Befehl zu physischer Distanz ist eine Anweisung "von einem anderen Planeten"
Der Fotojournalist, Lehrer und Aktivist Shahidul Alam aus Dhaka, Bangladesch, antwortet auf die Fragen von Olaf Arndt
I. Soziale Distanz
Was bedeutet es für uns, soziale Distanz aufzubauen, wie es die Regierung fordert? Neuankömmlinge in Bangladesch sind stets überwältigt von der Großherzigkeit unserer Dorfbewohner. Sie lieben es, wenn Fremde ihre Hände fest halten, werden aber etwas unsicher, wenn Sekunden, manchmal Minuten vergehen, bevor ihre Hände widerwillig wieder losgelassen werden.
Wenn man in überfüllten Räumen schläft, ist es ganz normal, dass sich Männer und Frauen aneinander schmiegen. Soziale Distanz ist bestenfalls ein niedlicher Ausdruck, wenn das körperliche Ineinander-Verkeilen im Schlaf die tägliche Realität für die große Mehrheit in Bangladesch ist.
Der "Kechki-Stapel" (Gefängnissprache für die Art und Weise, Gefangene wie Sardinen in eine Büchse zu pressen, um in den engen Zellen die maximale Füllung mit Leibern zu erreichen), den ich 2018 im Gefängnis kennen gelernt hatte, bedeutet Körperkontakt der extremen Art. Die Körper-Stapelei war im Gefängnis von Keraniganj an der Tagesordnung. Durch die Gefängnislieder lernte ich den Jargon der Inhaftierten.
Ich erinnere mich, wie der König auf einem fernen Planeten dem Kleinen Prinzen die Gründe für seine Befehle erklärt. "Genau!" sagt der König, "Man kann von jedem nur verlangen, was er auch zu leisten vermag". Der König fährt fort: "Autorität beruht in erster Linie auf Vernunft."
In einer Nation, in der eine soziale Distanzierung nicht durchsetzbar ist, würde es, wenn man es dennoch anordnet, bedeuten, Menschen zum Ungehorsam zu zwingen. Es wäre sinnvoller, einen Befehl zu erteilen, der nützlich ist und auf vernünftige Art befolgt werden kann. Vielleicht, dass die Leute ihre Gewohnheit aufgeben sollen, wahllos zu spucken, oder zumindest zurückhaltender zu spucken. Gefangene, die niemals Gewalt angewendet haben und von denen viele nur deshalb im Gefängnis einsitzen sind, weil sie Regimegegner sind, sollten jetzt einfach freigelassen werden.
Das "große "Kuddelmuddel" (die informellen Schlafsäle), in dem die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesch leben, ist gekennzeichnet durch hochgradig überfüllte Räume, gemeinsame Toiletten und Küchen. Der private Raum ist ein eher elitäres Konzept, mit dem die Armen wenig zu tun haben. Sie wissen, dass die Möglichkeiten für jemanden, der allein sein möchte, begrenzt sind.
Wenn aber das Zusammendrängen auf kleinstem Raum für viele die tägliche Realität ist, dann ist der Befehl zu physischer Distanz eine Anweisung "von einem anderen Planeten".
Nur weil sie aus jedem Quadratzentimeter so viel Nutzen herauspressen, können die Armen mit einem Einkommen weit unter dem Existenzminimum überleben. Die Mittel- und Oberschicht lebt in relativem Überfluss. Ihr Wohlergehen hängt von der Ausbeutung unserer Arbeiter ab. Der parasitäre Lebensstil besser gestellten Schichten ist ein Produkt der Ungleichheit, die ihnen erlaubt, ihren Reichtum endlos weiter zu entwickeln.
Um dieses ungerechte System abzuschaffen, wäre eine Änderung der Gesellschaftsordnung notwendig. Schon die Entfernung nur eines einzigen Fundamentsteins würde das gesamte Kartenhaus zum Einsturz bringen.
II. Plünderung
Der Ladenbesitzer am Straßenrand hat keine Kunden. Trotzdem gibt es keinen Zahlungsaufschub für die Miete oder das "chanda" (Schutzgeld), das er den Schlägertruppen der lokalen Bosse zahlen muss. Die Straßenrand-Restaurants aber ernähren die Arbeiter. Ja, ein enger Kontakt ist riskant. Und die Wascheinrichtungen, weit entfernt von jedem Hygienestandard, bedeuten ein hohes Ansteckungsrisiko. Aber die Leute haben kaum eine Alternative. Der Tod durch Verhungern ist keine bessere Wahl als der Tod durch das Virus. "Gott wird uns retten", sagt einer von ihnen, "welche Hoffnung haben wir noch?"
Die Kinder, die in den Restaurants arbeiten, bekommen "Essen für die Arbeit" im wahrsten Sinne des Wortes. Sie erhalten keinen Lohn. Wenn es Arbeit gibt, werden sie gefüttert. Er ist ein mutiger Junge. Er macht ein tapferes Gesicht dazu, dass er heute hungern wird. Kein besseres Versprechen für morgen. Abriegelung, Händewaschen, viel Wasser trinken, soziale Distanzierung. Ich erkenne die Bedeutung dieser tollen Schlagworte durchaus an. Aber was bedeutet das für die 67 Millionen Tagelöhner in Bangladesch, für die selbst ein Schluck sauberes Wasser Luxus ist?
Jemand spricht unheilvoll das Wort "Plünderung" aus. Ja, da Millionen von Menschen ohne Arbeit sind und vor dem Hungertod stehen, ist Plünderung ein unangenehmes, aber wahrscheinliches Ergebnis.
Ich erinnerte mich an das stoische Gesicht eines Kindes, das Verhungern im Blick. Das ist erst der Anfang. Die eingesunkenen Augen. Der gequälte Ausdruck. Immer mehr wütende Gesichter. Irgendetwas muss passieren. Die Preise schießen bereits in die Höhe. Die Läden sind leer. Die Hungersnot ist bereits im Entstehen.
III. Erhebung
Die politische Bewegung der Emanzipation, die vor fast fünfzig Jahren begann, ist unvollendet. Es ist an der Zeit, die Ketten der Unterdrückung zu zerreißen. Es ist an der Zeit, die Rückgabe der Beute zu fordern. Es ist an der Zeit, die Gültigkeit eines Regimes in Frage zu stellen, das eine parasitäre Elite stützt, die die Nation weiterhin aussaugt. Die Zeit ist reif.
Wie lautet also die Antwort? Kurzfristig könnte es funktionieren, wenn Löhne für den Lebensunterhalt und eine Verteilung von Nahrungsmitteln sichergestellt würden, bis die Pandemie eingedämmt ist.
Diesen Mechanismus hat Mamata Banerjee bereits auf der anderen Seite der Grenze in Gang gesetzt. Aber sie ist natürlich eine gewählte Führerin, der die öffentliche Meinung wichtig ist. In ihrem Fall wäre es teuer, aber bei weitem nicht so teuer wie der vollständige Zusammenbruch des Systems. Unsere Staatskasse ist bereits erschöpft. Sie weiter zu leeren, kann keine Lösung sein. Die Milliarden, die von korrupten Politikern, skrupellosen Geschäftsleuten, selbstsüchtigen (zivilen und militärischen) Bürokraten und deren Kumpanen weggezaubert wurden, könnten leicht dafür und für mehr ausreichen.
Eine zusätzliche Steuerbelastung als Ausgleich für das, was die Elite aus der Staatskasse gestohlen habt, kann nicht die Antwort sein. Das gestohlene Geld zurückzubringen schon. Natürlich gibt es keinerlei sichtbaren politischen Willen, dies zu tun. Nicht, wenn die Stimmen der Ausgeplünderten nicht mehr nötig sind, weil keine Wahl ansteht. Aber es darf nicht zugelassen werden, dass die Interessen einiger weniger Korrupter eine ganze Nation ruinieren. Wenn es keine öffentliche Forderung nach der Rückgabe unserer Reichtümer gibt und der Wille fehlt, dies durchzusetzen, stürzen wir in einen Abgrund.
Wenn es jemals eine Zeit gab, in der sich die Dinge ändern konnten, dann ist es diese. Langfristig muss der Weg weg von einem ausbeuterischen System und hin zu einer totalen Umstrukturierung unserer Gesellschaft verlaufen, in der die Armen endlich als Mitmenschen angesehen werden. Wenn dies geschehen würde, könnte COVID-19 auf lange Sicht sogar ein Segen sein.
Die Plünderer an der Spitze des Staates dürfen keinen Freifahrtschein erhalten. Es ist Zeit, dass wir uns erheben. Es ist Zeit, dass die Plünderungen ein Ende haben.
Am frühen Morgen des 5. Dezember 1990, als wir gerade den autokratischen General Ershad abgesetzt hatten, erinnere ich mich, wie Shimul Yousuf unter den Straßenlaternen in Paltan sang: "Bichar poti tomar bichar korbe jara aj jegechche shei jonota". ("O Richter, die Leute, die Sie vor Gericht stellen werden, sind jetzt auferstanden!"). Leider hat Shimul aufgehört zu singen. Aber wir werden uns erheben.
Teil 1: Das Blatt wird sich wenden. COVID19 als Segen für die Gesellschaft?
Übersetzt von Olaf Arndt