Ausgelaugt und überlastet: Menschen in der deutschen Arbeitwelt

Seite 2: Abhärtung und Abstumpfung

Die Arbeitenden sorgen sich davor, "ihre" Arbeit als Einkommensquelle zu verlieren. Schon das begrenzt ihre Macht, bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Viele haben sich zudem wohl oder übel an die Härten in der Arbeit angepasst, soweit das überhaupt geht. Die Zumutungen von außen werden mit einem harten Verhalten gegen sich selbst begleitet.

Sich Rechenschaft abzulegen von dem, was viele Arbeiten den Arbeitenden antun, fällt so lange schwer, wie letztere mangels kollektiver Handlungsmöglichkeiten nichts an der Misere ändern können.

Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, dass die Fische im Meer nass werden? Und die Leidenden selber teilen diese Härten gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selber gegenüber.

Bertolt Brecht

Die Abhärtung missrät von der Not zur Tugend. Stolz ist man nun auf die eigene Belastbarkeit. Wer das anders sieht, erscheint als "Warmduscher". Er mache es sich mit seiner "Empfindlichkeit" nur selbst schwer. Das Abdrängen bzw. Nichtzulassen belastender Emotionen geht einher mit einer "Verminderung der Klarheit im Denken und Wahrnehmen, da das nach Ausdruck drängende und gleichzeitig daran gehinderte Gefühl ständig virulent bleibt und auf Kognitionen und Wahrnehmungsprozesse Einfluss nimmt, mit denen es primär nicht in Beziehung steht" (Rost 2001, 84).

Sich eine Gefühllosigkeit gegenüber der eigenen Überlastung anzugewöhnen, das fällt nicht leicht. "Diese Anpassungsleistung kostet Kraft; viele sind sich dessen bewusst und [...] ein bisschen stolz darauf. Nicht so bewusst sind zumeist die emotionalen Kosten, die vielfach in einer Senkung des Anspruchsniveaus und der allgemeinen Aktivitätsbereitschaft bestehen. Man regt sich nicht mehr auf, aber der Schwung von früher fehlt" (Girschner-Woldt u. a. 1986, 149).

Selbstverantwortungsideologie

Die Betroffenen bewegen sich oft im Rahmen einer - durch die herrschende Medizin kräftig verstärkten - Selbstverantwortungsideologie (vgl. Creydt 2006). Das behindert sie dabei, den konstitutiven Zusammenhang zwischen den gesellschaftlich verursachten Überforderungen und dem Krankheitsgeschehen wahrzunehmen.

Gewiss können z. B. Psychotherapeuten und psychologische Berater nicht die Arbeitsverhältnisse verändern. Aber es macht einen Unterschied ums Ganze, ob die Klienten die objektive Überlastung wahrnehmen oder sich einreden (lassen), es hänge alles vom individuellen subjektiven Umgang mit ihr ab.

Viel zu leicht heißt es dann: "Ich überfordere mich" statt "Ich werde überfordert". Beliebt ist der Ratschlag "'Man muss sich einfach nur besser abgrenzen'. Dadurch werden andere, externe Stressoren übersehen und vor allem, dass man sich eben nicht einfach ohne Konsequenzen abgrenzen kann, wenn permanent Grenzen überschritten werden" (Flick 2021, 74). Flick beschreibt und analysiert prägnant und instruktiv, wie viele Psychotherapeuten und Psychologen die Berichte von Klienten über Arbeitserfahrungen psychologisierend uminterpretieren (Flick 2020,10-20).

Angesichts der Überforderung ihrer Nerven durch Belastungen greifen viele zu Nikotin. Es erhöht die Denk- und Konzentrationsfähigkeit, wirkt beruhigend sowie angstlösend und gleicht Stimmungsschwankungen aus. Das entsprechende Bedürfnis ist augenscheinlich groß. Gegen den überhandnehmenden Disstress greift das Individuum zu Mitteln, die seinem Körper alles andere als gut tun.

"Der Kaffee wirkt positiv, als Anregungsmittel und Nährstoff des Gehirns. Der Tabak wirkt negativ, indem er den Restkörper beruhigt, d.h. eine Motorik auf das Minimum reduziert, das bei geistiger, d. h. sitzender Tätigkeit gefragt und erforderlich ist" (Schivelbusch 1980, 122). "Definiert man das Rauchen als Ersatzhandlung, welche die zunehmende […] Nervosität der Menschen pharmakologisch und motorisch bindet, dann zeigt die Durchdringung unserer Kultur durch das Rauchen, wie tief sie von dieser Nervosität durchsetzt ist." (Ebd., 141)

Eine Zwickmühle ergibt sich in der Lebensweise der Individuen. Sie begegnen als vereinzelte Einzelne individuell nicht kontrollierbaren Problemen mit Mitteln (Rauchen, Alkohol usw.), deren längere Anwendung den Anwendern schadet. Risikoverhalten ist "weder uninformiertes, noch irrationales, noch verantwortungsloses Verhalten, es ist die individuelle Entscheidung in einer 'no-win'-Situation" (Kickbusch, Wenzel 1981, 38).

In der Öffentlichkeit haben andere Themen Priorität

Im Unterschied zum Ende des 19. Jahrhunderts ist die Gewöhnung an die Überforderung anscheinend weiter fortgeschritten. Damals konnte August Bebel in seinem in der deutschen Sozialdemokratie sehr populären Werk "Die Frau und der Sozialismus" neben allerhand Lob der großen Industrie zugleich auch manche Kritik an ihr und an der mit ihr verbundenen Lebensweise äußern.

Zum Beispiel heißt es darin: "Der Sozialismus wird erst wieder eine größere Stabilität in die Lebensgewohnheiten der Gesellschaft bringen; er wird Ruhe und Genuss ermöglichen und ein Befreier von der gegenwärtig herrschenden Hast und Aufregung sein. Alsdann wird die Nervosität, diese Geißel unseres Zeitalters, verschwinden" (Bebel 1910, 351). So etwas liest frau/man heute kaum.

Was fehlt, ist die Infragestellung der Art des Wirtschaftens und der Arbeitsorganisation, die zur Überforderung der Menschen, zur Auslaugung ihrer Energien und zur Vereinseitigung sowie Verkümmerung ihrer Fähigkeiten führt.

Meinungsumfragen erheben die für die Wähler entscheidenden Themen. Die wirtschaftliche Lage der Nation, die Einkommensentwicklung, die Klimakatastrophe, die Mieten und die Kriminalität stehen an vorderster Stelle. Aber keine politische Kraft fragt, ob der gepriesene Nutzen der gegenwärtigen Weise des Wirtschaftens und Arbeitens den Preis wert ist. Kaum jemand stellt einen "Erfolg" der Wirtschaft infrage, der erkauft ist mit Raubbau an der Gesundheit und mit der Erschöpfung der Menschen.

Verwüstung ist mehr als Zerstörung. Verwüstung ist unheimlicher als Vernichtung. Die Zerstörung beseitigt nur das bisher Gewachsene und Gebaute; die Verwüstung aber unterbindet künftiges Wachstum.

Martin Heidegger

Das Arbeits-"leben" senkt bei vielen Arbeitenden die Chancen für eine schöne Freizeit und ein gutes Zusammensein mit ihren Kindern. Mit Geld ist das nicht aufzuwiegen. Das übersehen notorisch diejenigen, die sich auf das Arbeitseinkommen fokussieren.

Die "Effizienz" und "Leistungsfähigkeit" der Wirtschaft stehen an erster Stelle. Dass deren Erfolg sich nicht unwesentlich einer Beanspruchung der Arbeitenden verdankt, die ihre Lebensqualität massiv beeinträchtigt, wird beflissen ausgeblendet. Das trägt dazu bei, den "ökonomistischen Zirkel" ohne Rücksicht auf Verluste fortzusetzen. In ihm kommt der "Zweck des Wirtschaftens nur in rein ökonomischen Kategorien wie 'Nutzenmaximierung' oder 'Wettbewerbsvorteilen'" in den Blick (Schaaff 1999, S. 28).

Grenzen der DGB-Aktivitäten für "gute Arbeit"

Oft bewegt sich der Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen in der Logik von "zufriedene Kühe geben mehr Milch". Beanstandet wird dann, dass keine artgerechte Nutztierhaltung stattfindet. Komplette Fehlanzeige herrscht in Bezug darauf, Arbeit als ein zentrales Moment oder eine wesentliche Dimension wahrzunehmen - theoretisch und praktisch -, in der sich menschliche Sinne und Fähigkeiten, kooperative Sozialbeziehungen und Reflexionsvermögen bilden oder eben verbilden.

Kampagnen wie das DGB-Projekt "Gute Arbeit" weisen auf die schlimmsten Arbeitsbedingungen hin. Auch das Wahlprogramm der Linkspartei (2021, 16f.) zur Bundestagswahl unterstützt solches Engagement. Zugleich heißt es "Niemals am Leben sparen - keine Kürzungen zulasten von Frauen und Familien" (Linkspartei 2021, 103).

"Leben" fällt den Verfassern bei "Frauen und Familien" ein, nicht bei den Arbeitenden. Das gewerkschaftliche Engagement für "gute Arbeit" macht einen gebremsten und widersprüchlichen Eindruck. Denn mit ihm ist meistens die Vorstellung verbunden, es ließen sich ohne eine grundlegende gesellschaftliche Transformation des Wirtschaftens und Arbeitens deren negative Wirkungen auf die Arbeitenden zurückdrängen.

Wer das meint, hat keinen Begriff vom Zusammenhang zwischen beiden Momenten. Entweder herrscht die Vorstellung, Kapitalismus könne auch funktionieren, ohne das möglichst maximale Ausquetschen der Arbeitskraft. Man meint, den Tiger Kapitalismus zum Vegetarier zähmen zu können. Oder man teilt die weitverbreitete Verleugnung in Bezug auf die heute als "normal" angesehenen Zumutungen in der Arbeit und will nur die skandalösesten Exzesse unterbinden.

Komplett fehlt ein Begriff davon, dass Betriebe und Organisationen dann eine Fehlentwicklung darstellen, wenn sie massiv auf Kosten der Gesundheits- und Lebensqualität der Arbeitenden gehen. Was diese Wirtschaft durch Produkte und Dienstleistungen der zahlungsfähigen Nachfrage anbietet, nimmt sie durch die Weise, wie sie das Arbeiten und die Dienstleistungen formt.

Der Satz "Während der tote Stoff veredelt die Stätten der Arbeit verlässt, werden die Menschen dort an Leib und Seele verdorben" (Encyclika Quadragesimo anno) zeigt Gespür für die Brisanz der Problematik. Anders die gewerkschaftliche Kritik an der Arbeitsorganisation im modernen kapitalistischen Wirtschaftsleben. Diese Kritik passt sich den pragmatischen Wirkungsmöglichkeiten an und stellt deren sie begrenzende Voraussetzungen nicht infrage.

Die Produktionstechnologie und Arbeitsorganisation im Kapitalismus erscheinen auch den Vertretern der Arbeitsschutzkampagnen weitgehend als neutraler, technischer oder sachlich gegebener Imperativ modernen Wirtschaftens und Produzierens.

Dass eine Gesellschaftstransformation hin zu einer Gesellschaft des guten Lebens eine grundlegende Veränderung des Arbeitens und der Produktionstechnologie (vgl. dazu Creydt 2021) erfordert, bleibt außerhalb des Blickfeldes. "Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung befindet sich auf einem Niveau der wirtschaftlichen Effizienz, wo wir auch auf mögliche Prozentpunkte der Produktivitätssteigerung verzichten können zugunsten von menschenfreundlicheren Arbeitsplätzen.

Bisher hatte immer die Humanisierung die Beweislast, wieweit sie ohne Einschränkung der wirtschaftlichen Effizienz möglich sei. Für eine Wirtschaftsordnung, welche der Freiheit den hervorragenden Platz einräumt, ist diese Beweislastzuteilung nicht selbstverständlich.

In Zukunft soll, wer die Effizienz steigern will, beweisen, dass dies ohne Beschädigung der Menschlichkeit des Arbeiters möglich ist. Die Beweislastverteilung muss korrigiert werden" - so der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm (1979, 144). Selbst ein solches Statement wird heute im Kontext der DGB-Aktivitäten für "gute Arbeit" kaum anzutreffen sein.

Auch den Verfechtern von Produktivismus und den Propagandisten von Effizienzextremismus in der früheren DDR war das Engagement gegen eine Arbeit fremd, die es den Arbeitenden abverlangt, "in einer vom Ganzen abgespaltenen Teilverrichtung von beschämender Geringfügigkeit ihren Lebensinhalt zu finden" (Litt 1958, 44). Im SED/DKP-Denken fand sich keine Kritik an den problematischen Momenten der modernen Produktion und Technologie.

Effizienz bildete vielmehr den begrüßten Maßstab, an dem die verschiedenen Produktionsverhältnisse (kapitalistische, "realsozialistische") offiziell gemessen werden. In der DDR-Zeitschrift "Die Wirtschaft" (Nr. 16, 1975, S. 19) hieß es: ,,Etwa ein Drittel der sowjetischen Industriearbeiter sind an Fließbändern beschäftigt." Kein Problem - denn "das Fließband ist auch der Gesundheit zuträglich: Fließband heißt Rhythmus, und Rhythmus ist dem gesamten Organismus eigen" (Ebd.).

Schluss

Messen wir die Wirtschaft nicht allein an ihrer Effizienz und an ihrer Ausbringungsmenge, sondern daran, wie sie Menschen erschöpft und verbraucht. Fragen wir, ob die wirtschaftlichen Leistungen diesen Preis wert sind. Sorgen wir dafür, dass der Raubbau an Gesundheit und die Auslaugung der Menschen in der Arbeit zu einem zentralen No-Go wird.

Akzeptieren wir keine gesellschaftliche Einrichtung des Wirtschaftens und des Arbeitens, die dieser not-wendigen Forderung nicht entspricht. Erweitern wir die Bilanzierung vom Bruttosozialprodukt zum Psychosozialprodukt. Schluss mit einer Wirtschaft, die um den Preis kranker und beschädigter Menschen gesundet.

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