Auge um Auge

Seite 2: Kampf gegen die "Judaisierung Palästinas"

Ein prominentes Beispiel war der orthodoxe Jerusalemer Erzbischof Hilarion Capucci der in einigen arabischen Staaten auf Briefmarken verewigt ist. Capucci schmuggelte Waffen für die PLO und wurde von der als Märtyrer gefeiert, als er sich dabei ertappen ließ.

Capucci hatte einen Pass des Vatikans und setzte, nachdem er seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, seinen Kampf gegen die "Judaisierung Palästinas" unter dem Motto "Einheit von Kreuz und Halbmond" unvermindert fort.

Gemeinsam mit Islamisten und diversen NGOs war er auf dem Passagierschiff Mavi Marmara, das versuchte, die israelische Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen.

Man kann Antisemiten wie Capucci als extremen Einzelfall abtun – aber er ist es nicht. Man muss nur genau hinsehen: Im August 2019 ermordete ein Terrorist der PFLP die israelische Schülerin Rina Schnerb.

Die Bundestagsfraktion der AfD sprach reflexhaft vom "radikalislamischen Terror". Der Täter, Samer Abid, war aber palästinensischer Christ.

Ganz aktuell werden antijudaische Klischees auf christlicher Basis dort, wo man es nicht spontan erwartet – bei der "Reinheit des Blutes" (Spanisch: limpiza de sangre), die in verwandter Form beim Widerstand einiger Christen gegen das Impfen auftritt.

Während der Inquisition im 15. Jahrhundert wurde die Bevölkerung nach "Viertel-" und "Halbjuden" durchforstet, auch die Konversion zum Christentum schützte nicht vor der Todesstrafe durch Verbrennen.

Der Antijudaismus wurde schon hier – ein halbes Jahrtausend vor den Nürnberger Gesetzen – zu einem rassistischen Antisemitismus.

Dieser war erstaunlich langlebig. Tarach erwähnt die Zeitung Civiltà Cattolica, die 1893 schrieb, die "jüdische Nation" arbeite nicht, sondern sei ein "riesiger Krake, der mit seinen übergroßen Tentakeln alles ergreift, sein Bauch sind die Banken." Das Judentum sei "ein Fremdkörper, ein Entzündungsherd, der Reaktionen jenes Organismus hervorruft, den er befallen hat."

Gift der Juden, Gift der Pharmabranche?

Zu Beginn der Covid-19-Pandemie warnten "namhafte Kardinäle wie Robert Kardinal Sarah, Janis Kardinal Pujats, Gerhard Kardinal Müller und Joseph Kardinal Zen sowie Dutzende von Bischöfen, Priestern und Intellektuellen, die Etablierung totalitärer Praktiken zu stoppen, die unter dem Vorwand der Covid-19-Eindämmung in den meisten Ländern eingeführt wurde". "Jahrhunderte der christlichen Zivilisation" würden "unter dem Vorwand eines Virus ausgelöscht werden".

Tilman Tarach sieht in den Schuldzuweisungen und in dem Gerede, Impfstoffe seien "Gift", eine Wesensverwandtschaft "mit den Legenden von den Juden, die die Brunnen, Quellen und Zisternen der Christen vergifteten, um Lepra oder die Pest zu verbreiten und dadurch die Christenheit zu schädigen."

Dennoch bleibt die Frage letztlich unbeantwortet und strittig, was die Wurzeln des aktuellen Antisemitismus sind, der auf der christlichen Alltagskultur und deren Bildern basiert.

Wenn, wie Marx es pathetisch formulierte, die Religion der "Seufzer der bedrängten Kreatur" ist, "das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist", verminderten sich auch die Vorurteile, die Aberglauben und Verehrung höherer Wesen mit sich bringen, wenn die Religion zurückgedrängt wird?

Stimmt die Gleichung: Weniger Christentum bedeutet weniger Antisemitismus? Unstrittig ist, dass die Schoa nur vor dem Hintergrund des christlichen Antijudaismus möglich wurde. Man muss aber befürchten, dass Ressentiments gegen bestimmte Gruppen, die vermeintlich anders als der gefühlte "völkische" oder kulturelle Mainstream sind, immer existieren werden.

Die Herrschenden, wer auch immer das jeweils ist, ob arabische Despoten oder christliche Fundamentalisten, können sie immer benutzen, um von den Konflikten abzulenken, die die Machtfrage auf die Tagesordnung bringen könnten.