Bilder einer untergehenden Welt
Science-Fiction aus Deutschland: "Tides" - Die Erde nach Klimakollaps und Pandemie
Ein Absturz aus großer Höhe. So ganz sauber ist die Landung nicht, mit der eine Raumkapsel zu Beginn in steilem Winkel auf die Erde niederschießt. Ein Zwischentitel informiert kurz und knapp, dass der blaue Planet durch Klimakatastrophen und Pandemien bereits so weit verwüstet wurde, dass die Menschheit in den Weltraum fliehen musste. Genau gesagt: Ihr besser gestellter Teil. Die Weißen und die Wissenschaftler. Sie leben nun auf einer Weltraumkolonie namens "Kepler 209".
Der Einzelne zählt nichts, die Gattung alles
Der Rest wurde auf der für unbewohnbar gehaltenen Erde sich selbst überlassen. Etwa zwei Generationen später kehrt eine Erkundungs-Mission mit dem Namen "Ulysses 2" auf die Erde zurück, um zu sehen, was von ihr übrig blieb; und um zu sondieren, ob eine Rückkehr infrage kommt. Denn auch im Weltraum gibt es Probleme. Kosmische Strahlung macht die Menschen auf "Kepler 209" zunehmend unfruchtbar.
Zudem herrscht dort ein rigides Regime, das das Leben dort noch unattraktiver erscheinen lässt. Zwar wird wissenschaftsbasiert und rational gehandelt, zugleich aber sind Individualismus und persönliche Gefühle unterdrückt: Der Einzelne zählt hier nichts, die Gattung ist alles; die "Gemeinschaft", oder wie es im Original heißt: "The Many".
Schlammmenschen und die Kraft der Natur
Die Hauptfigur des Films ist Louise Blake, eine junge Frau, deren Vater vor gut 15 Jahren die erste "Ulysses"-Mission leitete, von deren Schicksal seitdem nichts bekannt ist, und die ihm nun als Astronautin im zweiten Raumschiff folgt. Auch deshalb, weil sie vergleichsweise jung ist und damit im Prinzip gebährfähig. Junge Frauen sind für "Kepler 209" besonders wertvolle Körper zur Fortpflanzung, denn das Durchschnittsalter liegt dort bei 40 Jahren.
Erstaunlich irdische Themen dominieren damit diesen Science-Fiction-Film: Fruchtbarkeit, Mutterschaft, Vaterschaft - und die Kraft der Natur. Denn die "Tides" des Titels, also die Gezeiten Ebbe und Flut bestimmen das Leben der auf der Erde übriggebliebenen Menschen, die im Schlamm eines endlosen Wattenmeers ihr Dasein fristen, rohe Krebse und Fischsuppe löffeln und immer wenn die Flut kommt, auf grob zusammengezimmerten Schiffen abwarten, bis sich das Meer wieder zurückzieht.
Ist ein Neuanfang möglich?
Kurz nach der Landung wird Blake, die einzige Überlebende der Ankömmlinge, von den "Schlammmenschen" gefangen. Während sie deren Leben kennenlernt, versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen und eine Mitteilung über das Vorgefundene zum Heimatplaneten zu schicken, erfährt sie auch mehr vom Schicksal ihres Vaters und der ersten Ulyssses-Mission.
Dort begegnet die Astronautin auch eigenen unerwarteten Instinkten und schwierigen moralischen Fragen. Mehr und mehr stellt sich nämlich auch die Frage nach der Zukunft der Menschheit in neuer, differenzierter Weise. Denn es wird schnell klar, dass es auch nach dem Untergang der Zivilisation auf der Erde verschiedene Klassen und Lebensweisen gibt, dass Macht, Gewalt und autoritäre, repressive Verhältnisse keineswegs von der Erde verschwunden sind. Ist ein Neuanfang möglich? Soll man die autoritären, elitären "Kepler"-Verhältnisse auf die Erde zurückholen, oder lieber "bei Null" anfangen, im Schlamm und mit allenfalls archaischer Technik?
Weiblicher Messias
Blake rückt damit in die Position eines weiblichen Messias, der die Menschheit auf die eine oder andere Weise erlösen könnte, aber auch die Last dieser Entscheidung allein auf ihren eigenen Schultern trägt. Auch eine Art himmlischen Vater gibt es hier - zunächst nur in der Erinnerung und in Selbstgesprächen. Irgendwann taucht der Vater dann aber (nicht völlig überraschend) auf; er überlebte die erste "Ulysses"-Mission, wurde aber wegen abweichender Ansichten über deren Fortsetzung interniert. Nun stellt sich für Blake auch die Frage, wie sie sich zwischen den Autoritäten entscheidet.
Science-Fiction ist ein Genre, das über Jahrzehnte praktisch komplett von Hollywood dominiert wurde. In den letzten Jahren aber haben sich die Gewichte ein bisschen verschoben, und so tauchen immer mehr bemerkenswerte Science-Fiction-Filme auch anderer Kinematographien auf den Leinwänden auf. Eines davon war "Hell" (2011), das überraschend gelungene Debüt des Schweizer Regisseurs Tim Fehlbaum, der an der Münchner HFF studierte und mit seinem Erstling bewies, dass zwingend und glaubwürdig inszenierte apokalyptische Science-Fiction nicht aus Amerika kommen muss.
Sein zweiter Film, die deutsch-schweizerische Koproduktion "Tides" knüpft daran nun an, und ist ein weiterer der wenigen Versuche, diesem in Deutschland von Geldgebern wie Kreativen trotz großer Vergangenheit ("Metropolis") stiefmütterliche behandelte Genre unter Low-Budget-Bedingungen neues Leben einzuhauchen.
Entwurf einer Welt, in der immer alles feucht und nebelig ist
Dieser Versuch ist weitgehend gelungen. "Tides" lebt vom Atmosphärischen. Und vom eleganten, einfallsreichen Spiel mit Vorbildern des postapokalyptischen Films wie "Mad Max", "Children of Men" oder "Waterworld", aus dem sich schnell und dynamisch eine gradlinig erzählte spannende Handlung entwickelt.
Visuell ist der Film in seiner Mischung aus Action und Poesie und dem Entwurf einer verheerten Erde und einer Welt, in der immer alles feucht und nebelig ist, schmutzig und kühl, sehr überzeugend. Die Bilder sind eindrucksvoll, der Soundtrack exzellent. Es überrascht nicht, dass "Tides" gerade in fast allen technischen Kategorien sowie für Lorenz Dangels Filmmusik für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde.
Überzeugend ist auch die französische Haupdarstellerin Nora Arnezeder, deren Auftritt wie ihre Figur an Stars des Genres denken lässt wie etwa Sigourney Weavers "Ripley" in den "Alien"-Filmen.
Rebellion und Autoritarismus
"Tides" nimmt sein Szenario nicht nur als Vorwand für platte Action, sondern berührt in seinen nachdenklicheren Passagen viele Themen: Rebellion und Autoritarismus, Eugenik und die Idee des "richtigen Menschen", die Frage nach der Freiheit des Einzelnen und danach, ob das Überleben der Spezies alle Mittel heiligt.
Gewisse Probleme liegen im Drehbuch und in Fragen der Handlungslogik. Insbesondere die Organisation der filmischen Dramaturgie lässt zu wünschen übrig: Weder hat man irgendwann ganz verstanden, seit wann genau ein Teil der Menschheit die Erde verlassen hat. Noch ist schlüssig dargestellt, wie viel Zeit zwischen Blakes Landung und dem Ende des Films vergeht. Nur ein paar Tage? Oder doch eher einige Wochen und Monate?
Während man den Film sieht, stellen sich diese Fragen allerdings nicht. Das zeigt, wie geglückt und zwingend die Inszenierung von Tim Fehlbaum ist. "Tides" ist ein ambitionierter, gut inszenierter, atmosphärisch starker Film, der mit tollen Bildern einer untergehenden Welt aufwartet. Ungewöhnliches Kino aus Deutschland.