Belarus, der Bundespräsident und die Opposition
Die unübersichtliche Situation in Weißrussland wird nicht klarer, führt man sich Stellungnahmen der deutschen Politik vor Augen. Einig ist man sich sicher bezüglich der Verurteilung von Gewalt gegen Protestierende
Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka bzw. Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko (Bundeskanzlerin Merkel: Er ist noch immer da), seit 26 Jahren Präsident des Landes zwischen NATO-Staaten und Russland, beging wohl einen schweren politischen Fehler, für die Wahl keine Wahlbeobachter der OSZE einzuladen.
In früheren Wahlen, als er gegen eine zerstrittene Opposition sicher im Sattel saß, war das nicht der Fall. So erreichte er vor zehn Jahren und von ausländischen Wahlbeobachtern unbestritten, rund 79% der Stimmen. Hinter die 80% vom 9. August dieses Jahres darf man also getrost Fragezeichen setzen. Dennoch ist "er noch immer da", wie Kanzlerin Merkel nüchtern konstatierte. Auch das Ergebnis seiner Herausforderin Swetlana Tichanowskaja, welche diese Zahl ebenso für sich beansprucht und daraus aus dem litauischen Exil heraus Anspruch auf das Präsidentenamt erhebt, ist mit derselben Berechtigung zu hinterfragen.
Die Zufriedenheit in der Bevölkerung mit Lukaschenko ist dessen ungeachtet zweifellos gesunken. Neben dem Abnutzungseffekt des Autokraten, der längst den Nimbus des gütigen Landesväterchens verloren hat, dürften weitere Gründe hinzukommen. Einer davon heißt Corona. Das Virus existierte in der Vorstellungswelt des Allmächtigen in Belarus nicht. Eines Machthabers, der per Dekret selbst Kleinigkeiten bestimmt. Geht jedoch etwas schief, sind alle schuld.
Ausgewechselt wird aber stets die untere Ebene. Nie aber der Inhaber des höchsten Staatsamts mit der Deutungs- und Entscheidungsmacht zu gleichfalls Allem und Jedem. So liegen für ihn eben keine Corona - Fälle in den Krankenhäusern, sondern einfache "Lungenkranke". Das ist zwar nicht falsch, aber eben nicht einmal die halbe Wahrheit. Ein Notarzt, der öffentlich an dieser "Wahrheit" zweifelte, wurde entlassen. Dagegen regte sich öffentlicher Protest. Unterschriften wurden gesammelt.
Erstmals bei einer Präsidentenwahl bildeten sich auch an vielen Orten Menschenschlangen zur Abgabe von Unterschriften für Oppositionskandidaten. Die Menschen verlieren trotz Drucks ihre Angst. Denn leicht verliert man im östlichen Nachbarstaat Polens den Job oder gar die Freiheit.
Die Abhängigkeit von Belarus
Dennoch ist vieles anders geworden im Staate Lukaschenka. Die Ökonomie läuft im Vergleich zu früheren Jahren schlechter. Ein Grund ist das Thema Energie. Putin ist im Gegensatz zu vielen landläufigen Meinungen keineswegs der gute Kumpel und Schutzpatron des Herrschers in Minsk. Moskau ist durch ihn seit Jahren eher genervt, obgleich Belarus ökonomisch und energiewirtschaftlich eng auf Russland angewiesen ist.
Lukaschenka versuchte dennoch, Putin durch Energieverträge mit Polen und mit dem Kauf US-amerikanischen Öls zu erpressen. Diese Strategie ging gründlich schief. Die Energieeinigung im Februar dieses Jahres brachte nicht den von ihm erhofften belarussischen Erfolg, russisches Gas zu dortigen Inlandspreisen kaufen zu können. Der Gaspreis bleibt 2020 unverändert bei rund 127 US-Dollar. Ausgesetzt sind auch die Gespräche über Millionen Tonnen zollfreien Öls.
Das bedeutet einen herben wirtschaftlichen Verlust für Belarus. Von 2017 bis 2019 hat Belarus in Form von sechs MillionenTonnen zollfreien Öls noch Kompensationen erhalten, die der Staatshaushalt dringend benötigte und die jetzt fehlen.
Daher lesen sich Forderungen der belarussischen Opposition, die ökonomischen Verbindungen mit Russland zu kappen, als solche aus einer anderen Welt, in welcher die Realität ausgeknipst wird. Sie will zurück zu Zöllen und zur Kündigung sämtlicher Abkommen mit Russland. Dies hätte für Belarus verheerende Folgen.
In diese Wunde legt Lukaschenka bereits die Finger und betont die "Unbegründetheit" der Forderungen. Genüsslich betont er, das "Zollabkommen" existiere infolge der eurasischen Union nicht mehr. Und hat Recht damit. Der nationalistische Maßnahmenkatalog entpuppt sich an vielen Punkten als Geplapper.
Die Sprachenfrage in Belarus
Gefährlicher für die selbst ernannten Wahlgewinner sind auch deren sonstige Forderungen, die bevorzugt in englischer Sprache veröffentlicht werden. Nicht auf Russisch, das die große Mehrheit der Belarussen als Muttersprache spricht. Selbst Lukaschenka, so wird kolportiert, beherrscht die Sprache der nationalen Minderheit nicht.
Um so undurchdachter erscheinen die von der Opposition geforderten "Maßnahmen bis 2021". So will man Russisch als Amtssprache völlig absetzen. Russischsprechende Behörden und Beamte sollen bestraft werden. Das gesamte Erziehungssystem, vom Sekundarbereich bis hin zu den Universitäten, sei zu "belarussifizieren". Ebenso Bücher, Medien, Kultur und Religion. Das aber ist der Stoff des Maidan in der Ukraine, der zum Bürgerkrieg führte.
Aus diesem Grund sollte eigentlich erwartet werden, dass westliche Politiker aus dieser Erfahrung lernen. Umso erstaunlicher, dass der deutsche Bundespräsident laut Reuters die Forderungen der belarussischen Opposition "unterstütze".
Dies hat Steinmeier in dieser Form, zwar nicht gesagt, sondern "lediglich" die Polizeigewalt nach Bekanntgabe der "Wahlergebnisse" verurteilt. Allerdings weicht der Bundespräsident beharrlich der Frage aus, wie er denn zur Reuters-Überschrift steht. Welche Forderungen der Opposition will er unterstützen, wie und weshalb? Als ehemaliger Außenminister, der eng in den Maidan-Putsch verstrickt war, sollte ihm die Antwort doch leicht fallen. Wir fragen weiter nach. Denn ein klares Dementi der Reuters-Meldung gibt es noch immer nicht.
Gibt es eine Lösung?
Die Beantwortung dieser Frage liegt ungeachtet der Steinmeiers eher im Westen, wo sonst der Schlüssel in Moskau liegt. Allein ein Blick auf die Karte zeigt, dass Russland nie und nimmer Amerikaner und amerikanische Kurzstreckenraketen an der belarussisch-russischen Grenze, knapp 500 km westlich von Moskau entfernt, akzeptieren könnte. Und der Forderung nach Schließung russischer Militäreinrichtungen in Belarus geostrategisch nie und nimmer nachkommen wird. Sollten NATO und EU analog zur Ukraine davon träumen, wäre dies ein gefährlicher Traum. Und wohl ohne jede Übertreibung eine Gefahr für den Weltfrieden. Russland hat gelernt, westlichen Zusicherungen zu misstrauen.
In Bezug auf die Person Lukaschenka wäre die Problemlösung einfacher. Die Klärung von Verfassungsfragen und OSZE-überwachte Wahlen könnten seinen Hals nochmals retten. Entweder im Amt oder mit ehrenvollem Abgang. Mit Gezündel ist dies aber nicht erreichbar. Deshalb wird man mit ihm reden müssen. Ob man den Herrn mag oder nicht.
Ginge es dem Westen tatsächlich "nur" um Demokratie und Freiheit könnte er sich damit anfreunden. Zu befürchten ist allerdings, dass wieder einmal der Wunsch nach "Regime change" ohne die Frage eines "was kommt danach?" dahinter steckt.