Berlin wird wieder zur Hauptstadt des Chaos

TCP-Hijacking und MP3-Psychoakustik auf dem 17. Chaos Communication Congress der Hackerszene

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Was passiert, wenn Freaks, die sich nur über Emailkürzel und Botschaften auf dem Bildschirm kennen, plötzlich im realen Leben auf engstem Raum drei Tage lang aufeinanderprallen? Von Mittwoch an wird im Haus am Köllnischen Park in Berlin-Mitte mal wieder "der Ernstfall geprobt", verkündet Andy Müller-Maguhn, Sprecher des Chaos Computer Clubs. Doch nicht die x-te Staffel von "Big Brother" wird kurz nach Weihnachten in der Hauptstadt gedreht. Vielmehr lädt Europas größte Hackervereinigung zum 17. Mal zum Chaos Communication Congress (27., 28. und 29. Dezember 2000), einer Mischung aus kultvoll zelebriertem Szenetreff und techno-politischem Debattierclub vor den virtuellen Lagerfeuern auf den Screens.

Eng wird es werden in der ehemaligen SED-Kaderschule, falls die erwarteten 2500 Besucher wieder 1000 Rechner auf 1000 Quadratmetern unterzubringen versuchen wie im vergangenen Jahr. Da den meisten Hackern die orange-plüschigen Sessel in der Aula des Congresszentrums aber in den vergangenen zwei Jahren ans Herz gewachsen sind, wurden alle Überlegungen zum Wechsel in einen größeren Veranstaltungsraum beiseite gewischt. Im Vorfeld kursierten allerdings einige Vorschläge zur Begrenzung des Gerätewildwuchses: Manchen schwebten Eintrittspreise vor, die nach Volumen oder Gewicht der angeschleppten Ausrüstung bemessen werden sollten. Andere forderten, Linux-Rechnern Vorrang vor "Windosen" einzuräumen.

Auch wenn die Pläne wieder verworfen wurden - ausgebucht sind die Plätze im zweistöckigen Hackcenter schon seit einigen Tagen. Wer mit dem Laptop anrückt, könne sich aber noch ins Chaosnetz einloggen, verrät die Congress-Webseite. Eine 34-Megabit-Standleitung soll diesmal dafür sorgen, dass die Reisen ins weltweite Datennetz mit Hochgeschwindigkeit erfolgen können. Im vergangenen Jahr hatten die zu spät Gekommenen improvisiert und in den Gängen Biertische mit ihren schweren Geräten beladen. Vielleicht war ihnen aber auch die Luft im "Pumakäfig", wie das von vielen auswärtigen Gästen auch gleich als Schlafplatz genutzte und nach wenigen Stunden an den Tiergarten nach der Loveparade erinnernde Hackcenter von seinen Insassen nur liebevoll genannt wird, einfach zu schlecht gewesen.

Im Häcksencenter riecht es besser

Wem das Gemisch aus Schweiß, süßlichem Rauch und vor sich hin müffelnden Pizzaresten zu viel wird, kann auch in diesem Jahr wieder in das Häcksencenter ausweichen. Die Hackerinnen werben mit dem "unschlagbaren Vorteil" eines Raumes, in dem sich überwiegend Frauen aufhalten: "Es riecht besser!" Und falls der ein oder andere Hacker doch einmal eine Pause vor dem Bildschirm einlegen und Sozialkontakte knüpfen wolle, brauche er dort nicht so lange nach einer Freundin zu suchen. Auf dem Programm der Häcksen steht ansonsten Massage, MUDs und Löten. Bleibt nur zu hoffen, dass das Damenkränzchen dieses Jahr nicht wieder durch Platzhirsche gestört wird. 1999 gelang es den Häcksen erst nach längeren Diskussionen, ihren Workshopraum männlichen Kollegen abzuringen, die sich aufgrund der allgemeinen Enge mit ihren Rechnerungetümen in der "Besserwisserfreien Zone" breitgemacht hatten.

Der Congress soll aber auch in diesem Jahr nicht nur eine riesige europäische Hackerparty mit viel Spaß am Gerät werden, sondern "professionell Wissen vermitteln und Raum für Diskussionen über die techno-soziale Entwicklung bieten", erklärt Müller-Maguhn, der trotz seiner neuen Verpflichtungen als Icann-Direktor wieder die inhaltliche Planung des Kongresses übernommen hat und gerade noch Workshops und Vorträge in einen halbwegs geordneten Ablaufplan einzubauen versucht. Hacken nach CCC-Manier habe schließlich wenig mit Viren-Schreiben oder Einbrüchen in Rechnersysteme zu tun, sondern "viel mit Informationsfreiheit und einem Anspruch auf selbstbestimmtes Handeln".

Die bevorstehenden Sicherheits-Albträume

So wird es dieses Jahr wieder eine Reihe von Veranstaltungen geben, in denen es um die hohe Politik geht. Simon Davies etwa, der glatzköpfige Organisator des britischen Big-Brother-Awards, wird zusammen mit Kollegen, die hier zu Lande die Kür der schlimmsten Datenschutz-Feinde übernommen haben, über "Sammeln, speichern, verarbeiten, abwiegeln und abstreiten" philosophieren. Denn auch wenn die meisten Fernsehzuschauer bei Big Brother nur noch Container verstehen, haben die von der elektronischen Datenverarbeitung ausgehenden Gefährdungen der Privatsphäre nach Ansicht der Hacker längst Orwellschen Charakter angenommen. Aufklären wird daher CCC-Veteran Frank Rieger auch über Datenschutzprobleme rund ums mobile Internet.

Für Paranoiker ein "Muss" sind zudem Vorträge über die "bevorstehenden Sicherheits-Albträume" oder die ständig zunehmende Telekommunikationsüberwachung. Nahrung für die Befürchtungen der Hacker hat wie auf Bestellung soeben der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Joachim Jacob, geliefert: Seinen Angaben nach ist allein von 1998 auf 1999 die Zahl der richterlich angeordneten Telefonbespitzelungen von 9800 auf 12 600 gestiegen. Doch nur Lamentieren ist den Datenreisenden zuwenig: Vorgesehen ist auch ein Workshop, der zum "Belastungstest an Überwachungseinrichtungen" aufruft. Handarbeit erfordern wird auch die Olympiade der Schlossöffner, die zum vierten Mal stattfindet: Beim "Lockpicking" geht es darum, mit möglichst viel Gefühl und minimalem Werkzeugeinsatz ganz normale Ketten- und Haushaltsschlösser aufzubekommen.

An eher technische Naturen richten sich Vorträge rund um TCP-Hijacking, MP3-Psychoakustik oder das nächste Internetprotokoll (IPv6). Der Düsseldorfer Programmierer Werner Koch wird zudem sein auch vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt Gnu Privacy Guard (GNUPG), einer genuinen Open-Source-Alternative zum Verschlüsselungsprogramm PGP, vorstellen. Gegnern des traditionellen Urheberrechts empfiehlt sich dagegen das gemeinsame Brainstorming über "die Freiheit der Bits und die Finanzierung der Künstler".

Nicht ganz frei sein wird dagegen der Eintritt zum Hackerspektakel. Eine Tageskarte kostet dieses Jahr immerhin schon 30 Mark, der Gesamtpass für die dreitägige Sause schlägt mit 60 Mark zu Buche. Journalisten, mit denen sich der CCC in einer Art Hassliebe verbunden fühlt, "Reiche Leute" und Spione aus Unternehmen müssen deutlich mehr zahlen: zwischen 90 und 2300 Mark will der Verein der kreativ-kritischen Technikfreaks diesen Zielgruppen abknöpfen.