Beirut: Der Zorn kocht hoch
Nach der Katastrophe: Verwüstungen wie im Krieg, politische Sprengladungen
Das Ausmaß der katastrophalen zweiten Explosion in Beirut blieb auch am Tag danach noch buchstäblich unfassbar. Hafenanlagen sind zerstört, verwüstete Stadtteile sehen aus wie im Krieg, noch immer wird nach Überlebenden im Schutt gesucht, die bisherige Bilanz von über 135 Toten, 5.000 Verletzten und 300.000 Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, ist schon erschütternd genug.
Dazu kommt die Sorge über die Corona-Pandemie angesichts überfüllter Krankenhäuser - am 30. Juli wurde wegen steigender Infektionszahlen ein zweiwöchiger Lockdown verhängt. Derzeit zählt man 5.417 Ansteckungsfälle und 68 Tote.
Verheerend fallen erste Einschätzungen zum wirtschaftlichen Schaden der Explosion aus. Der Chef des Gouvernements Beirut, Marwan Abboud, beziffert ihn auf zwischen 10 und 15 Milliarden US-Dollar. Wie soll das Geld ein einem Land beschafft werden, das derart hochverschuldet ist wie der Libanon und dessen Banken in einer Krise stecken, für die es nur Superlative gibt?
Mit welchem Geld wird der Hafen wiederaufgebaut, von dem das Land über 70 Prozent seiner Importe bezieht? Wie sollen Getreidelieferungen bezahlt werden, da laut Schätzungen durch die Explosion 85 Prozent des Landesvorrates zerstört wurden?
Das ist auch eine hochpolitische Frage. Dazu muss man sich nur vor Augen halten, dass bereits die "Bankenkrise", eigentlich ein zu harmloses Wort für einen Absturz ins Bodenlose, in US-Medien mit dem Hizbullah-Problem verknüpft wurde. Und dass man Anfang Juli bei dem Beobachter Ehsani2 lesen konnte, es gebe eine Stimmung im Land, deren Hoffnung sich auf westliche Einmischung richte, und eine Hizbullah, die große Affekte auslöst.
"Wer wird aufgehängt?"
So spielt auch die Geopolitik mithinein in ein Land, wo gerade der Zorn noch weiter hochkocht (siehe: "Whose heads will be hung?" über Proteste, die ein aktueller Guardian-Artikel schildert). Es gab in den vergangenen Monaten bereits Proteste, die sich derart hochschaukelten, dass manche schon einen neuen Bürgerkrieg befürchteten. Zur Unübersichtlichkeit und Verzwicktheit der libanesischen Verhältnisse, die für Insider schon schwierig genug aufzudröseln sind, kommt hinzu, dass von außen politische Interessen hineingetragen werden, die mit Vereinfachungen die Polarisierungen weitertreiben.
Die Hoffnung gegenüber einer möglichen Eskalation durch aufkochenden Zorn wäre, dass sich Solidarität bewährt. Dass sich Stadtteilbewohner bei Aufräumarbeiten zusammentun, ist das Gegenmoment zu den Versuchen, die Katastrophe für weitere Spaltungen zu instrumentalisieren. Auch die Hilfen, die nun aus mehreren Ländern in den Libanon geschickt werden, können da einiges bewirken. Denn es gibt bereits Versuche, Sündenböcke in den jeweils miteinander verfeindeten Lagern zu suchen: die Hizbullah als Verantwortliche für die Hafenaufsicht und dadurch mitverantwortlich für die Katastrophe oder Anschuldigungen, die in Richtung Israel gehen.
Hochgereizte Atmosphäre
Nach dem gegenwärtigen Informationsstand verdichtet sich die Annahme, dass die Einlagerung von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Hafengebäude zur Katastrophe geführt hat. Ein Feuer, das möglicherweise durch "Schweißerarbeiten" in einem nahegelegenen Gebäude ausgebrochen sein soll, sei über Feuerwerkskörper auf das Gebäude übergesprungen ("von Lagerhaus Nummer 9 auf Lagerhaus Nummer 12, Reuters), wo das Ammoniumnitrat gelagert war - so die grobe Kurzform des Ablaufes, wie ihn verschiedene Berichte im Netz, gestützt durch Videos, vermitteln.
(Nachtrag: Eine überzeugende, detaillierte Darstellung des Geschehens, die von der obigen in einigen Punkten abweicht, findet sich bei Elijah J. Magnier.) Er stützt sich dabei auf offizielle Dokumente, aus einem geht hervor, dass es sich um das Lagerhaus 12 und die Tür 9 gehandelt hat. Durch das Einströmen von Sauerstoff durch eine Öffnung in der Tür war das Risiko einer Explosion gestiegen).
Zwischen dem Ausbruch des ersten Feuers und der katastrophalen Explosion verging einige Zeit. Es wurden Feuerwehreinsatzkräfte - nicht nur Männer, wie zunächst fälschlicherweise berichtet, sondern auch eine Frau - zum Löschen hingeschickt. Sie verloren ihr Leben bei den Löscharbeiten, als sich die Großexplosion ereignete.
Dass nun auf sozialen Netzwerken zur Hinrichtung des Chefs der Beiruter Hafenbehörde aufgerufen wird, da er die Männer, wie ihm vorgeworfen wird, im Wissen über die Lagerung des Gefahrenguts in der Nähe in den Tod geschickt hat, dokumentiert einen Ausschnitt der hochgereizten Atmosphäre im Land.
Wie es um die Verantwortlichkeit der Hafenbehörde steht, ist noch nicht aufgeklärt. Zwar war schnell eine behördliche Korrespondenz im Umlauf - hier war Twitter wieder einmal schneller als die Medien und Agenturen - , die deutlich machte, dass die Behörden über die Gefahr der Einlagerung des Ammoniumnitrats sehr wohl Bescheid wussten.
Laut Quellen der Nachrichtenagentur Reuters soll ein Team "das Material" noch vor sechs Monaten inspiziert haben und davor gewarnt haben, dass es, wenn es nicht ausgelagert würde, "ganz Beirut in die Luft sprengen kann".
Das ist das eine. Dass aber dennoch nichts geschah, dass die Säcke mit der Chemikalie nicht an einen anderen Ort gebracht wurden, die Gefahr nicht beseitigt wurde, hat anscheinend mehrere Verantwortliche, auch in der Justiz.
Der Kapitän spricht
Um zu klären, wer alles in das Geschehen einbezogen ist, das zur Katastrophe geführt hat, dafür steht eine längere Aufklärungsarbeit an, da das Ammoniumnitrat schon im Jahr 2014 in den Hafen von Beirut eingeliefert wurde und allein schon dieser Vorgang mit dubiosen Einzelheiten gespickt ist. So tauchte inzwischen ein Interview mit dem Kapitän des Schiffes auf, von dem die gefährliche Fracht übernommen wurde.
Es wurde auf Russisch geführt und wird auf reddit publiziert - und dort mittels Google-Translator ins Englische übersetzt. Man sollte den Aussagen also mit einer gewissen Vorsicht gegenüberstehen. Sie erhärten den Vorwurf, dass Bestechungsgeld eine Rolle spielte und die Vorgänge ziemlich dubios waren.
Doch war vor sechs Jahren schon klar, dass das Ammoniumnitrat, das angeblich aus Georgien stammt, eine Gefahrenquelle ersten Ranges darstellte. Das Schiff "Die Rhosus", angeblich mit einem russischen Besitzer und unter der Flagge der Republik Moldau, das die Ladung an Bord hatte, soll "late 2013" aus Georgien mit Kurs auf Mosambik gestartet sein und wegen technischer Probleme in Beirut Halt gemacht haben, wie die Sidney Herald Tribune berichtet.
Nach diesem Bericht folgten lang andauernde Verhandlungen, die sich über Monate hinzogen. Die genauen Abläufe werden wohl jetzt durch eine genaue Überprüfung geklärt. Das Resultat der Verhandlungen war jedenfalls, dass die Hafenbehörde die Ladung in das Lagerhaus Nummer 12 bringen ließ.