Bangladesch: Nur der Mensch belügt sich selber

Auf der Abdul Hamid Road in Pabna gehen sich zwei Verkehrsteilnehmer an der Kragen. Foto: Gilbert Kolonko

In Bangladesch ist der eigentliche Wahnsinn nicht in der größten Nervenheilanstalt des Landes zu Haus. Eher am ersten Atomkraftwerks Bangladeschs

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Es kokelt und lärmt am staubigen Abschnitt der Sadarghat-Road in Dhaka - der schwarze Buriganga-Fluss ist nur zu riechen. In gespieltem Ernst ringen zwei Arbeiter an einem Teestand miteinander, während andere Teetrinker sie anfeuern. Mit einer geschickten Drehung reißt sich der kleinere von seinem Gegner los, springt zwei Schritte zurück, streckt die Brust vor und ruft mit ausgestrecktem Zeigefinger: "Du bist verrückt (bhabna). Geh nach Pabna!"

Obwohl der Satz in Bangladesch täglich tausende Male ausgesprochen wird, brechen die Teetrinker in herzhaftes Lachen aus - anschließend ist jeder von ihnen wieder ein Teil des Gewimmels aus beladenden Rikschas und Lastenträgern, die sich zwischen brennenden Müllhaufen und Fabrikabgasen für zwei bis drei Dollar am Tag verdingen.

160 Kilometer südwestlich der 20 Millionen Einwohner-Metropole Dhaka stehe ich inmitten eines begrünten Geländes vor einem Ziegelsteingebäude. Es herrscht himmlische Ruhe, Männer und Frauen spazieren plaudernd in kleinen Gruppen herum. Nur drei Kilometer entfernt im Zentrum der Kleinstadt Pabna tobt der Wahnsinn auf der Abdul Hamid Road. Fußgänger, Autos, Motorräder und Rikschas schieben sich schreiend, hupend oder klingelnd Stück für Stück voran.

Dass sich die verschiedenen Verkehrsteilnehmer nur ab und zu an den Kragen gehen, grenzt an ein Wunder. An den Straßenrändern ist gefühlt jedes dritte Geschäft eine Apotheke. In einer der offenen Betonboxen sitzt der 28-jährige Ashit und gibt beinahe im Sekundentakt allerhand Pillen an seine Kunden aus. Auf die Frage, warum er sich das antue, täglich zehn Stunden in diesem Lärm zu sitzen, schreit er freudig: "Weil ich im Monat knapp 100.000 Taka (ca.1.100 Euro) Gewinn mache." Bei einem Textilarbeiter-Durchschnittslohn von umgerechnet 60 Dollar im Monat ist das mehr als ordentlich. Den Gedanken, dass Ashit in ein paar Jahren wohl sein eigener bester Kunde sein wird, behalte ich für mich.

"Vom Kopf her sehr robust"

Eigentlich sollte der Wahnsinn im Backsteingebäude selbst zu Hause sein, schließlich beherbergt es die größte Nervenheilanstalt Bangladeschs. Doch in den Gängen des Gebäudes treffe ich auf entspannte Menschen. "Wir behandeln aktuell 401 Patienten stationär, vorwiegend wegen Schizophrenie", sagt der Superintendent der Klinik Susanto Kumar in seinem geräumigen Büro. Sein Kollege Doktor Munnaf ergänzt: "Die meisten Patienten behandeln wir jedoch ambulant." Bis zu einem Prozent der Menschen trügen die psychische Erkrankung Schizophrenie in sich, doch ob sie ausbreche, liege oft an äußeren Einflüssen.

Arbeiter hieven Eisenröhren für das Atomkraftwerk hinauf. Foto: Gilbert Kolonko

Ein Mittvierziger kommt dazu, setzt sich zu uns - wie die beiden Ärzte legt er sein Smartphone ausgeschaltet auf den Tisch. Auf die Frage, ob sie hier keine Fälle von Burn-out hätten, schüttelt der Superintendent verneinend den Kopf: "Die meisten Menschen der Gegend leben immer noch im Dorf. Regelmäßige körperliche Arbeit und ein geregelter Tagesablauf beugen Nervenkrankheiten vor. Natürlich sollte auch Zeit für die eine oder andere Plauderei sein." Ich frage, ob aufgrund der wachsenden Städte wie Dhaka Nervenkrankheiten auch in Bangladesch häufiger vorkämen: "Zurzeit sehen wir, dass Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck in den Städten zunehmen, weil die Städter sich ungesund ernähren."

Doktor Munnaf setzt erklärend hinzu: "Vom Kopf her sind die Menschen unseres Landes sehr robust. Jedes Jahr schwere Überschwemmungen oder Taifune. Auch weiß fast jeder Ältere was Hunger ist. Aber auf ein Leben in den Städten voll von scheinbarem Überfluss hat sie niemand vorbereitet." Dann nimmt der Mittvierziger, der bisher lächelnd zugehört hat, sein Smartphone vom Tisch und sagt: "Das habt ihr erfunden und bis heute nicht verstanden, wie ihr damit umzugehen habt."

25 Kilometer weiter westlich setzt mich ein Bus im Ort Ruppur ab. An einem Teestand sitzen etwa 20 Weiße mit müden Gesichtsausdrücken in blauen Arbeitsanzügen und orangen Warnwesten und schweigen. Auf der anderen Straßenseite steht eine Gruppe einheimischer Arbeiter. Durch ihre gestikulierenden Armbewegungen wirken die Männer wie ein einzelner großer Organismus. "Russia, English no", sagt einer der weißen Männer freundlich zu mir, mit einer gewissen Verschämtheit, die den schrottkörnigen Fünfzigjährigen umso liebenswürdiger erscheinen lässt.

Die Arbeiter und das Atomkraftwerk

Einer seiner Kollegen verhandelt zeitgleich mit einem Nussverkäufer. Dabei lacht er übertrieben freundlich, als rede er mit einem Kind. Der Nussverkäufer nimmt seine Rolle an und wird dafür mit dem doppelten Preis belohnt. Zehn Minuten geht es an im Bau befindlichen Hochhäusern vorbei, die Teil eines großen Korruptionsskandals sind, dann stehe ich vor der umzäunten Baustelle des Atomkraftwerks Ruppur, wo für 12,65 Milliarden US-Dollar zwei Reaktoren mit einer Nennleistung von 1.200 MW gebaut werden - der erste soll 2023 ans Netz gehen.

Ein Blick von der Sadarghat Road auf den Buriganga, der sogar dreckiger ist als leicht verschmutztes Abwasser, da er bis zum Monsun nur aus Abwassern besteht. Foto: Gilbert Kolonko

Da die Kosten durch Kredite der russischen Regierung finanziert sind, werden in den nächsten 30 Jahren weitere neun Milliarden an Zinszahlungen dazu kommen. Direkt vor der Baustelle ist ein kleiner Markt aufgebaut. Daneben rasen Reisebusse und Laster auf dem Highway N-704 vorbei. Als ich ein paar Bananen kaufen möchte, nennt mir der Verkäufer mit Kinderlächeln einen astronomischen Preis. Ich verzichte und bestelle am Nachbarstand einen Tee - wieder die übereifrige Freundlichkeit eines Kindes, das um die Belohnung dafür weiß.

Dass es problematisch werden kann, wenn Hunderte Arbeiter einer fremden Kultur ausgesetzt werden, zeigte sich im Juni im Süden Bangladeschs, wo 2.000 Chinesen am Bau des Payra-Kohlekraftwerks beteiligt sind. Als die einheimischen Arbeiter den Chinesen vorwarfen, den Tod eines ihrer Kollegen vertuschen zu wollen, kam es zu einer Massenschlägerei zwischen Hunderten von Arbeitern beider Nationen, bei der ein Chinese getötet wurde und sechs andere verletzt.

Über die russischen Arbeiter in Ruppur gab es bisher keine Klagen und wird es auch heute nicht geben. Zu Tode gekommen sind russische Arbeiter in Ruppur bisher bei Unfällen auf der Baustelle, oder wegen Konsums lokalen Alkohols. Ein anderer, als er die Stromleitung in seinem Apartment reparieren wollte.

Einen Kilometer weiter, auf der gegenüberliegenden Seite der Baustelle, treffe ich wieder auf die gewohnten Bengalen. Vier Arbeiter des Kraftwerks ziehen mit Seilen Eisenröhren vom Ufer des Padma-Flusses hoch. Freundlich, aber selbstbewusst antwortet einer von ihnen, sie würden 800 Taka (etwa 8,50 Euro) am Tag verdienen. Auf die Frage, was er vom Atomkraftwerk halte, zuckt er gelangweilt mit den Schultern und sagt: "Gut." In der Regel antworteten die Menschen hier: "Strom. Gut."

Russische Arbeiter von Rosatom in Ruppur. Foto: Gilbert Kolonko

So auch 500 Meter weiter flussaufwärts an der kolonialen Hardinge-Eisenbahnbrücke, unter der an ein paar Tee- und Essensständen lokale Brückentouristen bedient werden. Am Ufer vor uns sind große Sandberge zu sehen. "Gut. Arbeit", sagt der Teeverkäufer dazu, doch muss er jetzt verschmitzt lächeln, was andeutet, dass auch er weiß, dass es sich um illegale Sandentnahme handelt. Dass ihm bewusst ist, wie gefährlich der Sandraub ist, schließe ich aus, obwohl das Ufer während des Monsuns auch hier in Ruppur mit Sandsäcken geschützt werden muss.

Mit dem Monsun öffnet Indien die Schleusen seiner Staudämme und "schenkt" Bangladesch Wasser zu einer Zeit, in der das Land schon zu viel davon hat - was den Padma in einen reißenden Strom verwandelt. Mangels Kies und Steinen im Fluss, die ebenfalls für mehr Wirtschaftswachstum geraubt wurden, jagen die Fluten ungebremst den Padma hinunter. Für den Teeverkäufer ist wichtig, dass auch die beiden Polizisten am Nachbarstand die Sandberge ignorieren und gerade eine Gruppe Arbeiter vom 'Sandunternehmen' in unsere Richtung schlendert.

Eine halbe Stunde später klettere ich auf die Brücke und folge bis zum Bahnhof Ruppur den Schienen, wo mich ein Polizist beäugt. Ich mache ein Foto des eingefahrenen Zuges und nuschle dem Beamten mit erhobenen Daumen ein "Na sdorowje" zu. Der strahlt über beide Ohren und hebt ebenfalls den Daumen in die Luft. Das gleiche passiert noch zwei Mal mit anderen Polizisten, dann verlasse ich den Bahnhof und folge den Schienen bis die Baustelle des Atomkraftwerks unter mir liegt. Sieht "schick und sicher" aus.

In welchem Land kann schon aus 500 Metern Entfernung ein Atomkraftwerk bewundert werden, könnten vielleicht auch täglich Tausende Zugpassagiere denken. In der Monsunzeit, ab Juli, kann dann das auf Schwemmland errichtete Kraftwerk, gelegentlich auch in überschwemmtem Zustand bewundert werden. Die knapp zwei Millionen Liter Wasser pro Minute, die das Kraftwerk braucht, sollen dem Grundwasser entnommen werden, denn die Verantwortlichen haben mittlerweile bemerkt, dass sich der Padma als Kühlwasserspeisung nicht eignet.

Ein Blick von den Eisenbahnschienen auf das Kraftwerk und den Highway N-704. Foto: Gilbert Kolonko

Trotz des sicheren Eindrucks hat sich das Parlament Bangladeschs für den Fall eines Unglücks in Ruppur per Gesetz vorsorglich jeglicher Verantwortung entzogen. Und es findet sich auf dem gesamten Planeten keine Versicherung, bei der man sich gegen einen Nuklearunfall versichern könnte. Das kann übrigens jeder Hausbesitzer in den Klauseln seiner Gebäudeversicherung nachlesen.

"Einstunden-Evakuierung"

Mit lokalen Atomkraftgegnern habe ich mich nicht getroffen. Unter Premierministerin Hasina Wajed ist Bangladesch zu einer Autokratie geworden, in der jeder, der den Wachstumswahn und die fehlende Nachhaltigkeit kritisiert, es mit Polizei und Partei-Schlägertrupps zu tun bekommt.

Schon in einem Artikel im April 2018 hat Telepolis über weitere Gefahren und Ungereimtheiten beim Bau des Atomkraftwerks berichtet. Wie auch über die indisch-russische Zusammenarbeit in Bangladesch und über ihr Vorzeigeprojekt, das Atomkraftwerk im südindischen Kudankulam. Dort dauerte der Bau statt fünf ganze zwölf Jahre und auch heute läuft das Kraftwerk nur mit halber Leistung. Zudem gibt es Hinweise, dass in Kudankulam aus der Tschernobyl-Reaktorgeneration stammende Teile verbaut wurden.

Die Busfahrt zurück nach Pabna zeigt sich ein weiteres Problem. Bei der Durchquerung jeder Kleinstadt steckt der überfüllte Bus im Dauerstau, Umgehungsstraßen Fehlanzeige. Laut Sicherheitsstandards der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) soll bei einem AKW-Standort sichergestellt sein, dass im Falle eines Unfalles alle Menschen im Radius von 30 Kilometern innerhalb einer Stunde evakuiert werden können. Da in der 30 km-Zone um Ruppur, in den Städten Pabna, Bheramara, Lalpur, Kushtia Iswardi und Umgebung etwa 2 bis 3,5 Millionen Menschen leben, bleibt nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen diese "Einstunden-Evakuierung" niemals praktisch vorführen müssen.

Sandraub im großen Stil direkt neben der Baustelle des Atonkraftwerks Ruppur. Foto: Gilbert Kolonko

Der eigentliche Wahnsinn ist in Bangladesch nicht in Pabna zuhause. Auch der geplante Bau des zweiten Atomkraftwerks im Süden Bangladeschs, wird das Land nicht, wie von der Hasina-Regierung behauptet, energetisch unabhängig machen. Bangladesch besitzt kein Uran. Das einzige Lebewesen auf der Erde, das sich selbst belügen kann, ist der Mensch.

Auch die vielen chinesischen Kohlekraftwerke werden nicht gebaut, um endlich die Armen im Land mit Strom zu versorgen, sondern um den steigenden Konsum einer energiefressenden globalen Mittelschicht zu bedienen. Dafür soll Bangladesch auch weiter industrialisiert werden, zur Herstellung von vorwiegend einer weltweit zunehmenden Wegwerf-Mittelklasse zugedachten Produkten.

Bangladesch macht, was dem Land vom IWF empfohlen und vom Westen vorgelebt wird - Wachsen ohne Rücksicht auf ein Morgen. Der 20 Millionen Einwohner Hauptstadt Dhaka geht in wirklich absehbarer Zeit das Grundwasser aus. Schuld am globalen Umwelt-Debakel sind für viele "gebildete" Vertreter der - westlichen - Mittelklasse dennoch die Armen. Weil sie so viel "poppen". Diejenigen mit dem größten ökologischen Fußabdruck klagen diejenigen mit dem geringsten an.