Ausnahmezustand im Erdbebengebiet: Folter statt Hilfe?
Oppositionspartei wirft türkischer Polizei und Innenminister Gewaltexzesse im Katastrophengebiet vor. Auch zivile Lynchmobs hätten mitgemacht. UNO geht von bis zu 50.000 Erdbeben-Toten aus.
Mehr als eine Woche nach dem schweren Erdbeben im Südosten der Türkei und in Nordsyrien gibt es kaum noch Chancen, weitere Überlebende unter den Trümmern zu finden. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete am Sonntag bereits damit, dass sich die Zahl der Toten in beiden Ländern auf insgesamt 50.000 erhöhen würde. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu sprach am Dienstag von mehr als 31.600 Getöteten in der Türkei.
Ein Abgeordneter der kemalistischen Oppositionspartei CHP, der das Katastrophengebiet selbst besucht hatte, schätzte die Zahl der Opfer allerdings im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau wesentlich höher ein: Er geht von mindestens 280.000 Erdbeben-Toten aus.
Nach Angaben der linken, prokurdischen Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker), die in den betroffenen Gebieten viele Anhänger hat, bewahrheiten sich gerade die schlimmsten Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand, den die Regierung Recep Tayyip Erdogans vor wenigen Tagen verhängt hat.
Polizeibeamte und zivile Lynchmobs haben demnach Menschen gefoltert, denen Straftaten wie Diebstahl oder Plünderung vorgeworfen wurden. Dafür gebe es Belege in "sozialen Medien", teilte die HDP am Montag mit.
Ihre Menschenrechtskommission und Anwälte Partei hätten deshalb Strafanzeige erstattet – "gegen den Innenminister, den Gouverneur, die stellvertretenden Gouverneure, die Polizeichefs, die Beamten, die die Tat persönlich begangen und/oder daran teilgenommen haben", sowie weitere Beteiligte, die keine Staatsbediensteten seien.
Auf in den sozialen Medien verbreiteten Bildern ist zu sehen, dass Personen, bei denen es sich vermutlich um Strafverfolgungsbeamte und einige Zivilisten handelt, Menschen foltern, die angeblich Straftaten wie Diebstahl oder Plünderung begangen haben sollen.
Über dieselben Social-Media-Accounts, auf denen diese Beiträge gepostet wurden, sehen wir auch, dass diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit von anderen Menschen gelobt und sogar gewürdigt werden und dass zu diesen Verbrechen angestiftet wird.
Aus der Pressemitteilung der HDP vom Montag, dem 13. Februar 2023
Die HDP, der in der Türkei unter Erdogan seit Längerem ein Parteiverbot droht, hatte nach dem Erdbeben in der Nacht zum Montag vergangener Woche zunächst alle politische Aktivitäten eingestellt und Demonstrationen abgesagt, um humanitäre Hilfe zu organisieren.
Behinderung ziviler Rettungshilfe
Auf staatliche Hilfe für die vor allem kurdischen Verletzten und Betroffenen, von denen viele obdachlos geworden sind, war nach Berichten kurdischer Medien kein Verlass. Vielerorts seien erst nach 48 Stunden allmählich Einheiten der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad eingetroffen und hätten mit "punktuellen, hilflosen Rettungsversuchen" begonnen, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF.
"Währenddessen waren staatliche Kräfte damit beschäftigt, zivile Rettungsversuche zu behindern und zu unterbinden." Am Samstagabend seien in Adıyaman fünf freiwillige Rettungshelfer aus Diyarbakir festgenommen und auf der Polizeidirektion schwer misshandelt und anschließend nackt auf die Straße gesetzt worden. Eine Baufirma aus Van sei zudem an Bergungsarbeiten gehindert worden.
Hintergrund ist vermutlich, dass die AKP-MHP-Regierung in Ankara jede Form von Selbstorganisierung in den kurdischen Gebieten fürchtet – selbst zum Zweck der humanitären Hilfe, weil sie weiß, dass daran auch linke, prokurdische Organisationen beteiligt sind.