Berliner Verfassungsschutz im Kampfmodus: Extrem ist, gegen Krieg zu sein
Der Inlandsgeheimdienst hat nicht nur "Putin-Freunde" im Visier. In Berlin eckte sogar eine Gruppe mit einer Aktion gegen Gazprom an. Das sind die Hintergründe.
Heftige Kritik übt Jan Hansen an dem Ende Juni veröffentlichten Berliner Verfassungsschutzbericht. "Der Berliner Verfassungsschutz beobachtet ausgerechnet eine der wenigen Organisationen aus der Friedensbewegung, die sich vom Beginn der russischen Invasion an gegen den verbrecherischen Angriffskrieg stellt", moniert der Aktivist der Antimilitaristischen Aktion Berlin (Amab) gegenüber der Tageszeitung Neues Deutschland.
Die Gruppe junger Antimilitaristen und Pazifisten hat wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine unter dem Motto "Gaz Off" eine Protestaktion vor der Gazprom-Dependance in Berlin-Kreuzberg organisiert. Sie forderten die Schließung der damals noch funktionierenden Erdgas-Pipeline Nordstream 1 und den Stopp aller russischen Gaslieferungen als Alternative zu Waffenlieferungen.
"Statt weiter aufzurüsten, müssen wir die Geldströme nach Russland stoppen, weil damit der Krieg in der Ukraine finanziert wird", hieß es im Amab-Aufruf. Stattdessen sollten Erneuerbare Energien ausgebaut und die Wirtschaft unabhängig vom Öl und Gas werden.
Das sind doch Töne, die man auch bei der Bundesregierung hört. Trotzdem ist die Protestaktion, die viel Zustimmung auch bei Anwohner:innen der Gazprom-Filiale fand, im aktuellen Berliner Verfassungsschutzbericht unter der Rubrik Linksextremismus aufgelistet.
"Vereinzelt kam es zu Protestaktionen vor und zu Sachbeschädigungen an russischen Einrichtungen bzw. Unternehmen. So wurde im Februar die Konzernzentrale von "Gazprom" wiederholt angegriffen", heißt es dort. Hansen vermutet, dass die Amab ins Blickfeld der Dienste geriet, weil sie die Kappung der Gasleitung gerade als Alternative zu einer militaristischen Politik beschrieben hat.
Der Berliner Verfassungsschutz konstatiert schließlich, dass die Reaktionen der linken Szene auf den russischen Einmarsch in die Ukraine unterschiedlich ausgefallen ist. "Auf der einen Seite wurde Russland als Aggressor gebrandmarkt. Auf der anderen Seite wurden potenzielle Reaktionen der Nato sowie Waffenlieferungen an die Ukraine und eine geplante Aufrüstung der Bundeswehr scharf kritisiert", heißt es dort.
Pazifistische Parole im Verfassungsschutzbericht hervorgehoben
Hervorgehoben wird die Forderung aus einem linken Twitter-Kanal: "Für den Aufbau einer internationalen Anti-Kriegsbewegung. Kein Cent, kein Mensch für diesen Krieg, für die Nato und die Bundeswehr". Dass solche pazifistischen Parolen verfassungsschutzrelevant sind, kritisiert der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader. "Offensichtlich wird das Feindbild Linksextremismus vom Verfassungsschutz weiter gepflegt.
Leider ist das kein Einzelfall. Das kommt dabei heraus, wenn man einem unkontrollierbaren Geheimdienst die Deutungshoheit über die Frage gibt, wer Demokrat ist und wer nicht", erklärt Schrader gegenüber Telepolis.
Er kündigte an, den Fall im Ausschuss für den Verfassungsschutz nach der Sommerpause zu thematisieren. Auch die Sprecherin für Fragen des Verfassungsschutzes in der Fraktion der Grünen, June Tomiak, erklärte gegenüber Telepolis, dass sie sich diesen VS-Eintrag "parlamentarisch widmen" werde. "Kreativen Protest in einer losen Aufzählung mit Angriffen und Sachbeschädigungen an russischen Einrichtungen und Unternehmen zu nennen, ist mehr als fragwürdig vom Berliner VS", so ihr Kommentar.
Niklas Schrader sieht durch die Erwähnung im VS-Bericht die Gefahr, dass linke politische Aktivist:innen diskreditiert werden. Da betrifft nicht nur die Amab. So wird im VS-Bericht aufgeführt, dass die postautonome Interventionistische Linke auf ihrer Homepage den "Aufbau einer lebendigen und internationalistischen Bewegung gegen Militarismus und Krieg" gefordert hat und feststellte, dass der Aufrüstungstaumel "von den dringend notwendigen Kämpfen gegen Klimakrise, Rassismus, Pflegenotstand oder Mieteinwahnsinn" ablenke.
Wenn der VS dann realistisch feststellt, dass "aus solchen Ankündigungen kaum tatsächliche Aktivitäten" resultieren, wird auch deutlich, dass hier schon mal präventiv Antimilitaristen und Pazifisten beobachtet werden.
Graswurzelrevolution ist verfassungsrelevant
Auch die Monatszeitschrift Graswurzelrevolution, die seit über 50 Jahren für eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft streitet, taucht immer wieder in Verfassungsschutzberichten auf. Im neuen, bundesweiten Verfassungsschutzbericht wird auch eine Podiumsdiskussion zum Thema Pazifismus und gewaltfreier Widerstand in Zeiten des Krieges aufgeführt, die von der Graswurzelrevolution auf der anarchistischen Buchmesse in Mannheim 2022 zum 50, Jubiläum der Zeitschrift organisiert wurde.
Die Redaktion hat sich immer wieder kritisch mit dem Verfassungsschutz auseinandergesetzt. Im Gespräch mit Telepolis betonte Redakteur Bernd Drücke, dass hier die Abschaffung des Verfassungsschutzes gefordert wird. Die dann frei werdenden Gelder sollten für Zwecke der Bildung ausgegeben werden.
"Wenn Du im Verfassungsschutzbericht stehst, werden Dir bestimmte Möglichkeiten entzogen" betont Drücke. So wird unsere Homepage durch eine bestimmte Software blockiert, was dazu führt, dass sie in vielen Schulen nicht zu lesen ist."
Besonders empörend findet es Drücke, dass linke Organisationen, die eine menschenfreundliche Gesellschaft anstreben, im Zuge der Extremismusdoktrin mit Neonazis gleichgesetzt werden. "Das ist eine Verharmlosung von faschistischen Organisationen", so der Graswurzel-Redakteur.
Gut erinnerlich ist Drücke ein Foto in einem Verfassungsschutzbericht, auf dem das Logo der Graswurzelrevolution, das zerbrochene Gewehr auf schwarzem Stern neben Hakenkreuz-Symbolen von Hammerskins und Neonazis abgebildet war. Damals hatte die Redaktion sogar überlegt, ob sie eine Klage gegen den VS anstrengen sollte, sich dann aber dagegen entschieden.
Für Drücke ist es eine Aufgabe der Zivilgesellschaft, dem VS Grenzen aufzuzeigen und für die Abschaffung zu kämpfen. Dabei habe sie ein gutes Argument, erinnert Drücke daran, dass es in der Zeitung als das Grundgesetz verabschiedet wurde, noch keine Armee in Deutschland gab. Die wurde erst in den 1950er-Jahren gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung gegründet und sollte ursprünglich sogar "Neue Wehrmacht" heißen. Ist nicht eigentlich die Bundeswehr verfassungswidrig?