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Seite 2: Rationales Herdenverhalten der Personaler und Falle Arbeitslosigkeit
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Setzen wir die neoliberale Brille wieder ab, dann stellt sich die Frage: Finden sie wirklich keine oder suchen sie erst gar nicht unter den Arbeitslosen? Die erwähnte IAB-Studie lässt eher Letzteres vermuten. Ein Blick in die USA erhärtet den Verdacht. "The Jobless Trap", eine 2013 von dem Ökonomen Rand Ghayad veröffentlichte experimentelle Studie, entfachte dort eine breite öffentliche Debatte.
Ghayad verschickte 4.800 computergenerierte Bewerbungsschreiben auf 600 Stellenanzeigen aus den verschiedensten Branchen quer durchs Land. Die fiktiven Lebensläufe bezogen sich alle auf Männer mit gleicher Qualifikation und mit Namen, die keine Rückschlüsse auf die ethnische Zugehörigkeit zuließen. Auf dieser Grundlage variierte Ghayad Daten zur Dauer der Arbeitslosigkeit, zur Berufserfahrung und zur Häufigkeit von Jobwechseln. In der Gesamtbetrachtung erhielten 10,3 Prozent der aktuell Beschäftigten eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch und 7,2 Prozent der Arbeitslosen.
Diese Differenz wirkt noch nicht besonders dramatisch. Nach siebenmonatiger Arbeitslosigkeit sank der Wert jedoch rapide auf rund drei Prozent und nach zehn Monaten auf etwa ein Prozent. Jobhopping und geringe Berufserfahrung bewerten zwar auch amerikanische Personaler negativ, auf die Einstellungschancen wirkt sich aber beides in deutlich geringerem Maße aus als die Dauer der Arbeitslosigkeit. Daher ist davon auszugehen, dass die inzwischen auch in den USA verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit nicht strukturell zu erklären ist.
Einen Mismatch gab es, wie Ghayad an anderer Stelle bemerkt hat, in den 1970er Jahren. Damals wie heute wuchs die Zahl der offenen Stellen, ohne dass die Zahl der Arbeitslosen zurückging. Der Unterschied: In den Siebzigern waren vor allem Industriearbeiter betroffen, für die es in Folge der Deindustrialisierung nicht mehr genügend Jobs gab. Die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit spielte kaum eine Rolle. Heute haben vor allem Langzeitarbeitslose Probleme, wieder eine Anstellung zu finden, unabhängig von Qualifikation und Berufsfeld. Arbeitslose bleiben arbeitslos, weil sie arbeitslos sind. Sie stecken in der Falle.
Inwiefern lassen sich diese Befunde auf Deutschland übertragen? Leider ist mit den offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) wenig anzufangen. Danach gibt es derzeit etwas mehr als eine Million Langzeitarbeitslose. Ihre Zahl stagniert seit etwa drei Jahren. Zuvor, in den ersten Jahren nach der Einführung von Hartz IV, ging die von der BA vermeldete Zahl der Langzeitarbeitslosen wundersamerweise stärker zurück als die der Kurzzeitarbeitslosen. Wurden Langzeitarbeitslose also zeitweise sogar bevorzugt eingestellt? Nicht wirklich, doch wird ihre Zahl seit 2005 verstärkt kleingerechnet.
Von den offiziell vermeldeten "Abgängen" entfällt nur ein verschwindend kleiner Anteil (ALG II: Juhu, ein Fünftel schafft den Ausstieg. Oder doch nur 1%?) auf die Aufnahme einer dauerhaften und existenzsichernden Erwerbstätigkeit. Auch dies spricht dafür, dass die Diskriminierung von Langzeitarbeitslosen in Deutschland kaum geringer ausfallen dürfte als in den USA. Selbst wenn jene 33 Prozent der Unternehmen hierzulande, die angaben, auch Bewerbungen von Langzeitarbeitslosen zu berücksichtigen, wahrheitsgemäß geantwortet haben, ist damit noch nicht gesagt, ob sie im Zweifel nicht doch eine weniger qualifizierte Person bevorzugen, die sich aus einer Anstellung heraus bewirbt.
"Rationales Herdenverhalten"
Es wäre ohnehin sehr verwunderlich, wenn ausgerechnet in Deutschland Langzeitarbeitslose nicht diskriminiert würden. Denn es handelt sich hierbei um ein universelles Phänomen, das sich mit spieltheoretischen Modellen beschreiben lässt. Die Berliner Ökonomin Dorothea Kübler hat so ein Modell entworfen. Danach neigen Personaler dazu, sich bei Stellenbesetzungen an den Urteilen ihrer Vorgänger zu orientieren. Wenn eine Person schon längere Zeit arbeitslos ist, dann waren andere Betriebe offenbar nicht bereit, sie einzustellen. Daraus lässt sich zwanglos folgern, dass irgendetwas mit dieser Person nicht stimmt.
Ökonomen nennen das "rationales Herdenverhalten". Rational ist es nur aus der Sicht des einzelnen Unternehmens, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die betreffende Person weniger produktiv als andere ist, liegt unter solchen Umständen tatsächlich etwas höher als 50 Prozent. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es irrational, denn so werden auf der einen Seite Talente vergeudet und auf der anderen Seite überschätzte Arbeitskräfte in höhere Positionen gehievt. Rationales Herdenverhalten funktioniert in beide Richtungen. Wer einen guten Einstieg ins Berufsleben findet, egal ob durch eigene Leistung, Glück oder Beziehungen, dem vertrauen künftige Arbeitgeber stärker. Doch dieser Vertrauensvorschuss schmilzt bei längerer Arbeitslosigkeit ebenso schnell wieder dahin.
Deutsche Personaler lieben bekanntlich lückenlose und geradlinige Lebensläufe. Wer das Pech hat, in einem Berufsfeld mit großem Arbeitskräfteüberhang tätig gewesen zu sein, hat daher kaum Chancen zur beruflichen Neuorientierung. Anders ist das in Ländern, in denen viele Jobs keine oder nur eine kurze Ausbildung erfordern. "Berufsbiographien, in denen sich beispielsweise Finanzberater bei der Bank, Reiseführer und Fahrradverkäufer nahtlos aneinander reihen, sind eher typisch amerikanisch als deutsch", schreibt Kübler. Hinzu kommt noch der in den USA praktisch nicht existente Kündigungsschutz.
Die Chancen von Langzeitarbeitslosen dürften also in Deutschland, aller Zahlenkosmetik zum Trotz, eher noch geringer sein als in den USA. Doch warum interessiert das hierzulande kaum jemanden? Diese Frage lässt sich mit einer anderen Frage beantworten: Warum sollten Unternehmen Arbeitslosen gegenüber aufgeschlossen sein, wenn sie tagtäglich von Politikern und sogenannten Wirtschaftsexperten zu hören bekommen, dass die Ursachen der Arbeitslosigkeit allein in den Defiziten der Arbeitslosen zu suchen sind? Solange in den Medien Begriffe wie Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger, sozial Schwache, Geringqualifizierte und bildungsferne Schicht munter durcheinandergerührt werden, wäre es da nicht geradezu ein Wunder, wenn Langzeitarbeitslose bei Stellenbesetzungen nicht diskriminiert würden?