Autor Jens Balzer: Wie der Nahostkonflikt den moralischen Bankrott der woken Linken offenbart
Nach Hamas-Massaker wachsender Antisemitismus in postkolonialen Kreisen. Balzer sieht auch bewahrenswerte Elemente der "Wokeness". Hier seine Thesen.
Jens Balzer kritisiert die woke Szene scharf. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober sieht er einen moralischen Bankrott. Er warnt vor Antisemitismus und religiösem Dogmatismus.
Der Autor und Journalist Jens Balzer sieht die sogenannte woke Szene nach den Reaktionen auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober als moralisch bankrott an. In einem Interview mit der Zeitung anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buchs "After Woke" erläutert er seine Sicht.
Definition von "woke" als Idee der liberalen Demokratie
Balzer definiert den ursprünglichen Gedanken hinter "woke" als die Idee, dass Entscheidungen über das gesellschaftliche Zusammenleben gemeinschaftlich getroffen und alle Menschen, insbesondere marginalisierte Gruppen, einbezogen werden. Dies sei letztlich die Idee, auf der die freiheitliche Demokratie beruhe, so Balzer:
Nämlich dass man die Entscheidungen über das eigene Leben, über das gesellschaftliche Miteinander nicht an irgendwelche Autoritäten delegiert, sondern dass man diese Entscheidungen eben gemeinschaftlich trifft – und dass man dabei darauf achtet, dass sich in diese öffentlichen politischen Debatten ausnahmslos alle einbringen können, dass alle sichtbar werden, vor allem all jene, die von Machtasymmetrien, Diskriminierung und Marginalisierung betroffen sind und bisher vielleicht nicht die gleichen Zugangschancen hatten. Am Ende des Tages ist das derselbe Gedanke, den Jürgen Habermas in seiner Diskursethik erläutert, Stichwort Utopie des herrschaftsfreien Diskurses, nur mit einem stärkeren Augenmerk auf die Infrastruktur, die das ermöglicht.
Jens Balzer
Kurz Erklärt: Wokeness
Wokeness ist ein aus dem Englischen stammender Begriff, der ursprünglich "wach sein" bedeutet. Im gesellschaftlichen Kontext beschreibt er ein Bewusstsein und eine Sensibilität gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen. Dies umfasst Themen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie und andere Formen der Benachteiligung. Menschen, die als "woke" bezeichnet werden, setzen sich aktiv für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit ein.
Der Begriff hat seinen Ursprung in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, erlangte jedoch in den letzten Jahren weltweit an Bedeutung. Vor allem durch soziale Medien verbreitete sich das Konzept, und es entwickelte sich eine globale Diskussion um fairen Umgang und Respekt gegenüber allen Menschen, unabhängig von deren Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung.
Moralischer Bankrott der Szene nach 7. Oktober
Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober zeigte die woke Szene laut Balzer kein Mitleid mit den Opfern mehr. Im Gegenteil, die Hamas werde teils als Befreiungsbewegung gefeiert. Dies führt Balzer darauf zurück, dass sich im postkolonialen Denken ein Schwarz-Weiß-Denken entwickelt habe, in dem Juden pauschal als weiße Kolonialisten und Palästinenser als Opfer gesehen würden. Balzer dazu:
Wo früher die Vermischung, das Hybride, die Ambivalenz gefeiert wurde, da ist jetzt eine Sehnsucht nach scharfen Unterscheidungen getreten, insbesondere nach der Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß – etwa in dieser vulgarisierten Variante der Critical-Whiteness-Theorie, in der es nur noch darum geht, weiße Menschen als prinzipiell privilegierte Täter ihrer Mikroaggressionen und ihres strukturellen Rassismus zu überführen. Das hat ohne Frage sein Recht, wird aber problematisch durch die begriffliche Binarität, die sich damit etabliert, und insbesondere dann dort, wo dieses Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien auf Konflikte übertragen wird, auf die es gar nicht passt.
Fixierung auf "Indigenität" ist problematisch
Die Fixierung auf den Begriff des "Indigenen", mit dem die Palästinenser assoziiert werden, sieht Balzer kritisch. Dies führe dazu, dass Identitäten nur von der Vergangenheit her gedacht würden. Postkoloniale Denker wie Hall, Gilroy und Glissant hätten Identitäten dagegen als etwas Fließendes verstanden und die Hybridität der postkolonialen Kultur betont, so Balzer. Davon sei die woke Linke heure weit entfernt, denn:
Der erste linksradikale Brandanschlag 1969 richtete sich gegen ein jüdisches Gemeindehaus in West-Berlin. Die Faszination dieser Szene für die PLO und die "antizionistische" Bewegung hat sich in der RAF fortgepflanzt, das zieht sich durch die ganze Geschichte der Linken in Westdeutschland, und übrigens war auch die sozialistische Ideologie in der DDR stark von antisemitischen Motiven durchsetzt. Was wir jetzt sehen, ist, wie sich all das mit dem jüngeren Antisemitismus in Teilen des postkolonialen Denkens verbindet. Wie man sehen kann, ist das eine stabile Konstruktion.
Antisemitismus in Teilen der postkolonialen Szene
Balzer führt aus, wie sich Antisemitismus in Teilen der postkolonialen Szene etabliert hat. Schon in den 60er-Jahren habe es in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA einen antisemitischen Turn gegeben. Auch heute gebe es bei BLM eine antisemitische Unterströmung. Diese Denkweisen seien dann oft unreflektiert nach Europa importiert worden.
Es gibt auch bei Black Lives Matter eine antisemitische Unterströmung, die sehr schnell vom Protest gegen die israelische Militärpolitik und die israelische Regierung zu antisemitischen Attacken auf Juden und Jüdinnen generell geführt hat. Man könnte sagen: Die Bewegung wurde früh von "antizionistischen" Kräften gehijackt, und beim Import von Black Lives Matter nach Deutschland und Europa wurde das dann einfach mitübernommen.
Wokeness als Mittel gegen Rechtspopulismus
Trotz der Bankrotterklärung der Woken Szene plädiert Balzer dafür, den bewahrenswerten Kern der Wokeness herauszuarbeiten. Nur so könne man dem erstarkenden Rechtspopulismus etwas entgegensetzen. Denn Akteure wie Trump, Orbán oder Putin freuten sich, wenn sich die Linke selbst zerfleische, anstatt sich solidarisch gegen rechts zu stellen.
Ablehnung von religiösem Dogmatismus
Eine richtig verstandene Wokeness müsse laut Balzer für eine säkulare, offene Gesellschaft streiten. Religiöser Dogmatismus, sei es christlicher oder islamischer Fundamentalismus, sei dem immer abträglich. Dass die Linke dies in Bezug auf den Islamismus nicht sehe, ist für Balzer unverständlich. Der Dogmatismus komme gerade massiv zurück.
Im Gespräch mit der Berliner Zeitungf warnt Balzer daher vor einem moralischen und intellektuellen Bankrott der "woken" Szene. Er plädiert dafür, trotzdem an den bewahrenswerten Elementen von "Wokeness" festzuhalten, um dem erstarkenden Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen. Dafür sei aber eine klare Abgrenzung von religiösem Dogmatismus und Antisemitismus nötig.