Belarus: Epidemie und Unmut außer Kontrolle
Offiziell geht die Epidemie in Belarus zurück, Präsidentschaftswahlen stehen im August an. Doch das Thema Covid-19 lässt sich nicht einfach verdrängen
Belarus scheint ein Land der Wunder zu sein - die Anzahl der Infizierten liegt bei über 39 000, die der Toten bei 214. Staatspräsident Aleksander Lukaschenko empfahl noch im März Saunagänge, Wodkatrinken und Traktorfahren als Mittel gegen SARS-CoV-2 und sicherte sich so die Schlagzeilen in der westlichen Welt und die Anerkennung als echter Kerl in den ländlichen Regionen seines Herrschaftsgebietes.
Weißrussland ließ die Grenzen und die Schulen offen und feierte als einziges postsowjetisches Land mit Paraden am 9. Mai den 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation gegenüber der Sowjetunion - ohne Sicherheitsabstand und ohne Masken.
Heute hört sich der 65-Jährige etwas verhaltener an, eher wie ein souveräner Landesvater. Aufgrund seines "Aberglaubens", sagt er, sei er nicht so optimistisch, doch die Ärzte hätten in Minsk von einer abflachenden Kurve gesprochen, dort könnte die Gynäkologie und die Onkologie wieder normal arbeiten. Auch sei das Virus weniger virulent geworden, zumindest in seinem Land. Doch noch gebe es keinen Anlass zur Entspannung.
Doch was steckt dahinter? Aufgrund des schwachen Ölpreises geht es dem überschuldeten Land, dessen Raffinerien als wichtige Einkommensquelle gelten, schon lange wirtschaftlich schlecht. Im Januar kam es zum Konflikt mit Russland, das eine nähere Bindung, eine Union, verlangt; der russische Partner kappte die Öllieferungen. Angesichts der wirtschaftlichen Negativ-Prognosen wollte Lukaschenko keinen Lockdown riskieren, der die Präsidentschaftswahlen durch soziales Elend gefährden könnte.
Darum die lockeren Sprüche und auch das Muskelspiel gegenüber dem Nachbarn im Osten, der sich im Lockdown und einem wirtschaftlichen Niedergang befindet.
Das seit 1994 diktatorisch regierende Staatsoberhaupt hat eine Schiffsladung Öl in den USA bestellt, die im Juni in der litauischen Hafenstadt Klaipeda (Memel) ankommen soll, um sich von russischen Importen unabhängiger zu machen und Stärke gegenüber dem Kreml zu zeigen.
Zudem hat Belarus, wie diesen Montag gemeldet wurde, mit China einen neuen Partner in der Entwicklung von Raketentechnik gefunden, auch hier betont Lukaschenko, dass dies ein Schritt zu mehr Unabhängigkeit des Landes sei.
Dank dieser scheinbaren Erfolgsmeldungen sollen nun die Wahlberechtigten unter den 9,5 Millionen Staatsbürger am 9. August den bewährten Präsidenten erneut im Amt bestätigen und sich nicht zu sehr über die Epidemie sorgen.
Viele sind misstrauisch
Doch angesichts der erschreckenden Bilder und Nachrichten aus dem Rest der Welt, trauen viele Weißrussen der eigenen Führung nicht. Sie tragen freiwillig Masken und versuchen, von zu Hause aus zu arbeiten. Viele trauen auch den niedrigen Todesfällen nicht und den Angaben, in den Krankenhäusern sei alles unter Kontrolle.
Dabei hat die Führung in Minsk ein neuartiges Problem, da sowohl die oppositionellen Medien in Weißrussland wie die russischen die Laissez-Faire- Strategie gegen Covid-19 hinterfragen, auch die Unterstützung aus Moskau ist bei diesen Wahlen noch offen. Und die WHO sowie die World Bank machen Druck, die politische Führung sollte stärkere Maßnahmen angesichts der seit Anfang April steil ansteigenden Kurve der Infizierten.
Sputnik Belarus brachte kürzlich eine Geschichte über eine Familie, die mit verschiedenen Missständen in mehreren Krankenhäusern in Minsk konfrontiert waren. Patienten würden unbehandelt entlassen, es fehle an Beatmungsgeräten, Anzeichen auf Covid-19 würden nicht ernst genommen.
Auf der anderen Seite recherchieren immer Journalisten über die Hintergründe der Corona-Epidemie in Belarus. Dazu gehört auch der in Warschau ansässige Sender Belsat TV, der vom polnischen Außenministerium, dem Staatsfernsehen TVP, Großbritannien und den Niederlanden finanziert wird.
"Es gibt in Belarus zunehmend Todesfälle, die offiziell als Lungenentzündung erklärt werden", sagt Redakteur Jakub Biernat auf Anfrage. Der Sender berichtet auch über die Zunahme von Beerdigungen, bei denen teils die Todesursache nicht angegeben wurde.
Die Journalisten von Belsat, der über Satellit empfangen wird, können sich nicht offiziell akkreditieren, was ihre Arbeit illegal macht. Bislang wurden sie beim Filmen von amtlichen Gebäuden oder bei anderen Gelegenheiten mit einer Geldstrafe belegt.
Doch letztens zeigte die Staatsmacht Nerven. Bei einem Protest für den populären Blogger Sjarhei Hajdukevich, der vorher verhaftet worden war, nahm die Miliz auch die anwesenden fünf "illegalen" Journalisten wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration in Haft. Laut Biernat eine "Zäsur". Unter den Verhafteten war auch der Belsat-Reporter Zmicier Lupach, der eine mehrtätige Haftstrafe absitzen musste. Er war schon zuvor wegen einer Recherche zu einem Corona-Ausbruch in einem Fitnesszentrum festgenommen worden.
Covid-19 stärkt die Opposition
Vor fünf Jahren herrschte Resignation - die Wahlen standen noch unter dem Eindruck der Ukrainekrise, vor einem solchen Konflikt hatten sowohl Opposition wie Regierung Angst und gingen eher vorsichtig mit einander um, auch gab es keinen überzeugenden Herausforderer, der nicht im Gefängnis saß (Angst vor ukrainischem Szenario. Doch Corona macht die Zeit vor den Wahlen unruhiger - es kommt wieder zu Protesten auf der Straße.
Der Gewerkschaftler Alexander Jaroschuk schätzt die wirklichen Todeszahlen um zwanzig bis dreißig Mal höher. Er ist einer der 15 von 55 Kandidaten, die sich für die Wahlen aufstellen durften, sie müssen jeweils bis zum 19. Juni 100.000 Unterschriften einsammeln, um wirklich antreten zu können. Unter den bis dahin Qualifizierten sind auch ein Tätowierer, ein Heavy-Metal-Musiker sowie ein Landwirt, der politische Veranstaltungen auch vor Kühen und Gänsen abgehalten hat.
Ernst zu nehmen ist schon eher Andrej Dzmitrjeu von der "Sag die Wahrheit"- Partei, die vor den unruhigen und gewalttätigen Wahl 2010 gegründet wurde. Gefährlicherer Konkurrenten wie der charismatische Sozialdemokrat Mikalaj Statkewitsch sowie der inhaftierte Blogger Sjarhei Hajdukevich wurden erst gar nicht zugelassen. Hajdukevich hat darum seine Ehefrau Svjatlana ins Rennen geschickt.
Das Sammeln von Unterschriften, das sonntags stattfindet, kann auch zur Manifestation von Unmut gegen die Verhältnisse genutzt werden, wozu Stankiewitsch aufruft, der als "Protestkandidat" dennoch Stimmen sammeln will. Stankiewicz war von 2010 bis 2015 wegen Demonstrationen inhaftiert. Er hat auch zu den Protesten am vergangenen Sonntag in Minsk aufgerufen, bei denen etwa 1000 auf die Straße gingen - was noch nicht wirklich viel ist.
Doch diesmal ist mit dem Virus ein neuer Faktor ins Spiel gekommen, dessen Verbreitung nicht eingedämmt wurde. Und mit dem Ansteigen der Covid-19-Fälle scheint auch ein Lockdown der Unmutsäußerungen nicht mehr möglich zu sein.
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