Außen- und Sicherheitspolitik der Russischen Föderation

Russland: Hoffen auf die "World of Equals" - Teil 3

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Der Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch beschreibt in drei Artikeln Eindrücke aus Moskau, die er bei der Teilnahme an der International Summer School (30.8.-6.9.2015) gewonnen hat. Diese stand unter dem Motto "The Russian Federation: Yesterday - Today - Tomorrow" (Die Russische Föderation gestern, heute und morgen). Das Besondere daran war die Möglichkeit, die Sicht russischer Experten kennenzulernen und so einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.

Seit 1992 sehen manche Russland, das die völkerrechtliche Nachfolge der UdSSR angetreten hat, in gewissem Sinne als Nachfolger des kommunistischen Riesenreichs. Zwar wurde die Sowjetunion mit 31. Dezember 1991 Teil der Geschichte, und auch die Nachfolgeorganisation, die GUS, verlor über die Jahre zunehmend an Bedeutung.

Inzwischen findet über die Eurasische Wirtschaftsunion eine kleine Renaissance statt, doch faktisch ist Russland heute weit weniger mächtig als in früheren Zeiten über seinen Einfluss innerhalb der UdSSR. Zugleich übernahm Moskau in manchen Bereichen tatsächlich das Erbe der Sowjetunion, und dies durchaus im Sinne der westlichen Welt. Neben der diplomatischen Kontinuität durch die russische Übernahme des sowjetischen Sitzes im UNO-Sicherheitsrat war und ist es insbesondere die Kontrolle der Atomwaffen, die eine zumindest außenpolitisch im Wesentlichen friedliche Transformation der UdSSR ermöglichte.

Dass dies letztlich nicht selbstverständlich war, bestätigt uns am letzten Tag Gennady Burbulis. Er war von 1991 bis 1992 Boris Jelzins stellvertretender Ministerpräsident und bei allen wichtigen Ereignissen auf dem Weg der UdSSR hin zur GUS als Akteur dabei. Als Staatssekretär der Russischen Föderation war er zudem maßgeblich an der Wandlung Russlands in den frühen 1990er Jahren beteiligt.

Dass es nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu größeren Krisen oder gar Zerfallskriegen ähnlich dem ehemaligen Jugoslawien gekommen ist, ist u.a. besonnen agierenden Politikern wie dem studierten Philosophen Burbulis zu verdanken. Zugleich lassen seine in epischer Breite dargelegten Gedankengänge aber auch erahnen, weshalb sich der medientauglichere Boris Jelzin und nicht er selbst an der Spitze des Staates wiederfand.

Angesprochen auf die Situation Russlands heute, vergisst Burblin denn auch nicht, mit mahnenden Worten auf die Bedeutung von Verhandlungen und Diplomatie hinzuweisen. Damit das Land wieder aus der aktuellen Sackgasse herausfinde, in die es durch die Entwicklungen in der Ukraine und auf der Krim geraten ist, müsse es kleine, pragmatische Schritte der Versöhnung mit dem Westen setzen. Das meint, ganz im Sinne Burbulis, auch Sergej Utkin. Der Mittvierziger ist Leiter der Abteilung für Strategische Planung am Zentrum für Situationsanalyse der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Und er überrascht uns doch mehr als gedacht, denn unter dem Titel "Außen- und Sicherheitspolitik Russlands" haben wir eher regierungsnahe denn Kreml-kritische Töne erwartet. Die differenzierte Analyse entspricht schlussendlich weit eher dem Vortrag eines Konfliktforschers denn eins geostrategischen Beraters. So geht Utkin nicht nur auf verschiedene Konflikte ein, sondern skizziert auch mögliche Lösungsansätze, die Vertrauenskrise insbesondere zwischen Russland und der EU zu überwinden.

Fatalismus im Kreml

Angesichts der aktuell durch den Ukraine-Konflikt belasteten Beziehungen scheint dies kein leichtes Unterfangen. Utkin gibt die militärische Unterstützung der ostukrainischen Separatisten unumwunden zu: "Die militärische Unterstützung der Rebellen in der Ostukraine ist ziemlich offensichtlich." Das habe u.a. damit zu tun, dass die russische Regierung einerseits nach wie vor daran festhalte, als Großmacht auf Augenhöhe insbesondere mit den USA zu verhandeln, und andererseits die Welt zugleich als Nullsummenspiel betrachte.

Angesichts der Konfrontationen mit dem Westen in den letzten Jahren habe sich im Kreml ein gewisser Fatalismus breit gemacht. Maßgebliche Entscheider glaubten offensichtlich nicht mehr daran, dass Interessensdivergenzen auch zu beidseitigem Vorteil als eine Win-win-Situation gelöst werden könnten. Trotzdem entspreche die Schwarz-Weiß-Logik, in welcher man den Westen darstelle, letztlich mehr der Propaganda für die russische Öffentlichkeit, die sich in der Opferrolle sieht.

Es habe zwischen 2008 und 2010 ein russisches Angebot für einen gemeinsamen Sicherheitsvertrag gegeben, den die NATO abgelehnt hatte. Insofern sei in der weiteren Entwicklung die westliche Reaktion auf die Krim-Krise keineswegs eine Überraschung gewesen: "Es war ziemlich logisch, eine harsche Antwort der EU auf die Verletzung internationalen Rechts zu erwarten." Trotz alledem drohe Russland die meiste Gefahr mittelfristig nicht von außen, sondern von innen, so Utkin, der vor einem ähnlichen Kollaps wie beim Ende der UdSSR warnt. Ein solcher sei zwar momentan noch nicht zu befürchten, könne aber mit dem voraussichtlichen Ende der Putin-Medwedew-Ära in acht bis neun Jahren bevorstehen.

Auf den Interessenskonflikt in Syrien, wo Russland auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge die offiziell gewählte Regierung unterstützt, während die USA auf einen Sturz des Assad-Regimes hinarbeiten, geht Utkin nicht ein. Im Allgemeinen vertritt der Stratege jedoch die liberale Position, wonach es hinsichtlich der Beziehungen mit dem Westen gelte, nicht bei gegenseitigen Beschuldigungen stehenzubleiben, sondern stattdessen durch pragmatische Entscheidungen schrittweise den Weg aus der Krise zu finden.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bleiben die ganze Woche über ein zentrales Thema. Insbesondere bei konservativen Referenten scheint dabei immer wieder durch, dass sich die Russische Föderation eine andere diplomatische Umgangsweise wünscht. So betont Andrey Shutow, der Dekan der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Lomonossow-Universität, immer wieder den Wunsch Russlands nach gleichwertiger Behandlung. Das Hauptziel der russischen Außenpolitik müsse es sein, eine "world of equals" zu schaffen, in welcher politischer Dialog und Interessenausgleich auf Augenhöhe stattfänden, so Shutow.

Selbstdarsteller Schirinowski

Einer, mit dem es diesen Dialog unter Gleichen von russischer Seite aus wohl nicht geben würde, käme er an die Macht, ist der Parteivorsitzende der liberal-demokratischen Partei Russlands: In gewohnt aggressiver Manier erklärt uns Wladimir Wolfowitsch Schirinowski bei unserem Besuch in der Staatsduma, dass Russland zu alter (militärischer Stärke) zurückkehren müsse.

Schirinowski war in den 1990er Jahren für viele der in Europa gefürchtetste russische Politiker. Die Bild-Zeitung verpasste ihm seinerzeit den Beinamen "Russen-Hitler". Nachdem sowohl Michail Gorbatschow (viele erinnern sich noch an die "Gorbi, Gorbi"-Rufe) als auch sein De-facto-Nachfolger im Kreml, Boris Jelzin, im Westen für einen russischen Politiker ungewohnt wohlwollend dargestellt wurden, füllte Schirinowski schließlich die entstandene Lücke mit Bravour.

Seine nationalistischen und militaristischen Äußerungen passten hervorragend in das westliche und insbesondere deutsche Bild, das von russischen Herrschern in Massenmedien gerne gezeichnet wird. Iwan der Schreckliche, Josef Stalin, Leonid Breschnew - die "Finsterlinge" aus dem "Reich des Bösen". Bemerkenswert ist dabei, dass das Bedürfnis nach einem russischen Feindbild doch insgesamt stärker zu sein scheint als die Berücksichtigung der Fakten. So verschwand Schirinowksi in den letzten Jahren aus dem Fokus deutscher Medien in dem Ausmaß, in dem Wladimir Putin zum neuen Bösewicht aufstieg - ein Image, das dem russischen Präsidenten übrigens keineswegs von Beginn seiner Amtszeit anhaftete.

Schirinowski, inzwischen fast 70 Jahre alt, ist jedenfalls in seiner Rhetorik kein bisschen leise geworden. Patriarchalisch doziert er von seinem Stuhl aus und erklärt uns ausländischen Besuchern, wie Russland zurück zu alter Stärke finde. Seine Darbietung, die unseren Übersetzer immer wieder zum Schmunzeln bringt, ist allerdings nicht für alle gleich unterhaltsam: Als er zum Thema Ukraine meint, Russland müsse diese einfach als Ganze besetzen und wieder in das eigene Herrschaftsgebilde eingliedern, wird eine junge Deutsch-Ukrainerin unter den Zuhörern kurzfristig ziemlich blass. Schirinowski und dessen radikale Ansichten seien ihr bis dato unbekannt gewesen, räumt sie nachher ein. Unser Reiseleiter und Dolmetscher Alexander Dubowy vom Zentrum für Eurasische Studien an der Uni Wien beruhigt sie aber gleich wieder. Schirinowski werde inzwischen in Russland (und auch außerhalb) von kaum jemandem mehr ernst genommen. Dass er dennoch einen aufhetzenden Einfluss auf die russische Gesellschaft besitzt - bei der Duma-Wahl 2011 erreichte seine Partei immerhin 56 von 450 Sitzen (12,4%) -, ist jedoch ebenso eine Tatsache.

Bevor wir die Duma wieder verlassen, lässt Schirinowsky aber erst noch Geschenke verteilen: Neben Baseball-Caps und Ansteck-Buttons mit dem Schriftzug der Liberaldemokratischen Partei erhält jeder von uns noch einen Stadtplan Moskaus und das Parteiprogramm auf Englisch. Zum Abschluss bekommt jede Teilnehmergruppe (Chinesen, Japaner, Österreicher) noch eine Flasche Wodka der Eigenmarke "Schirinowski". Auch die "Muselmanen", wie Schirinowski die Teilnehmer der Universität Teheran nennt, werden damit beschenkt.

Den Höhepunkt dieser Souvenirs stellen aber die beigefügten Tonträger dar: Auf einer Doppel-DVD und einer Doppel-CD ist der Parteiführer persönlich beim Musizieren zu hören, untermalt von Chören, welche seine Herrlichkeit ("Oh Schirinowski, Schirinowski") besingen. Der Politiker als Entertainer - man denkt unweigerlich an den Gedichte schreibenden Radovan Karadzic, an den Saxophon spielenden Bill Clinton oder an den Möchtegern-Barden Silvio Berlusconi, der sich noch in jüngster Vergangenheit gerne politisch besingen ließ ("Meno male che Silvio c'è" - "Zum Glück gibt es Silvio").

Ein Vergleich mit Kaiser Nero, der im Alten Rom mit den größten Künstlern seiner Zeit wetteiferte, bietet sich hingegen weniger bei Schirinowski als vielmehr im Außenministerium der Russischen Föderation an. Es sei eine alte Tradition, sagt uns unser freundlicher pensionierter Führer dort, dass Diplomaten stets auch Gedichte verfasst hätten.

Als Beleg nennt er keinen Geringeren als den russischen Nationaldichter und Begründer der modernen russischen Literatur Alexander Sergejewitsch Puschkin, der in jungen Jahren eine Zeit lang als Diplomat im Petersburger Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten angestellt war. Suggeriert wird, man könne damit den derzeitigen Außenminister Sergej Lawrow, der selbst Gedichte verfasst, in dieser Tradition sehen - ein Gedanke, der vor allem auf die Studenten und Absolventen der Russischen Literatur in unserer Gruppe eher belustigend wirkt.

Abseits literarischer Erheiterung wird im Außenministerium jedoch rasch klar, dass die politisch-historischen Konstanten und Kontinuitäten (Sergei Lawrow ist seit 2004 Außenminister, er war in den 1990ern schon stellvertretender Außenminister) relativ weit zurückreichen. In diesem Zusammenhang ist auch das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg sehr lebendig, gerade angesichts des 70. Jahrestags des Kriegsendes. Das herrschende Narrativ dazu ist nach wie vor jenes des Verteidigungskrieges, kritische Töne zur Rolle der eigenen Seite - inzwischen auch von russischen Historikern aufgearbeitet - finden sich nicht.

Folgen der Sanktionen

Bisher hat uns Alexander Dubowy, der Organisator unserer Reise, schon in die Zentrale Wahlkommission, in die Duma und ins Außenministerium gebracht. Am vorletzten Tag hat er noch einen Besuch für uns in der österreichischen Botschaft in Moskau geplant. Dort erläutert uns der Handelsdelegierte Dietmar Fellner die Auswirkungen der Sanktionen und Gegensanktionen auf die österreichisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen.

Fellner ist ein ausgewiesener Fachmann, er ist seit mehreren Jahrzehnten für den österreichischen Außenhandel insbesondere mit Russland zuständig. Auch wenn die Handelsbilanz aktuell um mehr als ein Drittel geschrumpft sei, gebe es nach wie vor Investitionsmöglichkeiten für Österreich in Russland und umgekehrt. Am stärksten treffe Russland aber, dass seine Banken inzwischen vom internationalen Finanzmarkt abgeschnitten sind. Gleichzeitig wirke sich aber auch der niedrige Energiepreis am Weltmarkt, der den Verfall des Rubels befördert, verheerend auf die Wirtschaft aus.

Neben einer eher zaghaften und von Schwierigkeiten überschatteten Hinwendung zum asiatischen und vor allem chinesischen Markt (Fellner: "Die Chinesen haben Putin aber gezeigt, dass sie das Gas nur zu ihren Konditionen kaufen") investiere Russland nun stärker in die eigenen Betriebe. Und auch wenn dies aufgrund der fehlenden Kredite erst schleppend anlaufe, so müsse man aus westlicher Sicht doch aufpassen, dass man mittelfristig nicht noch mehr Marktanteile verliere.

Fellner hält die Sanktionspolitik, die im Übrigen ein Mittel der Kriegsführung ist, wenig überraschend für einen großen Fehler. Anstatt Sanktionen auszuarbeiten, sollten Diplomaten sich wieder stärker auf ihre Kernaufgabe besinnen und nach diplomatischen Lösungen suchen, meint der Wirtschaftsfachmann stattdessen. Fehler verortet er aber auch bei deutschen und österreichischen Wirtschaftstreibenden, die sich gegenüber den Politikern zu wenig entschieden gegen Sanktionen gewehrt hätten. Allerdings habe der Abschuss der MH17 im Sommer 2014 es den Sanktionsgegnern letztlich nahezu unmöglich gemacht, ihre Position noch aufrecht zu erhalten.

Überraschende Heterogenität der Meinungen

Am Sonntag, 6. September, fliege ich nach einer Woche intensiven Gedankenaustauschs mit zahlreichen Eindrücken beladen zurück nach Zürich. Welches Fazit bleibt? Alexander Dubowy vom Institut für Eurasische Studien der Universität Wien hatte als Organisator einen Blick hinter die Kulissen versprochen, und er hat Wort gehalten: Wir haben Einsichten in die politische Struktur der Russischen Föderation erhalten, die einem als Tourist ohne entsprechenden Zugang verwehrt blieben.

Inhaltlich am meisten überrascht bin ich von der Heterogenität der Meinungen an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Staatlichen Lomonossow-Universität. Von außen hat es manchmal nämlich den Anschein, als ob die russische Gesellschaft viel geschlossener und in der Einschätzung bestimmter politischer Ereignisse einiger sei.

Im Flugzeug der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot tausche ich meine Ansichten noch mit einer jungen Russin aus, die seit kurzem in der Schweiz studiert. In Erinnerung bleibt mir ihre Einschätzung, weshalb die Abstimmung auf der Krim mit so überwältigender Mehrheit für Russland ausgefallen sei: Angesichts des im Schnitt rund zweieinhalb mal höheren Pro-Kopf-Einkommens in Russland hätten die meisten Menschen auf der Krim schlicht ökonomischen Wünschen den Vorrang gegeben.

Ob das stimmt? Oder ob es am Ende doch der im Westen oft kritisierte Nationalismus ist, dem ich in Moskau ja durchaus auch begegnet bin? Zu guter Letzt muss ich mir eingestehen, dass Winston Churchill doch Recht hatte, als er sagte, Russland sei ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium.