"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"

Warum sich Joseph Ratzinger angesichts des sinkenden Kirchenschiffs kaum aus der Affäre ziehen kann

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Als Frauen- und Männerpaare in Europa endlich Rechtssicherheit beim Eingehen fester Partnerschaftsformen erlangt hatten, sprach Kardinal Joseph Ratzinger wiederholt – mit großer Theatralik – von einem "Austritt aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit" und einer gravierenden "Auflösung des Menschenbildes". Warum eine zärtliche Partnerschaft von erwachsenen Menschen gleichen Geschlechts das Tor zur Hölle eröffnen soll, kann das kirchliche Lehramt bis heute freilich nicht plausibel erläutern. Erklärungen bleibt der Vatikan auch schuldig mit Blick auf die Schande der sexualisierten Priestergewalt an Kindern und Heranwachsenden. Es handelt sich hierbei durchaus um kein "modernes" Phänomen. Bei einer Fixierung auf die USA, Irland und – aktuell – auf den deutschsprachigen Raum werden die Enthüllungen kaum stehen bleiben.

Papst Benedikt XVI. Bild: Dongio. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Joseph Ratzinger ist als oberster Glaubenswächter und hernach als Papst verantwortlich für den restaurativen Kurs des Römischen Kirchenschiffs, das sich derzeit mächtig im Sinken befindet. Zur bisherigen Bilanz seines Pontifikates gehören u.a. erneute Attacken gegen die Kirchen der Reformation und die lateinamerikanische Kirche der Armen, die Rehabilitierung der judenfeindlichen und dem letzten Konzil widersprechenden Tridentinischen Liturgie, der Skandal der Regensburger "Islam-Vorlesung", ein neuer Eurozentrismus und Zentralismus der lateinischen Kirche, die von einem renommierten katholischen Sozialwissenschaftler als "Schrottpapier" titulierte Sozialenzyklika, ein durch die Blume ausgesprochener Häresieverdacht1 gegen den großen Konzilstheologen Karl Rahner (1904-1984), ein spektakulär angekündigtes Papstbuch, das in Wirklichkeit die meisten Leser langweilt und viele Brücken zur Aufklärung hin wieder abreißt, ein verantwortungsloses Kondomvotum mit Blick auf den von AIDS heimgesuchten afrikanischen Kontinent, Rückwärtsgänge bezogen auf die interreligiösen und pazifistischen Verdienste seines unmittelbaren Vorgängers, der drohende Supergau einer Seligsprechung ausgerechnet von Papst Pius XII. sowie die Öffnung der Kirchentore für rechtsradikale Traditionalistenkreise …

Die Skandale um Sexualität und Priesteramt werden wohl die nachhaltigste Krise dieses Pontifikates bewirken, denn hier zeichnet sich erstmals ein durchgreifender Widerspruch aus dem bürgerlichen Kirchenvolk ab, der auch bislang unverdächtige Kirchengetreue erfasst. Auf der Beliebtheitsskala macht der Pontifex einen Sturzflug nach unten. Ratlose und depressive Theologen wissen in diesen Tagen kaum, wie sie angesichts all der abscheulichen Grabbeigaben des Karfreitags eine fröhliche Osterpredigt zuwege bringen sollen. Äußerungen der besonders romtreuen Bischöfe rufen bei den Opfern sexualisierter Gewalt, aber auch bei vielen Gläubigen Empörung hervor. Endlos ist die Geduld, mit der man unten Autismus und Unbeweglichkeit des römischen Systems zu tragen gewillt ist, wohl kaum.

"Die anderen sind noch viel schlimmer"

Zu Beginn der Debatte war von Kirchenverteidigern – darunter Bischof Mixa – zu hören, dass die Kleriker-Skandale ja nur einen Bruchteil der pädosexuellen Verbrechen insgesamt ausmachten (vgl. auch den FR-Bericht Bischof Mixa soll geprügelt haben). Nun man wird schwerlich in Abrede stellen können, dass mit einer sehr hohen Dunkelziffer in Familienumfeldern, Pflege-, Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen, Jugendarbeit und anderen gesellschaftlichen Bereichen zur rechnen ist. Doch war jemals zu beobachten, dass sich die Kirche bezüglich einer Sensibilisierung für diesen Schatten der Gesellschaft besonders profiliert hätte? Und sollte, wer das Balkenwort Jesu über das Zeigen auf andere kennt, so an das Thema herangehen?

Papst Benedikt XVI. Bild: Wikimdia. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Kirchentreue Rechenkünstler versuchten im gleichen Atemzug auch, den ganzen Komplex mit Prozentzahlen klein zu reden. Dazu bemerkt Hans Küng, der Altmeister des Reformkatholizismus:

Die katholische Kirche der USA zahlte im Jahre 2006 die Summe von 1,3 Milliarden Dollar, in Irland vereinbarte die Regierung 2009 mit kirchlichen Orden einen Entschädigungsfonds von ruinösen 2,1 Milliarden Euro. Diese Summen sagen mehr als der abwiegelnd in die Diskussion eingebrachte statistische Anteil zölibatärer Täter an der Gesamtheit der Sexualtäter!

Hans Küng

Und soll etwa der häufiger zu hörende Hinweis auf den ephebophilen Hintergrund vieler Fälle eine Entschuldigung sein? Auch nach der – wirklich überreifen – Reform des Sexualstrafrechts sind Sechszehnjährige für einen Seelsorger weiterhin Schutzbefohlene und nicht potentielle Liebespartner.

Doch man muss viel früher – beim Alltagsbewusstsein – ansetzen. Im Witze-Kanon des so genannten Volksmundes gehören Priester, die sich an kleine Jungen heranmachen, zum festen Inventar. Die Messdiener erhalten etwa abgestufte Belohnungen für besondere "Dienstleistungen", und bei der Beichtstuhlvertretung muss sich der evangelische Kollege über die entsprechenden Gepflogenheiten erst von Ministranten aufklären lassen. Aus Sicht der Opfer ist das alles andere als lustig.

In Ulla Hahns Roman "Das geheime Wort" müssen die Kniekehlen eines weiblichen Beichtkindes gleichsam im Vorübergehen zur Triebabfuhr eines Klerikers herhalten. Bei diesem Buch handelt es sich um das wohl bedeutsamste literarische Zeugnis über das katholische Milieu im Deutschland der Nachkriegszeit.

Pedro Almodóvar, dessen Werk mit dem Franco-Katholizismus abrechnet und dabei doch überall hoch katholisch bleibt, hat sich seinen Film "La mala educación" wohl kaum aus den Fingern gesogen. Kultur und Leutemund legen Zeugnis ab über unser Thema, und das nicht erst seit gestern. Schließlich kann man schon mit im Internet eingestellten Dokumentationen Tage verbringen.

Schuld sind die "neuen Nazis"

Josef Clemens, bis zu seiner Bischofsernennung 2003 neunzehn Jahre lang Privatsekretär des Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger, wusste es schon vor Jahren. 2007 klagte er der Wiener Zeitung zufolge, die Kirchen-Ressorts in den Medien würden sich oft nur noch als "Amtskirchen-Kritik-Abteilung" verstehen. Man sei in Europa einem zunehmend feindlichen Umfeld ausgeliefert. Und so erscheint gegenwärtig vor allem im rechten katholischen Spektrum die Kirche als das eigentliche Opfer, das ans Kreuz geschlagen wird von einer frechen Justizministerin mit weltlichem Rechtsempfinden und einer gehässigen Journalistenmeute.

Kardinal Joseph Ratzinger (2005)

Verschwörung und Kampagne, dergleichen sahen Vatikankreise und Papst ja auch nach dem Skandal um Traditionalisten und den Holocaustleugner Williamson am Werk. Die katholische Sozialwissenschaftlerin Marianne Heimbach-Steins, bezeichnet solche Versuche, "den Feuermelder [Medien] zum Brandstifter zu machen", als demagogisch.

Den Gipfel der Verschwörungstheorien hat vorerst der Regensburger Bischof und Papstfreund Dr. Gerhard Müller geliefert. Er sprach von einer "Kirchen-Kampagne" und weckte Assoziationen zur Anti-Kirchen-Propaganda der Nazis unter Goebbels. Dazu gehört schon einiges an Dreistigkeit. Denn einige römisch-katholische Theologen haben im Faschismus ihre Kirche aufgrund der Gehorsamstrukturen wie einen natürlichen Partner des nationalsozialistischen Staates angepriesen. Genau diese Strukturen gehören zum Nährboden der Priestergewalt an Schwächeren und der kirchlichen Vertuschungsmechanismen.

Im Übrigen hat die Kirche auch jenen Klerikern, die aufgrund einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Erwachsenen im KZ landeten, nicht beigestanden. Man sah sie wohl als gerecht bestraft an. Das katholische Adenauer-Regime setzte den Terror des Paragraphen 175 in Form von Zuchthausstrafen fort.

Schuld ist die "sexuelle Revolution"

Zuvor nun hatte schon der Augsburger Bischof Walter Mixa die böse Moderne als eigentlichen Übeltäter ausgemacht:

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist leider ein verbreitetes gesellschaftliches Übel […]. Die so genannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in den Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit erlebt, die auch abnorme sexuelle Neigungen eher fördert als begrenzt.

Walter Mixa

In diesem Votum werden die wahren Sachverhalte förmlich auf den Kopf gestellt. Pädosexuelle Schutzkreise wie in der reformpädagogischen Odenwald-Schule können hier durchaus nicht als Beleg angeführt werden. Denn im Raum der römisch-katholischen Kirche ist die sexualisierte Gewalt fast immer im Kontext einer Unterdrückung und Tabuisierung des Sexuellen angesiedelt, der Bewusstheit und Reifungsprozesse verhindert. Überall, wo in Institutionen mit Machtgefälle oder unvermeidlich intimen Vorgängen – wie z.B. im Gesundheitswesen – ein unverkrampftes, offenes Klima in den Teams herrscht, kann Grenzüberschreitungen vorgebeugt werden.

Der Arzt in Ausbildung, der bei der Sonographie einer attraktiven Frau ungewollt erregt wird, wird auf der Grundlage einer guten Ausbildung nebst Supervision und mit guter kollegialer Einbindung am besten davor bewahrt, eine Patientin zum Objekt zu machen. Angstfreiheit und offener zwischenmenschlicher Austausch sind die Heilmittel. An dieser Stelle, so werden wir noch sehen, trägt die "Ära Ratzinger" große Verantwortung dafür, dass es in den letzten Jahrzehnten keine wirkungsvolle Ursachenbekämpfung im Raum der Kirche gab.

Dort, wo der von rechten Bischöfen viel gescholtene Bund der katholischen Jugend (BDKJ) Jungen und Mädchen mit einer offenen Sexualpädagogik stärkt, gibt es auch weniger potentielle Opfer, die sich nicht zur Wehr setzen können. Kardinal Lehmann hat während des Kölner Papstbesuches 2005 in aller wünschenswerten Offenheit dargelegt, dass die Sexuallehre von oben bei den Jungen in der Kirche schon lange nicht mehr gehört wird und dies doch wohl Anlass gibt, die Inhalte der offiziellen Doktrin auf ihre Verstehbarkeit hin zu befragen. Diese kompetente Stellungnahme verpuffte im Nichts.

Schuld ist das letzte Konzil

Die innerkirchliche Variante des zuletzt beschriebenen Votums lautet: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), das seit der Ära Ratzinger ohnehin an allem und jedem die Schuld trägt, hat der Schande Tür und Tor geöffnet. Wer genau liest, findet dergleichen z.B. im jüngsten Hirtenschreiben des Papstes an die Katholiken Irlands:

Das Programm der Erneuerung, dass das Zweite Vatikanische Konzil vorgelegt hat, wurde häufig falsch gelesen; im Licht des tiefen sozialen Wandels war es schwer, die richtigen Weisen der Umsetzung zu finden. Es gab im Besonderen die wohlmeinende aber fehlgeleitete Tendenz, Strafen für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden. In diesem Gesamtkontext müssen wir das verstörende Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu verstehen versuchen, das nicht wenig zur Schwächung des Glaubens und dem Verlust des Respekts vor der Kirche und ihre Lehren beigetragen hat.

Auch in diesen schier unglaublichen Ausführungen werden die wahren Sachverhalte wieder ins genaue Gegenteil verdreht. Die lange Kette der vatikanischen Geheimhaltungspolitik bezogen auf die sexualisierte Klerikergewalt an Schutzbefohlenen führt geradewegs hin zu einem der größten Konzilsfeinde in der Kurie, dem Kardinal Ottaviani. Es zeichnete gerade den ultramontanen, vorkonziliaren Katholizismus aus, dass er über ein flächendeckendes autoritäres Erziehungswesen Kontrolle über den Nachwuchs in katholischen Gesellschaften ausübte.

Papst Benedikt XVI. Bild: Stef Mec. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Auf dieser Grundlage gab es im katholischen Irland einen regelrechten Apparat der Gewaltausübung, der sich systematisch gerade gegen die Ärmsten und Wehrlosesten richtete. Zwischen 1904 bis 2000 sollen – unter Berücksichtigung sadistischer Züchtigungen – über 300.000 Kinder Opfer dieses Systems geworden sein. Der alles andere als liberale irische Katholizismus sorgte auch dafür, dass bei der Vergewaltigung von Mädchen z.B. nicht die Täter, sondern die Opfer hinter Schloss und Riegel (eines "Erziehungsheims") kamen. Bei alldem eine Rezeption des II. Vatikanums anzuführen, ist absurd und geradezu boshaft.

Soviel ist gewiss: Ohne das letzte Konzil gäbe es auch bei uns die kritischen Stimmen im Zentralkomitee der Katholiken, in der Kirche von unten oder in der Bewegung Wir sind Kirche nicht, die seit langem bezogen auf die Sexualkriminalität von Priestern unabhängige Untersuchung, Aufklärung und Ursachenbekämpfung fordern.

Noch aus einem anderen Grund ist der entlastende Verweis auf das böse Reformkonzil perfide. Involviert sind nämlich gerade die reaktionärsten Kreise der Kirche. Nachdem das Gespann Woitlya/Ratzinger in Lateinamerika durch den Kampf gegen die Kirche der Armen und die Befreiungstheologie (Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen) den Boden für ein explosives Wachstum der Neuevangelikalen bereitet hatte, sollten die Legionäre Christi das Terrain zurückerobern. Diese Ordensmiliz, die man in Lateinamerika ob ihres immensen Reichtums "Millionäre Christi" nennt und der man gewiss keine besondere Liebe zum II. Vatikanum nachsagen kann, wurde unter Johannes Paul II. auf jegliche erdenkliche Weise gefördert und setzt unter Benedikt XVI. ihre Eroberungen in der römischen Zentrale erfolgreich fort.2

Der Mexikaner Marcial Maciel, Gründer dieser Vorhut des neuen rückwärts gewandten Katholizismus, war ein gewissenloser bisexueller Priester, der sich ausgiebig als Kinderschänder betätigt hat. Auch an dieser Stelle kommt die Pädosexualität keineswegs aus der konzilstreuen Ecke.

Schließlich fragt man sich mit Blick auf den rechtskatholischen Maria-Goretti-Komplex, mit welchen Vorlieben oder Reifegraden der als Obsession betriebene Kult um "unschuldige Kinderheilige" und reine Kommunionkindchen einhergeht.

Große Milde unter zweierlei Maßstäben

In Folge der mittelalterlichen Zwei-Stände-Lehre, die aus weltlichem Machtbegehren entstanden ist und vom letzten Konzil in Frage gestellt wurde, herrscht in der Kirche noch immer eine ausgesprochene Zweiklassenmoral für Kleriker und so genannte Laien. Da Außenstehende dieses Phänomen aufgrund seiner Ungeheuerlichkeit kaum glauben können, sei es hier zumindest illustriert.

Katholiken, die nach einer von ihnen durchaus nicht immer gewollten Scheidung wieder heiraten, sind von den Sakramenten ausgeschlossen (wer dies richtig findet, kann auf der Karriereleiter bis hin zum Privatsekretär des derzeitigen Papstes aufsteigen). Ein Priester aber braucht – wie in sehr, sehr vielen der bekannt werdenden Fälle – nach sexualisierter Gewalttat gegen Kinder nur zu bereuen und darf dann – nach der Versetzung in ein neues Umfeld – wieder alle Sakramente spenden und genießen. Man kann wohl kaum in Abrede stellen, dass hier große Milde und Hartherzigkeit unter zweierlei Maßstäben walten.

Ein "Laie", der ohne Doppelleben eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingeht und sein glückliches Sexualleben beharrlich nicht als Sünde bekennt, ist faktisch von der Kommunion ausgeschlossen. Ein Priester, der in gleichgeschlechtliche "Unkeuschheiten" verfällt, diese aber beichtet und im Einklang mit dem obersten Lehramt als Sünden bezeichnet, unterliegt diesbezüglich keinerlei Einschränkungen.

Schließlich gibt es aber auch bei der Bestrafung von Priestern höchst unterschiedliche Maßstäbe, je nachdem, wie nah die Grundfesten des römischen Klerikersystems tangiert werden. Ein römisch-katholischer Priester, der auf dem kommenden Kirchentag in München einen Protestanten bewusst zur Kommunion zulassen würde, verlöre sofort sein Amt. Nicht so beim pädosexuellen Kleriker. Der suspendierte Priester Gotthold Hasenhüttl hat deshalb den Eindruck bekommen, "dass es weniger schlimm ist, den Holocaust zu leugnen oder Kinder zu missbrauchen, als den evangelischen Christen die Kommunion zu reichen. Dafür wird man suspendiert."3

Die persönliche Verantwortung des Papstes

Die persönliche Mitverantwortung des derzeitigen Papstes, auf die z.B. Hans Küng und Uta Ranke-Heinemann mit detaillierten Nachweisen aufmerksam gemacht haben, lässt sich kaum klein reden.

Papst Benedikt XVI. Bild: Stef Mec. Lizenz: CC-BY-SA-2.5

Aus seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising trägt Joseph Ratzinger die oberste Bistumsverantwortung für einen geradezu klassischen Skandalfall, bei dem ein Priester seiner Sexualkriminalität unverdrossen an neuer Seelsorgestelle nachgehen konnte. Als Präfekt der Glaubenskongregation ist er seit langem – an hauptverantwortlicher Stelle – beteiligt gewesen am System der mit Strafandrohungen betriebenen päpstlichen Geheimpolitik (die sehr oft nicht erfolgte Einschaltung der weltlichen Justiz gehörte im Grunde mit zum System der kirchlichen Abschottung, in dem man die Opfer zu Stillschweigen, Gebet und Vergebung aufforderte).

Anlässlich der Aufhebung eines örtlichen Kirchengerichtsspruches durch Rom stellt sich die Frage, ob nicht der Zentralismus der Wojty?a/Ratzinger-Ära durch Missachtung der bischöflichen Kollegialität und des ansonsten geltenden katholischen Subsidiaritätsprinzips für Basisebenen alles noch schlimmer gemacht hat, als es ohnehin war. Mit einiger Berechtigung zweifelt Uta Ranke-Heinemann am Bild reumütiger Ortsbischöfe, die dem Papstthron auf wundersame Weise zu einem Glanz der Unschuld verhelfen.

Haben der Papst und sein Bruder von Skandalen bei den Regensburger Domspatzen wirklich nichts gewusst? Durch das Eingeständnis strenger Züchtigung von Chorknaben durch Georg Ratzinger stellt sich zumindest die Frage, aus was für einem autoritären Milieu der familiäre Ratzinger-Katholizismus möglicher Weise erwachsen ist.

Was auch immer bezogen auf die persönliche Verantwortung des Papstes an Details bekannt werden mag, noch zentraler ist die Frage, ob nicht der seit Jahrzehnten erfolgreiche Kirchenkurs Ratzingers insgesamt zur Verstärkung der Ursachen des Übels beigetragen hat.

Wo bleibt die theologische Betrachtung?

Im Papstschreiben nach Irland konzentriert sich die theologische Blickrichtung auf die Besudelung des Priesterstandes. An die Täter gerichtet, heißt es:

Die Priester unter Euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen gegenwärtig macht.

Notwendig wäre aber gerade eine theologische Betrachtung mit Blick auf die Opfer! An dieser Stelle genügt es nicht, von "sündhaften und kriminellen Taten" oder Verbrechen zu sprechen und die Opfer zu erinnern an "Christus, der selbst ein Opfer von Ungerechtigkeit und Sünde war". Denn die vom Papst beklagte "schwere Sünde gegen schutzlose Kinder" trifft mitten ins Zentrum.

In meinem Buch "Die fromme Revolte" schreibe ich noch, dass Menschen, die ein Leben lang ihre kirchlichen Verwundungen im Autoritätskonflikt austragen müssen, den Aufbruch zur Kirchenreform nur verderben würden. Es ist etwas Wahres daran, aber das Missverständliche an dieser Formulierung überwiegt. Das ist mir inzwischen klar geworden. Ohne eine Theologie aus der Perspektive der Opfer von kirchlichen Strukturen und kirchlicher Kaltherzigkeit kann es die fromme Revolte gewiss nicht geben.

Die Gegenwart des Menschensohnes ist der Bibel zufolge eine Gegenwart im "Geringsten" seiner Geschwister. Ein Verständnis von Heiligkeit, in dem Frömmigkeit und Menschlichkeit als verschiedene Dinge gelten, kann sich nicht christlich nennen. Jesus predigt: "Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters." (Matthäus 18,10)

In jedem liebes- und schutzbedürftigen Wesen begegnet uns Gott (für diesen Gottesdienst sollen alle Getauften priesterlich bereitet werden). Nur Götzen sind unverwundbar. Wenn Christen Kinder und Jugendliche nicht respektieren und bestärken, wenn sie Schwache ausnutzen, wenn sie Charismen mit "geistlicher Machtausübung" über Menschen verwechseln, wenn sie durch innere Kälte andere zum Erfrieren bringen, so geht es bei alldem um das Herz ihres Glaubens.

Die Engel der Kleinen und Bedürftigen sehen unentwegt das Angesicht Gottes. Man sollte erwarten, dass solch eine Sichtweise an erster Stelle zur Sprache kommt, wenn Christen zur sexualisierten Gewalt im Raum der Kirche Stellung beziehen. Es gibt derzeit Anzeichen dafür, dass eine Mehrheit der deutschen Bischofskonferenz das auch so sehen will und immer mehr lernt. In diesem Fall wird die Einrichtung einer von der Kirche vollständig unabhängigen Untersuchungskommission – nach dem Vorbild der Jesuiten – unweigerlich nachfolgen.

Die Folgen: Eine Kirche, die Kinder auf Abstand hält

Jesus, so wird in der christlichen Bibel erzählt, ließ sich durch eifrige Jünger nicht von der Begegnung mit Kindern abhalten. Er stellte ein Kind in die Mitte, um allen Umstehenden eine neue Weise der Existenz vor Augen zu führen. Die entsprechenden Darstellungen auf kitschigen Nazarener-Drucken gehörten in katholischen Haushalten lange zu den tröstlichsten Devotionalien.

Doch gegenwärtig, so dokumentiert die Zeitschrift Publik-Forum vom 26.2.2010, fühlen engagierte Priester, dass sie mit all ihren Mühen immer nur gegen eine vom Kirchensystem aufgebaute Wand fahren. Seelsorger, in deren Gemeinden herzliche Umarmungen vom Kind bis hin zum Greis selbstverständlich sind, stehen plötzlich unter Generalverdacht.

Im Einzelfall gibt es skurrile Reaktionen. So berichtet die "Schwabmüncher Allgemeine" vom 12.3.2010 im Lokalteil "Bobingen" über einen Pfarrer, er wolle "kein Kind mehr durch eine Umarmung trösten. Er werde bei Ausflügen mit Kommunionkindern keine kleine Hand mehr in die seine nehmen. Bei Gesprächen mit Jugendlichen halte er einen Abstand von einem Meter ein." So würde sich also eine Kirche aufgrund systembedingter Sexualverbrechen insgesamt von der Jesus-Praxis verabschieden?

Die ins Auge stechende Homophobie

Gottlob werden heute die pädosexuellen Verbrechen in keinem seriösen Medium mehr in einem Atemzug mit Homosexualität in Verbindung gebracht. Zu einer Hetzjagd auf schwule Priester gibt es angesichts der aktuellen Enthüllungslawine keinerlei Anlass. Männliche Homosexualität hat mit einer Vorliebe für kleine oder heranwachsende Jungen soviel zu tun wie männliche Heterosexualität mit einer Vorliebe für kleine oder heranwachsende Mädchen.

Hingegen haben z.B. "Ersatzhandlungen" in Form sexualisierter Gewalt an Kindern und Schwächeren sehr wohl etwas mit Werdegang und Lebensbedingungen der Täter zu tun. Und an dieser Stelle muss auch das Thema "Homosexualität" zur Sprache kommen. Vorab sei angemerkt, dass der Verfasser dieses Beitrages – ausgewiesen durch das theologische Buch "Das Lieder der Liebe kennt viele Melodien" (2001) – sich nicht ganz uneigennützig für die kirchlichen Rechte von homosexuell liebenden Christen einsetzt.

Förmlich ins Auge sticht die Homophobie, die ausgeprägte Angst vor der Homosexualität, in der gesamten Ratzinger-Ära. Dies reicht kontinuierlich vom Schreiben der Glaubenskongregation "über die Seelsorge für homosexuelle Personen" (30.10.1986) bis hin zum Novum eines Priester-Berufsverbotes4 für alle homosexuell orientierte Männer direkt nach dem Amtsantritt von Benedikt XVI.

Von den schrillen Weltuntergangstönen angesichts des europäischen Wandels hin zur Achtung der Menschen- und Bürgerrechte von Schwulen und Lesben war schon oben die Rede. Wie eine Hysterie nimmt sich der ganze Komplex aus (die zahlreichen Kardinalausfälle der hochwürdigen Hetze gegen Lesben und Schwule – auf der Grundlage eines aberwitzigen Naturrechtsverständnisses – sparen wir uns an dieser Stelle; zumindest in diesem Jahr werden wir davon vermutlich verschont bleiben).

Somit hat speziell Joseph Ratzinger über einen sehr langen Zeitraum systematisch eine angstfreie Kultur der Offenheit, Wahrhaftigkeit, Reifung und Selbstfindung im Raum der Kirche unmöglich gemacht. Jegliches Forschreiten nach dem Reformkonzil – in Moraltheologie, Pastoral, Priesterausbildung und Gemeindeleben – sollte spätestens ab Mitte der 1980er Jahre wieder abgewürgt werden. Zum Großteil ist dies gelungen. Das daraus resultierende Klima der Angst in der Kirche ist einer der Nährböden für Unwahrhaftigkeit und sexualisierte Gewalt.

Zahlreiche reifungs- und beziehungsfähige schwule Priesteramtskandidaten und Priester gingen unter den neuen Bedingungen der gesellschaftlichen Emanzipation zusammen mit den heterosexuellen Heiratskandidaten weg. Es blieben vor allem viele, die – prädestiniert für ein gespaltenes Persönlichkeitsprofil und bereitwillige Funktionstüchtigkeit innerhalb des Systems – sich nicht in der Lage sahen, außerhalb des Amtes ihren eigenen Weg zu finden. Doch das gespaltene Dasein, in welchem das eigene Leben nicht ungeteilt am Altar der Danksagung dargeboten werden darf, gehört zu den größten Dramen des Priesterberufes.

Die Kehrseite der Medaille: klerikale "Travestie"

Nun werden prominente Vertreter der kirchlichen Homophobie wie der Kölner Kardinal Joachim Meisner, der sich in seiner Zeit als DDR-Bischof noch nicht so durch mutiges Auftreten hervorgetan hat, oder eben der Papst in der Öffentlichkeit ja keineswegs als besonders "männlich" wahrgenommen. Auf viele wirken sie vielmehr eher feminin. Gleichzeitig fördert der von Traditionalisten, restaurativen Bischöfen und römischer Kurie forcierte Rückgriff auf die feudale Kleiderkammer ausgesprochen feminine Accessoires zutage: Seidenröckchen mit Spitzen, Käppchen, Fellbehang, lang wallende Cappa Magna, Handschühchen, Pantöffelchen, Umhängeschmuck und dergleichen mehr.

Die Vorliebe für besonders extravagante Paramente wird spätestens seit Oscar Wilde mit Homosexualität assoziiert. Stefan Andres stellt sich im Anschluss an eine Klage des Kirchenvaters Hieronymus über "feines Zeug aus Arras und Laodicea" bestimmte Kleriker schon der Alten Kirche in seinem Synesios-Roman so vor:

Wie Kurtisanen und Millionärswitwen laufen sie umher: in Stöckelschuhen, die Löckchen vorne in die Stirn gekämmt, hinten um die Tonsur herumgelegt, und duften nach Rosen und Sandelholz – diese Nachkommen der Märtyrer!

Auch die Liebhaber des Reformkonzils verachten schöne liturgische Gewänder keineswegs, und das ist gut so. Doch ihre Ästhetik unterscheidet sich erheblich von jenem Tand, der für Eugen Drewermann weitere Hinweise liefert auf "eine geheime Komplizenschaft zwischen der katholischen Kirche und gewissen Formen der Homosexualität" (Kleriker 1989, S. 586).

In der neuen, restaurativen Phase des lateinischen Ritus schreibt nun die Klatschpresse der "Vatikanspezialisten" etwa über Eifersüchteleien zwischen Josef Clemens, dem langjährigen Privatsekretär des Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger, und dem weltmännisch schönen Privatsekretär des dann zum Papst Gewählten, so dass man sich fragen muss, ob man es hier noch mit erwachsenen Männern zu tun hat.

Meldungen über Callboys und Seminaristenprostitution im Vatikan, Enthüllungen über Netzwerke in Konvikten, Homogazetten mit Klerikerberichterstattung oder Kalender mit "gut aussehenden Priestern" im schwulen Buchladen ergänzen das Bild. Bisweilen aber wird auch die Öffentlichkeit Zeuge, wie die Karriereleiter eines konservativ angepassten Priesters bei Bekanntwerden seiner doppelten Lebensbuchführung jäh abbricht. Wissen ist Macht. Im Fall des Falles kann es unter Umständen über eine Bischofsbesetzung entscheiden.

Der amtliche römisch-katholische Umgang mit Homosexualität, der alle Erkenntnisfortschritte und Lernprozesse der Gesellschaft hartnäckig ignoriert, kommt für die Kirche einer tickenden Zeitbombe gleich. Dass der prozentuale Anteil von Homo- und Bisexuellen im Priesterberuf deutlich über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt, darüber kann es bei Kenntnis des kirchlichen Lebens und längst vorliegender Studien keinen Zweifel geben. Es soll sich nur niemand der Illusion hingeben, innerhalb dieser Gruppe seien die Fortschrittlichen der "römischen Kirche" überrepräsentiert.

Der Ausschluss von Frauen und Eltern

Homosexuell – gleichgeschlechtlich – im soziologischen Sinn ist Roms Hierarchie auf jeden Fall, wie Uta Ranke-Heinemann anmerkt. Frauen, Mütter und – zumindest offiziell – Väter sind von der Kirchenleitung ausgeschlossen (zum Thema "Frauenpriestertum" gibt es seit der Ära Wojty?a/Ratzinger ein amtliches Diskussionsverbot).

Was aber bedeutet es, wenn Eltern von Kindern in der Kirchenleitung überhaupt nirgendwo vorkommen? Diese Anfrage an den reinen Männerbund unter dem Schutzmantel einer unsichtbaren "Mutter Kirche" drängt sich gegenwärtig förmlich auf.

Die rätselhafte Vergötzung des Priesterzölibats

Besonders rätselhaft mutet in diesem Zusammenhang die Vergötzung des Priesterzölibats an, der in diesen Tagen sogar – was man sonst nur von der Schweizer Bischofskonferenz kennt – vom Hamburger Weihbischof und vom Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Diskussion gestellt wird. Der Zölibat, so betonen Theologen wie Hans Küng und Wunnibald Müller, erklärt allein nicht die sexualisierte Priestergewalt, aber er gehört mit zu ihren strukturellen Rahmenbedingungen. Dass z.B. ein zölibatärer und zugleich mit Projektionen aufgeladener Beruf auf Pädosexuelle – bewusst oder unbewusst – besondere Anziehungskraft ausübt, liegt nahe.

Papst Benedikt XVI

Theologisch ist die Angelegenheit für jeden, der halbwegs lesen und seine Gehirnzellen benutzen kann, keine schwere Frage. Jesus und Paulus betonen Ehelosigkeit als freies Charisma und kennen keine spezielle Verbindung mit Ämtern. Der erste Papst und die im Neuen Testament genannten Bischöfe sind verheiratet. So bleibt es dann bezogen auf viele Bischöfe und die allermeisten Priester im ganzen ersten Jahrtausend, bis die lateinische Kirche für ihren Bereich im Kontext von sehr weltlichen Überlegungen allen Priestern den Zölibat auferlegte (in der Kirchengeschichte hat diese gesetzliche Zwangsregelung dem zuvor freien Charisma der Ehelosigkeit sichtlich mehr Schaden als Nutzen bereitet).

Den einfachsten Beweis dafür, dass es auch für den lateinischen Ritus keine zwingenden theologischen Einwände gegen eine Revision gibt, erbringen die mit Rom unierten Ostkirchen. Sie kennen die Priesterheirat. Auch verheirateten Konvertiten gewährt der Papst den Zugang zum Priestertum.

Was in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends schon in satirischen Schriften gemunkelt wurde, drängt sich noch immer als Deutung auf: An der Zwangszölibatsdoktrin haften vor allem solche Kirchenleiter, die selbst aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Persönlichkeitsprofils an einer Eheschließung oder festen Partnerschaft nie Interesse gezeigt haben. Dies entspricht unter den gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen nur der egozentrierten Interessenpolitik einer kleinen Minderheit in der Kirche. Schon morgen könnten unzählige verwaiste Gemeinden wieder die sonntägliche Eucharistie feiern, wenn nur die ausgeschiedenen verheirateten Priester wieder ihr Amt ausüben dürften.

Und hier nun hat der Papst soeben wieder seine rigorose Verweigerung kundgetan. Er hält die obligate Ehelosigkeit der Priester für ein prophetisches Zeichen und für ein Geschenk Gottes, das er nicht dem modischen Zeitgeist opfern will.5 Nun, beschenkt wird die Kirche ja derzeit in dieser Hinsicht wirklich nicht, und echte Geschenke – schon gar die göttlichen – kann man durch Paragraphen auch nie erzwingen. Der Hintergrund ist klar. Die Ratzinger-Mannschaft verfolgt das Konzept einer kleiner werdenden Minderheitenkirche, die einen europäischen Katholizismus früherer Epochen konserviert. Dieses elitäre und von trauernden Verlustängsten angetriebene Programm versteht man als "Nichtanpassung an herrschende Verhältnisse".

Auf der Würzburger Synode (1971-1975) gab es ein Votum für die Weihe bewährter Familienväter zu Priestern, und diesen Weg hat auch der Theologe Joseph Ratzinger vor seiner konservativen Kehre für möglich erklärt. Der Glaubenssinn aller Getauften, der in der römisch-katholischen Lehre zumindest theoretisch eine zentrale Rolle spielt (leider jedoch nie erfragt wird), steht mit großer Mehrheit gegen den obligaten Priesterzölibat. Doch es bleibt dabei. Das Papstsystem entscheidet, was dem Gottesvolk gut tut.

Die verpasste Chance: Drewermanns Psychogramm des Klerikerideals

Es liegt eine große Tragik darin, dass mit Eugen Drewermanns Studie "Kleriker – Psychogramm eines Ideals" für die römisch-katholische Kirche schon 1989 Diagnose und therapeutische Perspektiven zu allen derzeit ans Licht kommenden Vorgängen vorlagen. Die Lektüre dieses Werks kann man nach zwei Jahrzehnten nur mit noch größerer Dringlichkeit empfehlen. Doch Theologen im Umfeld der mit Joseph Ratzinger verbundenen Integrierten Gemeinde hatten gegen Drewermann schon 1987 einen Häresieverdacht auf den Weg gebracht.

Joseph Ratzinger, der selbst – verglichen etwa mit Rahner – in der Theologie des 20. Jahrhunderts nicht nennenswert oft zitiert wird und an keiner Stelle eine substantielle Auseinandersetzung mit Drewermanns Werk erkennen lässt, bewertete die Theologie des Paderborner Priesters lapidar als bloße Modewelle. In Paderborn ließ er als oberster Glaubenswächter Verhöre durchführen. Der Ortsbischof sorgte dann 1991/92 auch für den Entzug der Lehrerlaubnis, Predigtverbot und Suspension vom Priesteramt. Er wusste, was man in Rom von ihm erwartete, und wurde später sogar Kardinal. So funktioniert das "in sich selbst gekrümmte", autistische System, das sich nicht helfen lassen will und durch kleine Reförmchen nicht zu heilen ist.

Kirche kann niemals Selbstzweck sein. Wer sie als Instrument der eigenen Überhöhung oder Angstsicherung betrachtet, macht sie zum Götzen. Die Kirche ist einzig und allein dazu da, um Gottes Herrlichkeit in der Welt aufscheinen zu lassen. Gottes Herrlichkeit aber, so hat es Irenäus von Lyon (ca. 135–202) auf den Punkt gebracht, scheint im lebendigen Menschen auf – und nicht etwa durch die triumphale Macht einer Organisation. Kirche Jesu, das kann nur eine Gemeinschaft sein, die mitfühlt und in der man Mitfühlen auf leibhaftige Weise lernt.

Kultur des Stillschweigens und Wegsehens: Alle sind mitverantwortlich

Strukturell genügt es nun keineswegs, nur auf den Priesterstand und das System der Kirchenleitung zu schauen. Im katholischen Milieu hat sich aufgrund des alten Kirchenideals der "societas perfecta" insgesamt eine Kultur des Übersehens, Wegsehens und Stillschweigens herausgebildet (der Autor dieses Beitrages bekennt, lange an dieser Kultur teilgenommen zu haben).

Das ewige Selbstschutz- und Selbstlobkollektiv fordert vom Einzelnen Korpsgeist ein (Hermann Häring), und da es um das "Haus voll Glorie" geht, ist gleichsam ein göttlich bindender Gehorsam gefragt. Selbst für Reformkatholiken bedeutet es keine leichte Aufgabe, sich aus dieser unseligen Mentalität zu befreien.

Man mag es vielleicht auch bewundern, wenn ganze Gemeinden eine Partnerschaft oder Vaterschaft ihres Pfarrers stillschweigend mittragen. Doch wenn solcher Rückhalt nicht – wie vorbildhaft in einer Hammelburger Initiative – mit einem kirchenpolitischen Engagement einhergeht, stützt er letztlich genau jene Strukturen, die aufgebrochen werden müssen.

Kirche sollte ein Raum für Eros und Zärtlichkeit sein, doch wer wollte gegenwärtig davon sprechen? Kirche sollte ein Raum sein, in dem Menschen als Weggefährten einander angstfrei die Erkenntnis eigener Schatten, Abgründe und Schönheiten ermöglichen. Doch wie sollte sie zu einer solchen Kultur des Reifens kommen, solange Angst, Heimlichkeit, ein Management der Schadensbegrenzung und – beim Thema Sexualität – platonische Überhöhungsfloskeln den Schauplatz beherrschen? Alle Getauften, so lehrt das letzte Konzil in Einklang mit Martin Luther, sind Priester. Es ist an der Zeit, dass sie jetzt anfangen, ihre Stimme laut vernehmlich zu erheben.

Auf Sand gebaut?

Der Primat des Selbsterhaltes im hierarchischen System der Klerikerkirche hat den Katholizismus von unten im Verlauf der Geschichte immer wieder abgewürgt und am christlichen Zeugnis gehindert (vgl. Katholizismus und Freiheit). Die gegenwärtige Schande hängt eng mit dem Klerikerstand zusammen, macht aber die Kirche insgesamt für die Menschen unglaubwürdig.

Sexualisierte Gewalt und Macht in der Kirche, so schreibt ein australischer Bischof6, sind miteinander verwoben. Ein durchgreifender Strukturwandel, eine Revision unbiblischer Priesterbilder und ein neuer, geerdeter Umgang mit Sexualität – an diesen Hausaufgaben kann sich die römisch-katholische Kirche nicht länger vorbeimogeln. Ansonsten wird sie – zumindest im europäischen bzw. westlichen Kontext – endgültig zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Andere Kontinente werden bei den rasanten Kulturprozessen auf dem Globus ein paar Dekaden später nachfolgen.

Auszuschließen ist es nicht, dass in unseren Tagen ein ganzes Kartenhaus, das vorerst nur zittert, in sich zusammenbricht. Gebe Gott uns Romkatholiken, dass wir dann noch Freunde finden in der christlichen Ökumene und anderswo. Viele Gefährtinnen und Gefährten hat Rom uns ja schon vergrault.

Der Verfasser ist Theologe und Publizist. Im letzten Jahr hat er das Kirchenreformbuch "Die fromme Revolte – Katholiken brechen auf" veröffentlicht.