Babylon 3.0.: Die Dialektik Digitaler Demokratie
ICANN zwischen Netzbürgern und Netbussinesmen
Im Cyberspace bilden sich neue, transnationale Deliberations- und Partizipationsformen. Nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch: Im Netz der Netze hat es dieses Jahr die ersten weltweiten Online-Wahlen für das Direktorium der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) gegeben, die sich zudem global und netzwerkartig über das Netz selbst organisiert, sich weitgehend der Kontrolle nationaler Regierungen entzieht, Offenheit and Transparenz zum Organisationsideal erhebt und dabei Schlüsselpunkte des globalen Kommunikationsnetzes verwaltet. Die organisatorische Struktur von ICANN ist also ein Novum, ein Experiment, bei dem neue Varianten globaler Willensbildung und Politikformulierung jenseits nationalstaatlicher Repräsentationsformen entstanden sind.
Das mag zwar alles stimmen und hat sich von bloßer Theorie zur digitalen Praxis in der weltweiten Online-Wahl empirisch manifestiert, doch wurde beim letzten Treffen der ICANN in Marina del Rey die Dialektik der digitalen Demokratie offenbar: Zwischen Selbstregierung des Netzes, demokratischer, zivilgesellschaftlicher Nutzerorganisation, technischem Regulierungsverein, überstaatlicher Organisation und netzwirtschaftlicher Regulierungsbehörde bewegt sich die ICANN zwischen disparaten Ansprüchen und Idealen. Zugespitzt gesagt sind um und innerhalb der ICANN zwei nahezu separat von einander existierende Sphären entstanden - die der Netizen und die der Netbusinessmen. Deren kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass beide Interesse an der Nutzung des Netzes haben. Zwar sind die Interessen und Wünsche nicht unbedingt gegensätzlich, doch bestehen fundamentale Unterschiede in Interessenartikulation, Meinungsbildung und letztendlich in Umsetzung der Interessen (Babylon 2.0 - Ein Konferenzbericht über ICANN in Los Angeles).
Sieben neue Namen, Sieben neue Monopole - und wo bleiben die Netizens?
In Marina del Rey hat die ICANN, ihre vielleicht bisher wichtigste Entscheidung getroffen: Nach jahrelanger Diskussion hat sie sieben neue Top-Level-Domains eingeführt. Um vor allem .com Konkurrenz zu machen, wird es nun .pro, .info, .museum, .co-op, .aero, .biz und .name geben. Bei dieser Entscheidung ist das Spannungsverhältnis zwischen Nutzer- und Industrieinteressen deutlich gewesen, zugleich hat es auch klar gemacht wie schwer die Formulierung eindeutiger Positionen ist, wenn es um eigentlich technische Entscheidungen geht (Domain-Namen: Des einen Leid, des andern Freud).
Devising effective and well-articulated international institutions, which conform to a modified version of democratic norms that is appropriate to them, is indeed a crucial problem of political design for the 21st century.
Robert O. Keohane, Joseph S. Nye 2000
Während der öffentlichen Diskussion des ICANN-Direktoriums, über die Einführung neuer Internetadressräume offenbarte sich ein grundlegender Konflikt über die Frage, welche Kriterien an die Einführung neuer Top-Level-Domains angelegt werden sollte: politische, wirtschaftliche oder technische? Während Esther Dyson, in Marina del Rey abgetretene ICANN-Vorsitzende durch die Einführung auch Meinungsfreiheit und nicht nur kommerzielle Interessen fördern wollte, sprach sich Vint Cerf, der ihr Nachfolger ist, dafür aus, nur technische Kriterien anlegen, weil ICANN nicht über die geltenden Werte im Cyberspace entscheiden solle.
Besonders deutlich wurde der Konflikt bei der Diskussion von .kids, die Platz für kinderfreundliche Seiten im Netz schaffen wollte. Zwar verspricht die Top-Level-Domain kontrollierbare Namensräume einzuführen - unter .kids sollten keine jugendgefährdenden Inhalte zu finden sein -, was aber weltweit nur schwer kontrollierbar ist, wie das ICANN-Direktorium immer wieder anmerkte. Keine technischen oder wirtschaftlichen Probleme sprechen gegen die Einführung, sondern politische: Sollen Top-Level-Domains existieren, die inhaltlich geschlossene und kontrollierbare Namensräume darstellen, was jedoch global schwierig ist und enorme politische wie rechtliche Konsequenzen hätte? Die meisten Mitglieder des Direktoriums haben sich deshalb gegen die Einführung von .kids ausgesprochen.
Die technischen und wirtschaftlichen Einwände gegen viele der Vorschläge waren zwar wichtig, doch wurden viele der Entscheidungen aus einer merkwürdigen Vermischung technischer, wirtschaftlicher und eben doch politischer Überlegungen gefällt. So hatte Esther Dyson die Anzahl von Top-Level-Domains pro Bewerber mit den Worten begrenzt - und hier wirtschaftliches Argument benutzt: "Eine können Sie bekommen, aber nicht zwei oder drei, sonst machen wir Sie zu reich."
Unterhaltsam und albern wie im Kabarett ging es schließlich bei der Diskussion, um .air zu, welche schließlich als .aero angenommen wurde. Der asiatische ICANN-Direktor, Dr. Kyong, fragte: "Wie können wir darüber entscheiden, wer Luft bekommt? Dass ist doch ein öffentliches Gut!" Pragmatisch antwortete darauf wieder Esther Dyson: "Ich finde .air nett." Ein anderer ICANN-Direktor brachte in der Entscheidungsfindung die entscheidende Wendung mit der Idee, doch .aero anstatt .air einzuführen, weil es schön klingt und zugleich keine Luft sei. Während diese Art der Entscheidungsfindung zunächst lustig klingt, muss die Frage gestellt werden: Ist es richtig, so über die Vergabe einer wichtigen internationalen Ressource zu entscheiden?
Das Direktorium entschied sich gegen eine TDL für Gewerkschaften (.union), da mehrere Industrievertreter im Board sich dagegen ausgesprochen hatten, mit dem willkürlichen Argument, "die breite Unterstützung der Gewerkschaften weltweit sei nicht gewährleistet". Antragsteller war die belgische International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU), die 216 Gewerkschaften in 145 Ländern repräsentiert, der Antrag hatte unter anderem auch die Zustimmung des DGB.
In summa wurde also keine neue TLD eingeführt, die explizit Raum für kritische Auseinandersetzung mit der internationalen Finanzwelt - wie .sucks - oder Schutz vor Überprotektionierung von Markenrechtsinteressen bietet. Genau hier wird Dialektik innerhalb ICANNs klar, die anwesenden IT-Unternehmer wollten lediglich eine Lizenz zur globalen Vergabe, einer vermutlich lukrativen Internetadressendung: Ihnen ging es nicht um mehr oder weniger TLDs, sondern vornehmlich darum, ein technisches Monopol zugesprochen zu bekommen. Sie hatten sich beworben, um die "Registry" für die neuen Namen machen zu dürfen. Technisch gesehen ein notwendiger, aber relativ, simpler Routinejob.
Dass diese technische Besonderheit einer virtuellen Geldpresse gleichkommt, hat Network Solutions (NSI) bewiesen. Die amerikanische Firma hatte das Monopol für die Verwaltung und Vergabe von .com. Der einzige Adressraum im grenzlosen Netz, der global vermarktet wurde. Deshalb sind unter .com mittlerweile fast 20 Millionen Internetadressen registriert. Jeden Tag kommen 40 000 Neue dazu. Network Solutions verwaltet immer noch alleine und unangetastet die Datenbank - Registry - für .com. Für jeden Namen in dieser Datenbank kassiert NSI pro Jahr sechs Dollar. Damit wird sie dieses Jahr alleine 120 Mio. US $ verdienen. Für jeden neu registrierten Namen bekommt NSI 35 US $ - pro Tag sind das trotz Wettbewerb bei der Registrierung immer noch etwa 25 000 Registrierungen, also fast 900 000 Dollar.
If cyberspace allows us to do things differently, perhaps much better than we do them now, why don't we?
Unbekannter Netznutzer
Während also auf Industrieseite Motiv und Ziele glasklar erscheinen, ist auf Seiten der Nutzervertreter weder generelle Ablehnung der Entscheidungen zu finden, noch Unterstützung: Die Forderungen bleiben diffus. Ja, natürlich würde man .sucks gut finden, aber wirklich wichtig ist der Vorschlag nur wenigen, vielleicht sogar ein wenig albern finden die meisten diesen typisch amerikanischen Vorschlag. Wo ist also die Demokratie bei ICANN geblieben? Oder: Was wollen denn die Demokraten von ICANN?
Die neu gewählten Nutzerdirektoren waren zwar von der Entscheidung strategisch geschickt ausgeschlossen worden. Sie konnten sich das Schauspiel aus dem Publikum heraus anschauen und wurden erst am Ende der Konferenz mit Amt und Würde versehen, doch hielten sie sich mit Kritik an der Entscheidung zurück. Warum? Ist ihnen vielleicht ihr Mandat unklar. Hätten die Netizens vielleicht hundert neue TLDs gewollt?
Während diese Frage nicht abschließend zu beantworten ist, hat sich in Marina del Rey eines gezeigt: Die virtuelle Demokratie steckt nicht nur noch in den Kinderschuhen, sie hat auch mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Das ist, und war auch nie, ein Argument gegen Demokratie, sondern für bessere Strukturen und Prozesse! Daneben ist es noch Hinweis darauf, dass Meinungsbildung im weltweiten Kontext mehr als schwierig ist.
Architecture is Politics
Emotional ist vielen klar, dass Internetnutzer bei der Verwaltung des Netzes ein Mitsprachrecht haben sollen, doch ist unklar wie das genau funktionieren soll. Die Internet-Community hat jetzt die Chance darüber nachzudenken und die Zukunft der ICANN mitzugestalten: Das Direktorium hatte beschlossen, dass zunächst nur fünf der neun At-Large-Direktoren gewählt werden sollten und vor einer erneuten Wahl eine "umfassende Studie zu Konzept, Struktur und Verfahren" der At-Large-Beteiligung stattfinden solle. Dabei soll auch die At-Large-Beteiligung insgesamt untersucht werden.
In Marina del Rey wurde beschlossen, dass eine Studie untersuchen soll, wie "angemessener Input der allgemeinen Netzgemeinde" gesammelt werden kann, ohne die "effektive und effiziente Verwaltung von ICANN und die Erfüllung ihrer spezifischen technischen und administrativen Mission" zu gefährden. Schon jetzt ist klar, dass ICANN andere Regeln, Statuten und Normen wie klassische Organisationen benötigt - nicht zuletzt auch neue Kommunikationscodes und Politikstrategien. Wie die probaten "checks and balances" aussehen sollen, damit ICANN in der Informationsflut "von-unten-nach-oben" nicht unter geht, die "signal-to-noise-ratio" optimiert werden kann, und sich wirkungsvolle Mechanismen finden lassen zur Verhinderung von "Informationsmonopolen" und "Cliquenbildung", sind die Fragen, um die es gehen wird und muss. David Post hat schon richtig und provokativ gefragt: "Where is James Madison when we need him?"
Was die ICANN-Wahl letztendlich bewirkt, ob und wie sich eine globale Wählergemeinde über die Wahl selbst konstituiert und ihren Willen eindeutiger formuliert, bleibt nicht nur abzuwarten, sondern wird davon abhängen, wie die Community versucht, die richtigen Strukturen aufzubauen.