Beate Zschäpe hatte kein Telegram
Seite 2: Telegram, das neue "Werther"
- Beate Zschäpe hatte kein Telegram
- Telegram, das neue "Werther"
- Die Hassproduktion läuft auf Hochtouren
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Vor 200 Jahren nämlich hatte die herrschende Klasse in Deutschland einen ähnlichen Popanz zurechtgeschustert: Goethes Roman Werther sei für Selbstmorde verantwortlich. In den 1990er- und 2000er-Jahren waren es für kurze Zeit die "Ballerspiele", dann der Heavy Metal, und schließlich der "Hass im Netz", oder – bei ganz kritischen Kritikern – "gefährliche Ideologien", die für die "Verrohung" der Jugend, für Hass, Gewalt, Amokläufe, Attentate, Terror oder allgemeinen Sittenverfall verantwortlich sein sollten.
Es ist erstaunlich, wie einig sich in diesem Lande alle sind, wenn es darum geht, nur ja nicht den kapitalistischen Boden dieses Geschehens in den Blick zu nehmen und um Himmels Willen nicht die Herrschaft der Monopole infrage zu stellen.
Inzwischen hat man einen neuen Popanz gefunden: Die Telegram-App soll, weil nicht zensierba,. Schuld daran sein, dass Leute gegen die Regierung sind.
Begriffen wird dabei nicht, dass, um Emotionen wie Hass zu schüren und politisch zu instrumentalisieren, zunächst ein gesellschaftlicher Boden vorhanden sein muss, der diese Emotionen beständig hervorbringt – oder zumindest Menschen, die kaputt genug sind, sich solchen von der Emotionalisierungsindustrie angekurbelten Gefühlswallungen zu unterwerfen.
Die Anarchie der Warenproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, bildet die Grundlage für die faschistischen Kampagnen, die Totalität der Konkurrenzgesellschaft bringt ständigen Neid, Missgunst und seine entsprechenden Ausdrucksformen hervor.
Solche Phänomene sind allesamt Teil der emotionalen Staatsapparate, an welche die Menschen heute ihr Leben lang angeschlossen sind. Trotzdem soll es der "Hass im Netz" und früher die Literatur, die Ballerspiele, oder eben der Messengerdienst sein, der diese Phänomene hervorbringt. Sie werden aber durch solche Medien nicht hervorgebracht, sondern lediglich sichtbar.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer nun, der als Mitglied der CDU recht wenig Schwierigkeiten damit hatte, den deutschnationalen Mob seit 1989 in Meinung und Handlung "befreit" zu sehen, forderte dieser Tage, nachdem von einer Morddrohung gegen ihn durch einen jener von seiner Partei damals zum Kampf gegen den Antifaschismus ermutigten Sachsen in einer Telegram-Gruppe berichtet wurde, ein härteres Durchgreifen gegen ebendiesen Messenger.
Wem die Pogromstimmung 1989 ganz gelegen kam, weil es gegen die Richtigen, nämlich die Sozialisten ging, der kann jetzt in seiner Hilflosigkeit über die Zustände natürlich nur noch eine Chat-App verbieten lassen.
Direkter Weg zur Zensur von Kunst und Literatur
Die Assoziationskette auch der anderen Politiker und Journalisten gestaltet sich in der Regel etwa so: Am Anfang stünde, völlig abstrahiert von gesellschaftlichen Zusammenhängen, "Hass im Netz", dann folge Radikalisierung durch Austausch (etwa bei Telegram; vor einiger Zeit waren es noch "geschlossene Facebook-Gruppen"), und am Ende ergebe das den Mord und Totschlag.
Wollte man aber in dieser Sache konsequent sein, müsste man dann auch wieder mit der Zensur von Kunst und Literatur beginnen, schließlich gibt es auch dort genug verdächtiges Material zu finden (von Goethe über Jan Böhmermanns Erdogan-Gedicht bis hin zu Christoph Schlingensiefs "Tötet Helmut Kohl").
Damit allerdings wäre die Kunstfreiheit abgeschafft und das Land keine Demokratie mehr. Man sieht schon, das Ganze ist eine Zwickmühle und es ist zu bezweifeln, ob sie auf Basis der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung irgend lösbar sein wird.
Wo das Volk als solches – und zwar nicht nur für die Repräsentanten des Staats, sondern auch für sich selbst – eine "Gefahr" darstellt, muss man, es hilft nichts, den zuständigen Kulturbetriebsnudeln, Feuilletonisten, Leitartikelschreibern und Geisteswissenschaftlern wieder zumuten, sich mit den ganz grundlegenden Fragen falscher, das heißt bürgerlicher Vergesellschaftung auseinanderzusetzen.
Es waren Marxisten wie Brecht und Soziologen wie Horkheimer und Adorno, die bereits im letzten Jahrhundert solche Vergesellschaftung als eine immer auch zum Faschismus tendierende erkannt hatten – und zwar eine aus ihrer Mitte kommende, sich nicht unabhängig von dieser an den sogenannten Rändern der Gesellschaft selbsttätig entwickelnden.
Von ihnen jedenfalls wäre keiner so blöd gewesen, sich über eine Handy-App als Ursache für rechte Morddrohungen zu empören.
Es wäre zu begreifen, inwiefern es eben nicht das Internet ist, das die Realität gefährlich macht, wie die Mahnenden angesichts von "Online-Hetze" und "Hass im Netz" raunen, sondern inwieweit die "gefährliche" Realität sich nur im Internet spiegelt.
Es ist also die – gesellschaftliche – Realität, die das Internet zur "Gefahr" macht, nicht umgekehrt. Ich schreibe "inwieweit", ich schreibe nicht "dass".
Es ist klar, dass alle Spiegelung, aller Reflex, Ideologien usw., Realität eben nicht nur ausdrücken, sondern freilich auch reproduzieren. Aber trotzdem bleibt ein Symptom in der Hauptsache nun einmal Symptom, nicht Ursache.
Will sagen: In der Ursache ist das Symptom, das diese dann reproduziert, immer schon mit eingepreist. Betrachtet werden müsste also das Symptom lediglich als Symptom und die wirkliche Ursache als die Ursache.