Blindflug und ein fragwürdiges Narrativ

Seite 2: Vorhersehbarkeit der Pandemie

Angesichts der Aggression in der derzeitigen Situation und der weitverbreiteten Überzeugung, wer der Schuldige sei, ist bemerkenswert, dass die explodierenden Infektionszahlen keineswegs überraschend kamen. Ein Blick im Sommer hätte für diese Erkenntnis ausgereicht.

Obwohl seit Ende Juni dieses Jahres aufgrund der Zahlen in Israel bekannt war, dass die Wirkung der Impfung stark nachlässt und damit die Gefahr sich von Monat zu Monat erhöht, dass sich Geimpfte infizieren und so auch die Infektion weitergeben konnten, wurde von Politikern und Medien zur gleichen Zeit fast unisono das Narrativ verbreitet, mit der Impfung sei im Prinzip die Gefahr eine Infektion gebannt und Geimpfte nicht mehr Teil des Infektionsgeschehens. Und die Herdenimmunität in Sicht.

Dieses Versprechen der Regierung kritisiert Prof. Alexander Kekulé in einem Interview scharf:

Ich würde (...) von einem falschen Versprechen der Bundesregierung reden. Es wurde suggeriert, dass Geimpfte wieder ein völlig normales Leben führen könnten. (…) Geimpfte glauben, sie seien sicher. Man hat sie falsch informiert.

Die linke Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht geht in der Neuen Züricher Zeitung noch einen Schritt weiter:

Es kommt dem Straftatbestand einer unterlassenen Hilfeleistung gleich, dass die Bundesregierung seit Sommer von der abnehmenden Effektivität der Impfstoffe wusste, die Menschen darüber aber bis heute kaum aufklärt, sondern mit 2G in einer Scheinsicherheit wiegt, und von einer "Pandemie der Ungeimpften" schwadroniert, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken.

Sarah Wagenknecht

Konsequenzen eines Narratives

Das Narrativ der Regierung, es wäre einfach, Corona durch die Impfung zu besiegen, war in seiner Schlichtheit und Eindimensionalität bereits im Sommer durch die Erfahrungen in Israel bekannt.

Aber anstatt das notwendige Boostern gerade für die Risikogruppen vorzubereiten und transparent auf die Gefahr vor Impfdurchbrüchen hinzuweisen, sodass alle Menschen sich entsprechend verhalten, hat es den beunruhigenden Anschein, dass die einzige Politik in der Aufrechterhaltung des eigentlich widerlegten Narratives bestand und besteht.

Das Narrativ, Impfung sei der einzige Schlüssel, erklärt, warum grundsätzlich Genesene überhaupt keine Rolle im Diskurs spielen und nicht einmal die Anzahl der Genesenen in Deutschland bekannt ist.

In derselben Hinsicht kann man das Desinteresse an einer intelligenten Nutzung des Antikörpertests sehen, wie es Karl Lauterbach und Hendrik Streeck gefordert haben.

Und insbesondere die Entscheidung, dass Genesene nur sechs Monate geschützt sein sollen (obwohl die Studienlage von einem deutlich längeren Zeitraum ausgeht), wohingegen Geimpften zwölf Monate Schutz versprochen wurde, was aber bereits im Juli nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprach.

Das Narrativ liegt vermutlich auch der Entscheidung zugrunde, dass Geimpfte grundsätzlich keinen Test benötigen. Die Entscheidung, 2G einzuführen, obwohl 2G vermutlich unsicherer ist als 3G (nachzulesen auch hier und bei Marcel Salathé von der ETH Lausanne), war ein weiterer Schritt in der Logik dieses Narratives.

Die Einführung des Lockdowns für Ungeimpfte ist folgerichtig, aber ebenso widersinnig. Denn wie kann es epidemiologischen Sinn ergeben, dass Geimpfte sich weiterhin nicht testen lassen müssen, obwohl die Impfdurchbrüche stark zunehmen und durch den Ausschluss der Ungeimpften ein falsches Gefühl von Sicherheit erhalten.

Als Beleg für diese dadurch erzeugte Gefahr sind die erleichterten Aussagen viele Menschen, endlich dank 2G "unter sich" und "entspannt" sein zu können.

Die mitschwingende Aussage ist klar: Die Ungeimpften sind schuld, daher dürfen sie nicht rein. Drinnen herrscht jedoch keine Testpflicht, keine Maske, kein Abstand. Draußen herrscht Kälte.

Kurzfristige Lösungen

Es steht außer Zweifel, dass die schwierige Situation in den Krankenhäusern schnelle und kurzfristige Lösungen braucht. Eine Impfpflicht – Frank Ulrich Montgomery befürwortet sogar eine Impfpflicht für Kinder, sobald die Ständige Impfkommission eine Impfempfehlung für diese Gruppe ausgesprochen hat – wäre aber keinesfalls eine kurzfristige Lösung, weil erst zwei Wochen nach der zweiten Impfdosis der Impfschutz vollständig einsetzt.

Eine Impfpflicht müsste zudem juristisch vorbereitet werden, sodass sie erst im Frühjahr beginnen könnte und vermutlich erst im Mai, Juni konkrete Ergebnisse zeigen würde.

Daher erstaunt es, wie sehr derzeit Politik und Medien sich auf diese Forderung fokussieren, auch wenn rein logisch die Vorteile dieser Lösung kaum etwas zur Verbesserung der aktuellen Situation in den Krankenhäusern beitragen können.

Zwei kurzfristige Lösungen bieten sich hingegen unmittelbar an, die jedoch deutlich weniger Beachtung finden: Es erscheint sinnvoll, sich besonders auf die Risikogruppen zu konzentrieren und ihren Schutz zu sichern.

Daher sollte das Angebot zur dritten Impfung für Menschen der Risikogruppe schnell ausgeweitet und die Organisation des Impfangebots gerade auch in Alters- und Pflegeheime vor Ort organisiert werden.

Es sieht jedoch leider so aus, dass einmal mehr die Organisation der dritten Impfung arg holpert und stark zu wünschen übrig lässt. Wäre es daher nicht sinnvoller, die Impfung der Risikogruppen und deren Schutz zu priorisieren, anstatt den Druck auf Ungeimpfte möglichst stark zu erhöhen?