Ben Ali, die Studenten, die Mafia und Anonymous
Die sozialen Unruhen in Tunesien könnten dem Alleinherrscher gefährlich werden. Zensurmaßnahmen und das Schweigen der ausländischen Medien schirmten die Proteste von einer größeren Öffentlichkeit ab. Das ändert sich jetzt
Man glaubt sich in aufgeklärten Zeiten; das verhindert aber nicht, dass billige Theaterkulissen wirksam als Realität verkauft werden. So etwa, wenn es um Tunesien geht. Tunesien wird als wirtschaftlich prospierendes Land dargestellt, als eine Oase der Stabilität in einer Region, für die das nicht selbstverständlich ist. Doch ist die Darstellung Fassade. Das Dahinter zeigt sich als Billiglohnland, Polizeistaat und Journalisten- Gefängnis. Das schreckt ab. Von solchen Realitäten will man nicht viel wissen. Der Ferienhimmel über dem Billigtourismusland soll ungetrübt bleiben, ebenso die lukrativen Handelsbeziehungen mit Europa. Das wäre eine Erklärung dafür, weshalb man in den Medien hierzulande kaum etwas von den Unruhen erfährt, die sich in Tunesien seit dem 19. Dezember aufschaukeln.
Die gute Nachricht zuerst. In Tunesien gibt es viele Hochschulabgänger mit Abschluss, von 80.000 ist die Rede. Eigentlich ist das doch erstrebenwert, in Zeiten in denen von Bildungsmisere die Rede ist und von der Angst vor unzähligen jungen Menschen ohne ausreichende Qualifikationen, besonders in islamischen Ländern, die ein besonders großes Potential an jungen Unzufriedenen haben. Ein Potential, das mangels richtiger Ausbildung zur Beute extremistischer Rattenfänger werden könnten, so lautet die vielgehörte Furcht.
Die tunesische Wirtschaft kann mit den Hochschulabsolventen anscheinend wenig anfangen. Davon zeugt etwa die chronisch hohe Arbeitslosigkeit, die seit Jahren bei etwa 14 Prozent liegt. So klingt die Rede vom prosperierendem Land höhnisch für die, die sich ein besseres Leben nach der Universität erwartet haben. Das viele Geld fließe nur dem „Mafiaküngel“ an der Staatsspitze zu, dem seit 23 Jahren despotenähnlich regierenden Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali und dessen Kreisen, die Chancen werden untereinander verteilt, so fassen junge Tunesier die Lage des Landes zusammen. Hochschulabsolventen seien oftmals dazu gezwungen, sich ihr Überleben mit billigen Brotjobs zu sichern.
So auch Mohamed Bouazizis, der Mitte Dezember mit dem Versuch, sich selbst anzuzünden, ein Zeichen setzen wollte. Die Polizei hatte Obst, das er an der Straße verkaufen wollte, konfisziert, mit der Begründung, dass er keine Genehmigung habe. Der Obstverkauf war die einzige Einnahmequelle des jungen Mannes, der eine Familie zu ernähren hatte; eine andere Arbeit hatte der Mann nicht gefunden. Eine Biografie, die auf ähnliche Art offensichtlich viele teilen; auf jeden Fall die Verzweiflung, der Frust und die Wut, die aus solchen Lebensläufen entsteht. Mohamed Bouazizis dramatischer Akt führte zu Unruhen hunderter Jugendlicher in Sidi Bouzid, Hauptstadt der gleichnamigen Region, die etwa 200 km südwestlich von Tunis liegt.
Zwei weitere Selbstmordversuche folgen, die Demonstrationen weiten sich aus (gute Zusammenfassung der Abläufe hier und Karte hier). Die Polizei greift mit aller Härte durch, setzt Tränengas und Knüppel ein, verhaftet viele. Das bringt einen Prozess in Gang. Die politische Situation, in der sie leben, wird den Jungen drastisch vor Augen geführt, gleichzeit schwindet die Angst, das Verlangen seine eigene Haltung zur sich schamlos bereichernden Autokratie in Tunesien zu äußern, wächst.
Ich habe gesehen, wie die Angst eine ganze Bevölkerung niederzwingt, ich habe die tägliche Gehirnwäsche durch die klassischen Medien gesehen, ich habe die Konditionierung erlebt, die die Bevölkerung sich auferzwingt, um die Realität zu akzeptieren. [...] Und dann hab ich gesehen, wie die Jugend aufwacht. Wie sie sich von der Aufsicht der Zensoren befreit und das Web 2.0 nützt, um sich zu emanzipieren. [...] Der Überdruss wird in allen sozialen Schichten geteilt und normale Leute gehen jetzt auf die Straße, um ihre Meinung kundzutun..mehr und mehr befreien sich die Zungen.
Anis Ibn Baddouda, Blogger
Die als unangemessen hart empfundene Reaktion der Staatsgewalt führt zu solidarischen Unterstützung der Proteste; Anwälte stellen deutlich sich auf die Seite der Jungen. Auch ihrem Protest wird hart, mit Mitteln des Polizeistaats, begegnet. Aus dem Protest, der sich an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Hochschulabsolventen entzündet hat, wird eine Oppositionsbewegung gegen die Regierung, gegen Ben Alis Ausbeutung des Landes und dessen Bevölkerung. Die Proteste können nicht unterbunden werden und gehen bis heute weiter.
Wie das Autokraten so passieren kann, schätzt Ben Ali die Lage falsch ein: Er unterschätzt, zumindest anfangs, den Impetus und das Potential der Unruhen und reagiert, comme d'habitude, mit Härte und Floskeln, die in die Irre führen sollen.
Nach Massenprotesten gegen die hohe Arbeitslosigkeit in Tunesien hat Machthaber Zine el Abidine Ben Ali eine strenge Bestrafung der Verantwortlichen angekündigt und zur Ruhe aufgerufen. Das Recht werde gegen "eine Minderheit von Extremisten" zum Einsatz kommen, die zu "Gewalt und Chaos" anstachelten.
Die Strategie Ben Alis ist durchschaubar. Er rückt die Proteste in die extremistische Ecke, der „Kampf“ gegen sie wird damit zu einer Variante des „War on Terror“, obwohl die Proteste gar nichts mit einem irgendwie islamistisch gefärbten Motiv zu tun haben. Ein Kalkül, das damit verbunden ist, geht auf: die westlichen Medien belästigen ihre Öffentlichkeit nicht mit solchen Geschichten eines muslimischen Landes, das als Oase des Friedens gilt - und gelten muss, der Tourismus ist eine der Haupteinnahmequellen Tunesiens.
Um zu vermeiden, dass die von oben verzerrte Darstellung der Wirklichkeit nicht gestört wird, entschied sich Ben Ali für Zensur. Laut Reporter ohne Grenzen verhängt er eine Nachrichtensperre, zensiert Blogs, YouTube, Dailymotion und versucht Kommunikationsverbindungen wie z.B. Voice over IP zu stören - wie auch Facebook, wo sich Unterstützer austauschen. Vermutet wird gar, dass Facebook- Konten von der Polizei übernommen wurden. Ausgeschaltet wurde übrigens auch TuniLeaks, das sich jenen Wiki- Cables widmete, die über Tunesien berichteten und das Land immer anders darstellten, als es Ben Ali sehen will, z.B. als Polizeistaat.
Operation Tunisia
Ben Alis diktatorisches Vorgehen gegen die Presse- und Meinungsfreiheit könnte sich als fataler Fehler erweisen: Denn damit mobilisiert er neuen Widerstand und neue Kräfte. Es entwickelt sich peu à peu ein Informationskrieg, manche sprechen bereits von einem „Cyberwar“. Seit gestern hat sich auch Anonymous eingeschaltet (siehe dazu auch Tunesien zensiert, Anonymous erwidert). (Ob es sich dabei wirklich um jene Gruppe handelt, die im Zusammenhang mit WikiLeaks bekannt wurde - und Aktionen gegen PayPal, Mastercard usw., kann nicht mit vollkommener Sicherheit bestätigt werden, aber die verlinkten Websites und Nachrichten deuten schon daraufhin). In einer Presseerklärung, die heute von Anonymous auf deutsch verschickt wurde, heißt es:
Die Politik von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali ist für die Bürger nicht mehr ertragbar. So kommt es nun zu einem Protest in einem arabischen Land, der sich das erste mal nicht gegen eine Besatzungsmacht sondern gegen die eigene Regierung erhebt. Das auf die Unruhen folgende Stillschweigen der Presse und die Zensurversuche haben uns als Kollektiv auf Tunesien aufmerksam gemacht. Die 'Operation Tunisia' war geboren.
Ziel von "Optunisa", so Anonymous, sei Presse- und Meinungsfreiheit für die tunesischen Bürger zu erlangen und jegliche Zensurversuche zu unterbinden. Dazu werde man „mit der bereits bekannten Methode der virtuellen Sitzblockade in Form einer 'Distributed Denial of Service Attacke' arbeiten“:
Wir behalten es uns auch vor den Inhalt von Regierungsseiten zu verändern. Viele Regierungsseiten sind bereits unter der Last unserer Anfragen zusammengebrochen und es werden noch weitere folgen. Solange bis die Regierung von Tunesien einsichtig wird. Wir unterstützen die tunesische Bevölkerung gegen die Unterdrückung ihrer Regierung. Das ist das Mindeste was wir tun können.
Gestern berichtete Anonymous von acht Regierungssites, darunter auch eine Börsensite, die man blockiert habe.