"Beendet die Quarantäne und beginnt einen Krieg!"

Siedlungsgebiete der Armenier. Rot: Heute. Braun: Bis 1914 über 50 Prozent Bevölkerungsanteil. Orange: Bis 1914 25 bis 50 Prozent Bevölkerungsanteil. Gelb: Bis 1914 weniger als 25 Prozent Bevölkerungsanteil. Karte: Yerevanci. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Im wiederaufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan hat sich die Türkei hinter den schiitischen kleinen Bruder gestellt - Russland will vermitteln

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Seit Sonntag wird an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder geschossen. Nach einem relativ ruhigen Mittwoch warfen sich die Konfliktparteien am Donnerstag gegenseitig den Artilleriebeschuss von Ortschaften in den Regionen Tavush und Tovuz vor. Die Armenier beklagen einen Beschuss von Berd, die Aserbaidschaner einen von Dondar Gushchu. Bislang scheint allerdings nur ein aserbaidschanischer Zivilist ums Leben gekommen zu sein. Elf der insgesamt 16 neuen Toten waren aserbaidschanische Soldaten, vier armenische.

Eriwan erklärt das Wiederaufflammen des Konflikts damit, dass eine Hundertschaft aserbaidschaniescher Soldaten versucht habe, in armenisches Gebiet einzudringen. Baku bestreitet das. Dort steht die Regierung seit Mittwoch unter dem Druck von Nationalisten, die die Corona-Ausgangssperre brechen und mit dem Slogan "Beendet die Quarantäne und beginnt einen Krieg!" Versuchten, das Parlament zu stürmen. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev sorgte zwar dafür, dass die Polizei dem Krawall ein Ende machte, entließ aber auch seinen Außenminister Elmar Mammadyarov mit der Begründung, dass sich dieser im Konflikt mit Armenien zu defensiv verhalte.

Bergkarabach

Dieser Konflikt begann Ende der 1980er, als es nach Unabhängigkeitsforderungen der armenischen Mehrheit in Bergkarabach zu Pogromen in Sumgait kam, in deren Folge viele Armenier aus Aserbaidschan flüchten. Am 2. September 1991 erklärte sich das autonome Gebiet für unabhängig, worauf aserbaidschanische Truppen einmarschierten und von armenischen Kräften zurückgeschlagen wurden. Diese besetzten aus militärischen Gründen auch einen Korridor zwischen Armenien und Bergkarabach, der jedoch nicht nur aus den zwei 1929 an Aserbaidschan abgetretenen, sondern gleich aus sieben überwiegend von Aseris besiedelten Landkreisen bestand. Bis man 1994 einen Waffenstillstand schloss, wurden bei den Auseinandersetzungen etwa 530.000 Aserbaidschaner aus von Armeniern kontrollierten Gebieten und 250.000 Armenier aus Aserbaidschan vertrieben.

Die Frage der völkerrechtlichen Gültigkeit der Abspaltung Bergkarabachs von Aserbaidschan ist weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheint: Als am 28. Mai 1918 die "Demokratische Republik Armenien" ausgerufenen wurde, die sich flugs der Entente anschloss, da war das ihr im Vertrag von Sèvres zugebilligte Gebiet durch Deportation und Massenmord schon so weitgehend "gesäubert", dass kaum mehr Armenier dort lebten. Entsprechend schwach war der Widerstand, den der junge Staat trotz der Hilfe britischer Truppen Atatürks Konsolidierungsfeldzug entgegensetzen konnte. Schließlich teilten sich im Vertrag von Kars die Türkei und die Sowjetunion das Territorium.

Letztere integrierte das verbliebene armenische Siedlungsgebiet als eigene Republik. 1929 schlug Stalin den Osten dieser armenischen Sowjetrepublik dem benachbarten und damals ebenfalls zur Sowjetunion gehörigen Aserbaidschan zu. Der Korridor um Kelbajar und Lachin wurde direkt integriert, der Rest, das heutige Bergkarabach, wurde autonome SSR ohne territoriale Verbindung zur Armenischen SSR. Ein am 3. April 1990 erlassenes Sowjetgesetz "Über das Verfahren der Entscheidung von Fragen, die mit dem Austritt einer Unionsrepublik verbunden sind" enthielt aber eine Schutzklausel für autonome Gebiete, die im Falle eines Austritts der Republik aus der Sowjetunion per Volksabstimmung über ihren Status entscheiden sollten - was in Bergkarabach 1991 geschah.

Schiitische Türken

Weitgehend im Unklaren ist allerdings die Zukunft des umstrittenen Gebiets, das nur zwischen 140- und 150.000 Einwohner zählt - weit weniger als während des Krieges vertrieben wurden. In Eriwan vermied man bisher den Begriff des Anschlusses und sprach stattdessen von einer "asymmetrischen Konföderation" mit einem unabhängigen Bergkarabach. Anders als im Fall des Kosovo-Gebiets will man aber bei EU und NATO nichts von einer Anerkennung der Unabhängigkeit Bergkarabachs wissen. Hintergrund ist zum Teil die Haltung des NATO-Mitglieds Türkei, das nicht nur einen ungelösten historischen Konflikt mit dem armenischen Volk mit sich herumschleppt, sondern sich auch als Schutzmacht Aserbaidschans begreift, dessen Staatsvolk im Grunde aus schiitischen Türken besteht.

Eine Türkei, die sich in den letzten Jahren unter Recep Tayyip Erdoğan zunehmend vom Westen entfremdete, kann eine Parteinahme für diese schiitischen Türken potenziell offener ausleben als die alte Republik, die noch Hoffnungen hegte, in die EU aufgenommen zu werden. Das erklärt die gestern geäußerte Zusage des türkischen Außenministeriums, man werde Aserbaidschan "mit allen Mitteln im Kampf um den Schutz seiner territorialen Integrität zur Seite zu stehen". Ob damit auch Hilfe für eine Rückeroberung Bergkarabachs gemeint ist, ließ Ankara offen.

Nicht so eindeutig auf eine Seite schlug sich Russland, das früher als Schutzmacht Armeniens galt und dort immer noch Truppen stationiert hat. Man sei, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow "angesichts der Schusswechsel an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze extrem besorgt" und werde die Anstrengungen verstärken, zusammen mit Frankreich und den USA in der Minsk-Gruppe eine Lösung zu finden. Das versuchen die drei Länder allerdings schon seit über einem Vierteljahrhundert. Mit den Ergebnissen hatte sich Aliyev letzte Woche so unzufrieden gezeigt, dass er die Gespräche abbrach und erneute Kampfhandlungen nicht mehr ausschloss.

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