Aus dem Leben der Stämme
Geschenkökonomie als Marketingexperiment
Cory Doctorow hat seinen zweiten Roman kostenlos im Netz veröffentlicht - parallel zu einer Druckausgabe bei Tor Books. Autor und Verlag begreifen die Aktion als Experiment zur Zukunft des Buchgeschäfts.
Vor etwa einem Jahr, als "Down and out in the Magic Kingdom" gleichzeitig als E-Book und als gedrucktes Buch auf Papier erschien (vgl. Eine Welt, die Tod und Copyright überwunden hat), erklärte der Autor die Logik, die dahinter steckte, so: Die Verbreitung einer kostenlosen elektronischen Fassung des Romans parallel zur kostenpflichtigen gedruckten beschädige die letztere nicht, sondern helfe ihr. Denn es sei doch gerade das größte Problem neuer Autoren, dass sie von den Verlagen nicht beworben würden, daher kaum Chancen hätten sich einen Namen zu machen, aber die kostenlose elektronische Version garantiere genug Mund-zu-Mund-Propaganda bei der Netzgemeinde, um die gedruckte Version für Leute interessant zu machen, die eben keine Romane am Bildschirm lesen würden.
Doctorow zitierte seinen damaligen Verleger mit der Meinung, dass man schlimmstenfalls ein paar Leser wegen der elektronischen Ausgabe verlieren, aber Zehntausende neue Leser für das nächste Buch gewinnen werde. Und außerdem wollte Doctorow seine Strategie als Beitrag zu der Debatte um Urheberrecht und "Piraterie" an geistigem Eigentum begriffen sehen. Es mache keinen Sinn, Leser wie Kriminelle zu behandeln, man müsse mit ihnen und ihren Bedürfnissen arbeiten, statt gegen sie, kurz: Er gehe nur mit der Zeit, oder ihr vielleicht ein bisschen voraus.
Im Vorwort zu seinem neuen Buch Eastern Standard Tribe bläst Doctorow das fortlaufende Experiment leider zu einem Ding von globaler Bedeutung auf, das die Zukunft des Publizierens mitbestimmen werde. Er und der Verlag Tor Books arbeiten nach Doctorows Überzeugung an der Gründungsakte eines neuen Zeitalters der Vermittlung geistiger Inhalte. Das könnte man jetzt für marktschreierischen Größenwahn halten, wenn es sich bei den beiden Romanen Doctorows um irgendeinen schnell zusammengeschmierten Firlefanz handeln würden, der mit einer neuen Masche beworben werden soll.
Aber so leicht sollte man es sich hier nicht machen. "Down and out in the magic kingdom", die Geschichte einer radikal veränderten Gesellschaft ohne Mangel und Tod, krankt zwar an den klassischen Fehlern einer Literatur der Ideen, es wird deklamiert und debattiert was das Zeug hält, und die Fundierung der vorgeführten cyberlibertären "Ideologie in Aktion" ist mehr als wacklig, aber die konkrete Erzählung macht doch Spaß. Man liest das gern, wie der Held sich durch seine Welt hindurchhangelt. Er findet sein Lebensabschnittsziel darin, in Disneyland nahezu kultisch verehrte Jahrmarktsattraktionen lebendig zu halten, die mittlerweile von dort lebenden, nach Stammesart organisierten Kollektiven bewirtschaftet werden.
So an den Haaren herbeigezogen das klingt, Doctorow kann die Verhältnisse und Konflikte plausibel machen - das ist an sich schon keine kleine Leistung, aber er hat außerdem Humor, was ihn deutlich von cyberlibertären Ideologen unterscheidet, die Literatur nur als Propandavehikel begreifen. Nach der Einleitung des zweiten Romans "Eastern Standard Tribe" ahnt man Fürchterliches, aber überraschenderweise ist der zweite Roman noch besser als der erste. Die Handlung ist näher an die Jetztzeit herangerückt, die Stammesmitglieder definieren sich nicht mehr durch einen Ort, an dem sie existieren, sondern durch eine Zeitzone, der sie sich zugehörig fühlen, sie bekämpfen einander, wie schon in "Down and out" mit durchaus plausiblen Mitteln der Industriespionage und -sabotage und alles wirkt insgesamt, von der Grundkonstruktion abgesehen, ziemlich zeitgenössisch. Dazu hat der Antagonist eine plausible Psychologie (was in "Down and out ..." eher noch nicht der Fall war) und der zentrale emotionale Konflikt - wie in dem Vorgänger ein Liebesverrat durch eine Frau - wird nahtlos in das Gesamtszenario eingebunden. Wenn man von Science Fiction spricht, dann hat Cory Doctorow mit diesen beiden Texten Arbeiten abgeliefert, die man lesen und von denen man sprechen kann, ohne sich um die verbrauchte Zeit betrogen zu fühlen.
Das muss natürlich noch nicht heißen, dass das Geschäftsmodell, mit dem sie auftreten, eine Beispielfunktion für das Genre insgesamt und für die Literatur allgemein haben muss - oder gar die revolutionäre Bedeutung, die der Autor ihm zuzumessen scheint. Wenn Doctorow sagt, dass ihm der kostenlose Vertrieb seiner Romane in elektronischer Form neue Leser zuführe, weil er ihm neue Möglichkeiten eröffne, Aufmerksamkeit bei potentiellen Lesern zu finden, dann ist dieser Vorteil sofort vertan, wenn andere es ihm in ausreichender Zahl nachmachen. Haben seine Romane erst einmal das Alleinstellungsmerkmal verloren, dass sie immer auch kostenlos im Internet zu finden sind, werden sie sich die ökonomische Nische, die sie besetzt haben, mit besseren und schlechteren Konkurrenten teilen müssen, analog zum Meatspace, wo man um den Regalplatz beim Buchhändler kämpft.
Damit verwandelt sich seine wunderbare Revolution in der Welt des Publizierens in nichts als einen kurzfristigen Marketingvorsprung vor den Konkurrenten. Es geht wieder einmal nur um einen temporären Sieg in der sozialdarwinistischen Endlosschlacht. Die wunderbaren Ideen davon, dass die Information frei sein will, dass geistiges Eigentum nicht taugt, erweisen sich so in einem unveränderten gesellschaftlichen Umfeld wieder einmal nur als Loblied auf eine erneuerte Form des Freihandels. Und die Händler von morgen wissen schon, welche Claims sie heute abstecken, was sie sich jetzt aneignen müssen, um es sich später als Aktivposten anrechnen zu können.
Das ist nicht Doctorows Problem, ganz im Gegenteil ist er sehr offen in seinem Vorwort zu "Eastern Standard Tribe": Er will der Erste sein, der diesen speziellen Marketingkanal benutzt. Allerdings verwechselt er den Wunsch, dasselbe noch einmal in einem schöneren Grün zu machen, mit einer welterschütternden Revolution, und das ist ein wenig kindisch. Viel zu verlieren hat er nicht: Wenn seine Idee durchschlägt, wird er einst als Pionier gefeiert werden, wenn nicht, erinnert man sich vielleicht an ihn als einen Autor passabler Romane, und das wäre ja auch schon nicht schlecht.