eine Dokumentation des WDR über Israels geheime Kommandoeinheiten trägt diesen Titel. Oskar Lafontaine interpretiert Israels Politik in diesem Sinne, und vielen deutschen Zeitungen fällt auch zum Thema Nahost-Konflikt nur das alte Testament ein. "Auge um Auge" heißt nur, dass das Prinzip des Schadensersatzes die Blutrache verdrängen soll.

Das hartnäckige Vorurteil scheint aber resistent gegen Argumente, wie die Websites der Anthroposphen, die eingefleischter Verschwörungstheoretiker oder der katholische Ordenspriester Manfred Adler zeigen. Dass die geistig armen katholischen Mystiker das nicht verstehen, sollte aber niemanden wundern.

Antisemitismus auf der Basis des christlichen Antijudaismus ist Teil der deutschen Leitkultur, hier treffen sich Christen und Atheisten, Linke und Rechte. Und dass auf der schönen Seite Netz gegen Rechts das Thema Antijudaismus überhaupt nicht erwähnt wird, spricht für das Fazit, wie deutsche Medien mit Antisemitismus umgehen: Viel geschrieben und nichts begriffen.