Beate Zschäpe hatte kein Telegram
Seite 3: Die Hassproduktion läuft auf Hochtouren
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Dass das Symptom auch zu einer Verschlimmerung des allgemeinen Zustands seinen – bloßen – Teil beiträgt, mag man zugestehen. Aber das Symptom – "Hass im Netz" – kann nicht verantwortlich sein für seine Ursache: gesellschaftlich erzeugter Hass.
Und die Hassproduktion läuft innerhalb dieser Gesellschaft – also in den Familien, der Politik, der Schule, den Arbeitsumfeldern usw. – auf Hochtouren.
Dafür benötigt man nun wirklich nicht erst das Internet.
Weder ist die so oft angeführte "strukturelle Gewalt" in der Gesellschaft alleinige Ursache des Internethasses, noch ist dieser deren Ursache: Sie beide sind Resultat eines Dritten, der realen Ursache: bürgerliche Vergesellschaftung, Markt, Konkurrenzkampf.
Weil diese zu übermächtig sind oder scheinen, weil es so vielen zu schwerfällt, ihnen – politisch, materiell – etwas entgegenzusetzen, flüchtet man sich in transzendente Erklärungen: Internetforen, Chat-Gruppen, Apps seien, wenn schon nicht Schuld oder Ursache der missliebigen Erscheinungen, so doch zumindest als Symptom abzustellen, um Schlimmeres zu verhindern.
Aber wie damals das Phänomen der Selbsttötung nicht aus der Welt geschafft wurde, indem man Goethes Werther auf den Index setzte, wird man heute keine Mordphantasien verhindern, indem man Telegram verbietet.
Im Gegenteil würde wohl der Schaden, der damit auch solchen Kräften zugefügt werden könnte, die sich dort etwa gegen faschistische Pogrom-Absichten austauschen und vernetzen, größer sein als der für Rechtsradikale – das ist die Pointe des bürgerlichen Rechtsstaats: Er kann, weil er keinen wirklichen Begriff von Faschismus hat, gegen den Radikalismus von rechts immer nur vorgehen im Verbund mit dem Kampf gegen den als Linksextremismus benannten Antifaschismus, weil ihm beides nur als Extrem erscheint, das seine Mitte bedrohe.
Dass kapitalistische Gemeinwesen jene großzügig als "Grundrechte" gewährten Freiheiten immer nur phasenweise und nicht allen erlauben dürfen, hat Ursache im grundlegenden Prinzip dieser Gesellschaft: als ein stetiges Hangeln von ökonomischer Krise zu ökonomischer Krise, von deren Überwindung immer weniger profitieren und immer mehr zu Schaden kommen, gelten – und das hat man zu Zeiten der Systemkonkurrenz nur zu gern übersehen, Grundrechte wie Kunst- und Meinungsfreiheit in ihr nur in den Perioden zwischen diesen Krisen.
Je größer die Krise, desto strenger die Mittel, dieser beizukommen. Der Staatsumbau von oben zum Schaden der Mehrheit ist in bürgerlichen Staaten immer Programm gewesen, kein Unfall.
Das Kapital pflegt dabei, die ökonomischen Krisen zu verschleiern, etwa mittels "Geldpolitik", Aufrüstung und darauffolgendem Krieg, oder, indem es die Krisen als Naturkatastrophen wie der Corona-Pandemie erscheinen lässt, sodass die wirtschaftlich erzeugten Probleme als soziale erscheinen können, die nur noch entweder individuell oder mittels Ausnahmezustands-Instrumentarium des Krisenstaats zu lösen seien.
Es ist also innerhalb dieser Logik leider konsequent, wenn nun Möglichkeiten des Versammelns und des Austauschs wie Telegram verwehrt werden sollen.
Es ginge, wollte man dagegen als Datenschützer, Kunstfreiheitsverfechter oder Verteidiger der Versammlungsfreiheit etwas unternehmen, um die Infragestellung solcher systemimmanenten Konsequenz, nicht um das Beklagen von Symptomen.
Ausführlich hat sich Marlon Grohn mit dem Thema in seinem Buch Hass von oben, Hass von unten. Klassenkampf im Internet beschäftigt.