Berlins peinliches Leugnen des Scheiterns in Afghanistan
Die Debatte um die Beteiligung am Nato-Einsatz in Afghanistan zeigt das Maß an Realitätsverlust bei den Regierungsparteien - oder der Propaganda
Selten zeigt sich die Differenz zwischen politischem Diskurs und Realität so deutlich wie bei der deutschen Afghanistan-Politik: Während das zentralasiatische Land 15 Jahre nach der westlichen Militärintervention (und früherer Destabilisierung) nach Angaben der Vereinten Nationen und internationaler Menschenrechtsorganisationen im Chaos versinkt, übten sich führende Vertreter der Bundespolitik unlängst in Durchhalteparolen. Auf dieser Basis wurde die Nato-Mission "Resolute Support" am Donnerstag um ein Jahr verlängert.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte sich in einem Schreiben wenige Tage zuvor bereits an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen gewandt. Angesichts des offensichtlichen Scheiterns der westlichen Besatzungspolitik versichert der Sozialdemokrat, die NATO habe nun ihren "Operationsplan überprüft" und "Ausbildungs- und Beratungsleistungen konkretisiert", um "die erreichten Fortschritte zu vertiefen und abzusichern".
Dabei stand das Ergebnis der Abstimmung über die deutsche Beteiligung an der Nato-Mission - wie in den Zeiten der Großen Koalition üblich - von vornherein fest: Das Mandat wurde bei einer gleichbleibenden Obergrenze von 980 Bundeswehrsoldaten bis Ende 2017 verlängert. Deutsche Militärs werden verstärkt an Ausbildung und anderweitiger Unterstützung der afghanischen Armee beteiligt sein. Im Nato-Jargon wird das als "Partnering" bezeichnet. Die Nato-Mitgliedsstaaten haben derzeit insgesamt noch 12.000 Soldaten in Afghanistan. Ihren Kampfeinsatz in dem Land hatte die Nato Ende 2014 offiziell für beendet erklärt, auch wenn der Krieg andauert.
Für Kontroversen auch im Regierungslager sorgten diese Woche alleine die zunehmenden Abschiebungen von Flüchtlingen in das afghanische Kriegsgebiet. Nicht nur die Opposition - Linke und Grüne - griffen Innenminister Thomas de Maizière (CDU) dafür scharf an. Kritik kam auch aus der SPD. "Ich bin dafür, dass wir die Rückführungen nach Afghanistan zurückstellen, dass wir gucken, ob wir die freiwillige Ausreise befördern können", sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Eva Högl am Freitag im Deutschlandfunk.
Deutliche Worte von Ban Ki-moon
Inwieweit die pflichtgemäße Verteidigung der Nato-Besatzungspolitik in Afghanistan durch deutsche Regierungspolitiker von der Realität des Landes entfernt ist, zeigt der durchaus lohnende Blick in den letzten Bericht zum Thema von Generalsekretär Ban Ki-moon an die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Ban betonte darin Anfang September dieses Jahres die "wachsenden Spannungen an den Grenzen Afghanistans" sowie zunehmende Konflikte innerhalb der Regierung, die die Stabilität des Landes zusätzlich beeinträchtigt hätten.
Der Bericht erwähnt zudem eine "hochbrisante Sicherheitssituation" und "intensive Operationen im Kampf mit den Taliban-Milizen". Zudem konstatiert der UN-Generalsekretär einen neuen Rekord ziviler Gewaltopfer im ersten Halbjahr 2016 mit 5.166 Toten und verletzten Zivilisten. Hinzu komme eine zunehmende Unhaltbarkeit der Sicherheitsausgaben, die durch die Wirtschaftsleistung nicht gedeckt seien, eine Besorgnis erregende humanitäre Situation und schließlich eine absehbare Rekordernte von Schlafmohn zur Opiumproduktion.
In einem Kurzbericht zur Lage der Frauen in Afghanistan hatte sich die UN-Mission für Afghanistan, UNAMA, bereits im April 2015 alle Mühe gegeben, das Scheitern der westlichen Politik und der afghanischen Regierungen in diplomatische Formulierungen zu verpacken. Die UNAMA konstatierte damals, dass die Rechte von Mädchen und Frauen "gestärkt werden müssen".
Das ist zurückhaltend formuliert: In 95 Prozent der Fälle von Gewalt gegen Frauen kommt es zu keinem Verfahren, wie eine Untersuchung von UNAMA und des Hohen Kommissariats der UNO für Flüchtlinge zeigt. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Frauen, wenn sie ihre Peiniger anzeigen, verstoßen werden und vor dem wirtschaftlichen Nichts stehen. Dabei war der Einmarsch in Afghanistan 2001 noch mit den Rechten von Mädchen und Frauen begründet worden. Eine juristische Stärkung ihrer Position in der fundamentalistisch geprägten Gesellschaft des Landes bleibt bis heute aus.
Frauenrechtsaktivistin über Gewalt und Korruption
Weniger diplomatisch äußerte sich gegenüber Telepolis die afghanische Frauenrechtsaktivistin Selay Ghaffar. "Wie in jedem Konflikt, gehören Frauen und Kinder zu den ersten Opfern", sagte sie. Trotz des US-Slogans der "Befreiung der Frauen", der die Invasion in Afghanistan begleitet hat, sei die Lage weiter katastrophal. Frauen und Mädchen hätten nur einen beschränkten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen. "Sie werden im Falle von Vergewaltigungen in der Regel gezwungen, ihre Vergewaltiger zu heiraten", beklagte sie bei unlängst bei einem Interview in Berlin. Ghaffar verwies dabei auch auf einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Darin seien bereits im Oktober 2015 "erschreckende Details über Verbrechen gegen Mädchen und Frauen während des Kampfes um Kundus geschildert" worden.
Ghaffar, die auch Sprecherin der oppositionellen Solidaritätspartei Afghanistans ist, geht davon aus, dass auch die jüngsten Milliardenzahlungen westlicher Staaten an Afghanistan versickern. Der Sonderbeauftragte der USA für den Wiederaufbau in Afghanistan (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, SIGAR) sei im vergangenen Jahr nach Afghanistan gefahren, um zu schauen, was mit den 210 Millionen US-Dollar für Kliniken geschehen ist. "Vor Ort musste er feststellen, dass die meisten dieser Einrichtungen gar nicht existierten", so Ghaffar.
Auch das Onlineportal The Intercept hatte über den Fall berichtet: Die GPS-Koordinaten, die SIGAR vom afghanischen Gesundheitsministerium erhalten hatte, waren skurril: 13 Gesundheitszentren wären demnach gar nicht in Afghanistan gewesen, sondern sechs von ihnen in Pakistan, sechs in Tadschikistan und eines im Mittelmeer. In einem Dutzend Fällen hatten zwei angebliche Gesundheitszentren die gleichen Koordinaten. 150 der GPS-Koordinaten führen zu Orten in der Ödnis, wo sich keine Gebäude befanden. Für 90 Gesundheitszentren konnte das Ministerium keine GPS-Daten senden. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass die Geber mit "gefälschten Daten und Statistiken" getäuscht worden waren.
Und in Berlin? Hier leugnen Vertreter der Regierungsparteien ihr Scheitern in Afghanistan weiterhin. In der Debatte über das Nato-Mandat attackierte der CDU-Mann Roderich Kiesewetter - ein ehemaliger Bundeswehr- sowie Nato-Funktionär - die Kritik der Opposition als "dreist" und konstatierte: "Sie brauchen strategische Geduld (…) bis 2017."
Die Afghanin Ghaffar will so lange nicht warten. "Die militärische Besatzung Afghanistans muss beendet werden, Kriegsverbrecher müssen vor ein internationales Gericht gestellt werden und die Finanzierung von Warlords innerhalb und außerhalb der Regierung muss ein Ende haben", sagte sie gegenüber Telepolis.