Augen zu und durch
Die von der EU-Kommission geplante Verlängerung von Leistungsschutzrechten wurde von der Wissenschaft selten einhellig und in ungewöhnlich klaren Worten als "untauglich", "scheinheilig" und "nicht zu rechtfertigen" abgelehnt. Trotzdem soll sie durchgesetzt werden
Am Donnerstag den 12. Februar soll der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments über eine Richtlinie entscheiden, mit der die Schutzfristen für zusätzlich zum Urheberrecht gewährte gesonderte Monopolrechte europaweit von 50 auf 95 Jahre verlängert und damit praktisch verdoppelt werden.
Nachdem ein Vorstoß via Großbritannien gescheitert war, hatte die Musikindustrie auf den EU-Binnenmarkt-Kommissar Charles McCreevy eingewirkt, der im Februar 2008 ankündigte, den Wünschen stattzugeben. Vier Monate später veröffentlichte die Kommission einen offiziellen "Vorschlag" dazu.
In einer Pressemitteilung hieß es: "Wenn nichts unternommen wird, werden in den kommenden zehn Jahren Tausende europäischer Künstler, die in den späten Fünfzigern und Sechzigern Tonträger aufnahmen, ihre Lizenzeinnahmen verlieren." Die EU, so das Dokument, sorge sich nicht "um Stars wie Cliff Richard oder Charles Aznavour", sondern um "Tausende von anonymen Studiomusikern, die […] bei der Herstellung von Schallplatten mitwirkten" und für die längere Monopolrechte die einzige Chance auf eine Rente seien. "Eine 95-jährige Schutzdauer", so die Kommissare, "würde verhindern, dass ausübende Künstler, die im Alter von 20 Jahren Platten aufgenommen haben, bei Erreichen ihres 70. Lebensjahres einem plötzlichen Einkommensausfall gegenüberstehen".
Eine Argumentation, die nicht nur bei Rechts-, sondern auch bei Musik- und Wirtschaftswissenschaftlern Verwunderung hervorrief. Denn wenn es tatsächlich um die Rente von Musikern gehen würde, dann wäre es angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung kaum verhältnismäßig, den Fluss von Extra-Tantiemen bis ins 115. Lebensjahr zu verlängern.
Aber auch eine Angleichung der Schutzrechte an das tatsächliche Lebensalter würde, wie unter anderem eine Stellungnahme des Münchner Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht darlegt, Musikern höchstens "marginale Vorteile" bringen, weil deren Problem "primär in ihrer fehlenden Verhandlungsmacht den Tonträgerherstellern gegenüber liegt" - was die EU-Kommission dem MPI-Gutachten nach auch weiß. Dass sie die Konsequenzen daraus - nämlich die Verhandlungsmacht von Musikern gegenüber der Rechteinhaberindustrie durch "zwingendes Vertragsrecht" auszubauen - in ihren Ausführungen zur Richtlinie sogar ausdrücklich ablehnt, wirkte auf die Juristen des Instituts "fast zynisch":
Diese Zusammenhänge vor Augen, erscheint es scheinheilig, die Situation der ausübenden Künstler dadurch verbessern zu wollen, dass dieses – offensichtlich ungerechte und anderweitig lösbare – System nicht nur unverändert beibehalten werden, sondern mit seiner ganzen Unzulänglichkeit nun einfach nochmals um 45 Jahre verlängert werden soll.
Durch die zum Industriestandard gewordenen Buy-Out-Verträge stünden die geplanten Staatsinterventionen nicht nur "im Widerspruch zu fundamentalen marktwirtschaftlichen Erkenntnissen", sondern kämen auch noch ganz überwiegend der Tonträger- und Rechteinhaberindustrie zugute, von der die Musiker abhängen und die "die Verantwortung für deren unzureichendes Auskommen trägt."
"Alarmierende Unkenntnisse der Kommission"
Nicht einmal die Zahlungen der Verwertungsgesellschaften bleiben, wie von der EU-Kommission behauptet, "von den vertraglichen Vereinbarungen mit den Plattenfirmen unberührt". Selbst wenn nationale Sonderregeln, die es keineswegs überall gibt, dies vorschreiben, gehen die Gelder aus der kollektiven Rechtewahrnehmung nicht komplett an die Künstler, sondern werden im Höchstfall "aufgeteilt".
Die scheinbare Anlehnung an das amerikanische Copyright entlarvten die Wissenschaftler als falsche Analogie, die "alarmierende Unkenntnisse der Kommission" aufzeigt, welche sich "unkritisch auf Angaben der betreffenden Interessenverbände" stützt. Tatsächlich, so das Max-Planck-Institut, handelt es sich bei der in Europa diskutierten Frist um einen in den USA gar nicht existenten zusätzlichen Schutz zum Urheberrecht, der dadurch schon jetzt 50 Jahre länger andauert als dort - womit auch alle vorgebrachten Argumente einer angeblichen Abwanderung in die USA oder einer zu sehr auf dortige Bedürfnisse ausgerichteten Produktion als blanker Unsinn entlarvt wären. Auch Anreize für Neuschöpfungen, so die Wissenschaftler, biete die "ökonomisch sinnlose" rückwirkende Schutzfristverlängerung nicht.
Als besonders dreist empfanden die Autoren der MPI-Stellungnahme offenbar, dass in dem EU-Papier allen Ernstes behauptet wird, die Maßnahme hätte praktisch keine Auswirkungen auf die Verbraucher: "Denn", so das Institut, "irgendjemand muss jene Rechnung ja bezahlen, damit für die Tonträgerhersteller und die ausübenden Künstler ein angeblich lohnender Mehrbetrag gegenüber heute herausschauen kann".
Entgegen der Darstellung in vielen deutschen und noch mehr englischsprachigen Medien, hat das Ablaufen der Fristen für "besondere Schutzrechte" zudem nur begrenzte Auswirkungen: Nach der bisherigen Regelung ist ein Musikstück, dass vor dem 1. Januar 1959 eingespielt wurde, nur dann gemeinfrei, wenn kein Autor existiert oder wenn er bereits länger als siebzig Jahre lang tot ist – das ist jedoch nur bei Traditionals und bei Einspielungen älterer klassischer Komponisten der Fall.
Mit ihrer zur Durchsetzung der Richtlinie propagierten Botschaft, dass bald die gesamte Rockmusik aus dem Schutzsystem herausfallen würde, könnte sich die Musikindustrie deshalb möglicherweise (zumindest in Deutschland) selbst ein Bein stellen: Denn wer sie aufnimmt, der muss zur Auffassung kommen, dass zum Beispiel alle Elvis-Stücke, die älter als 50 Jahre sind, problemlos in Filesharingsystemen getauscht werden können. Und wenn die Öffentlichkeit so etwas glaubt, dann fällt auch die Option der "offensichtlichen" Rechtswidrigkeit weg, was wiederum ein Herunterladen straffrei macht.