Boris Johnson will das britische Parlament in den Urlaub schicken
Bei einem Misstrauensantrag setzt Johnson auf Neuwahlen unter dem Motto "Das Volk gegen das Parlament"
Der britische Premierminister Boris Johnson möchte ab 11. September das Parlament bis zum 14. Oktober beurlauben. Dann will er von der Königin eine Regierungserklärung verlesen lassen. Mit einer solchen so genannten "Queens Speech" wird in Großbritannien traditionell eine neue Legislaturperiode eingeleitet. "Wir werden nicht bis zum 31. Oktober warten, um unsere Pläne für das Land umzusetzen", sagte Johnson der BBC. "Das hier ist eine Regierung mit einer sehr aufregenden Agenda. Wir wollen unsere innenpolitischen Vorhaben schnellstmöglich umsetzen."
Tatsächlich ist eine mehrere Tage dauernde Beurlaubung des Parlamentes vor einer neuen "Queens Speech" ein normaler Vorgang in der britischen Politik. Es stimmt auch, dass der Parlamentsbetrieb sowieso vom 11. September bis zum 8. Oktober pausiert hätte. In diesem Zeitraum halten die großen britischen Parteien traditionell ihre Parteitage ab. Johnson dehnt also eine bereits existierende Unterbrechung des Parlamentsbetriebes lediglich um höchstens vier Arbeitstage aus.
Doch der Aufschrei über die Maßnahme ist gewaltig. Unterhauspräsident John Bercow spricht von einem "massiven Verfassungsbruch". In einer der BBC vorliegenden Stellungnahme sagte er: "Es ist völlig offensichtlich, dass der Grund für die Beurlaubung zu diesem Zeitpunkt darin besteht, das Parlament davon abzuhalten den Brexit zu debattieren und die Richtung des Landes zu gestalten."
Ähnliche Aussagen gab es am Mittwoch von Vertretern aller Oppositionsparteien sowie konservativen Politikern die sich dem "Remain"-Lager zurechnen. Die schottische Regierungschefin und SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon sprach gar von "Zuständen wie in einer Diktatur". Eine Onlinepetition gegen die Parlamentsbeurlaubung erzielte innerhalb kurzer Zeit zehntausende Unterschriften. Der linke Publizist und EU-Befürworter Paul Mason rief zu Straßenprotesten auf, um einen "Putsch" zu verhindern. Oppositionsführer und Labour-Parteichef Jeremy Corbyn sprach von einer "Bedrohung für unsere Demokratie".
Die Zeiten der Politik der "Mitte" sind vorbei
Somit geht die britische Verfassungskrise dort weiter, wo sie Ende Mai zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause aufgehört hat. Die Wurzeln dieser Krise liegen in den tiefen, durch Jahrzehnte neoliberaler Kahlschlagpolitik verursachten sozialen Spannungen und Rissen im Land. Diese Spannungen sind die Auslöser für Phänomene wie die schottische Unabhängigkeitsbewegung, dem für viele Beobachter überraschenden Wahlerfolg der mit einem linken Wahlprogramm angetretenen Labour-Partei bei den Parlamentswahlen 2017 sowie der knappen Mehrheit in der Bevölkerung für den EU-Austritt. Die Zeiten der Politik der "Mitte" sind vorbei.
Doch die Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus wird parteiübergreifend von Personen gestellt, deren gesamte politische Ausrichtung an dieser "Mitte" hält. Ihr Agieren wurde seit der Parlamentswahl 2017 deshalb durch zwei einander widersprechende Interessenlagen bestimmt. Erstens möchte die Mehrheit der Unterhausabgeordneten den Brexit entweder ganz verhindern oder ihn zumindest wesentlich abfedern. Zweitens sollen aber Neuwahlen verhindert werden, da diese eine linke Regierung hervorbringen könnte, die anfängt, am neoliberalen Dogma der vergangenen Jahrzehnte zu kratzen. Diese Möglichkeit wird aber auch von vielen Mitgliedern der Labour-Fraktion sabotiert. So unterstützen 160 von 247 Labour-Abgeordneten die vom stellvertretenden Parteivorsitzenden Tom Watson gegründete "Future Britain"-Gruppe, deren erklärtes Ziel die Bekämpfung des linken Parteiflügels ist.
Die Tories halten sich mit Boris Johnson durch ein von seiner Vorgängerin Theresa May unterzeichnetes Tolerierungsabkommen mit der nordirischen DUP an der Macht. Sie führen eine Regierung, deren Mehrheit in den vergangenen Monaten von 10 Abgeordneten auf 3 zusammengeschrumpft ist. Johnsons Lage ist also prekär. Aber auch für die Brexit-Gegner ist die Lage schwierig. Sie konnten zwar Theresa Mays Brexit-Deal im Parlament erfolgreich bekämpfen, aber keine eigene Strategie nach vorne entwickeln.
Deshalb wurde in den vergangenen Wochen der Druck auf Jeremy Corbyn erhöht, auf seine Oppositionsführerschaft zu verzichten und der Möglichkeit einer parteiübergreifenden "Regierung der nationalen Einheit" Raum zu geben. Als mögliche neue Premierminister wurde unter anderem der konservative "Remainer" Ken Clarke sowie die zum rechten Labour-Flügel gehörende Abgeordnete Yvette Cooper.
Corbyn hat diesem Druck bislang nicht nachgegeben, zeigt sich aber um Kompromisse bemüht. Am 27. August lud er die übrigen Oppositionsparteien zu einem Frühstück ein, an dessen Ende eine gemeinsame Erklärung stand. Darin verpflichteten sich die Oppositionsparteien zu einem gemeinsamen Kurs, um im Unterhaus ein Gesetz zur Verhinderung des "No Deal"-Brexit durchzubringen. Der Gesetzentwurf hätte bereits Anfang kommender Woche eingebracht werden können. Neuwahlen hatten mit Unterzeichnung der Erklärung keine große Priorität mehr.
Johnson setzt Brexit-Gegner unter Zugzwang
Johnsons Parlamentsbeurlaubung ist einerseits eine Reaktion auf diesen Vorstoß, andererseits eine von ihm gezogene Lehre aus der unglücklichen Amtszeit von Theresa May. Er möchte das Unterhaus bis zum Vollzug des Brexit möglichst neutralisieren. Das geht aus dem von Medien veröffentlichten Brief an die Parlamentsabgeordneten hervor. Darin heißt es: "Ich möchte noch einmal erklären, dass die Wochen bis zum Treffen des Europäischen Rates am 17. und 18. Oktober für meine Verhandlungen mit der EU von zentraler Bedeutung sind. Die EU-Mitgliedsstaaten verfolgen die Vorgänge im britischen Parlament mit großem Interesse. Nur mit größtem Zusammenhalt und großer Entschlossenheit haben wir die Chance, einen Deal auszuhandeln der im Parlament mehrheitsfähig ist." Übersetzung: Am besten, das Parlament hält bis dahin die Klappe und mischt sich nicht mit eigenen Vorstößen ein.
Johnson setzt das Remain-Lager im Unterhaus nun in einen Zugzwang, den dieses so nicht wollten. Sie könnten nun doch gezwungen sein, auf die Karte eines Misstrauensantrages und somit auf Labour-Chef Corbyn zu setzen. Doch auch hier zeigt sich Johnson konfrontativ. Er ließ den Medien über seine Sprecher ausrichten, Johnson denke auch bei einem verlorenen Misstrauensantrag nicht an Rücktritt, sondern werde in diesem Fall stattdessen Neuwahlen Anfang November ansetzen. Neuwahlen würde Johnson mit dem Slogan: "Das Volk gegen das Parlament" bestreiten, wobei Johnson sich als der Tribun des Volkes präsentieren würde.
Das wiederum bringt das Lager um Jeremy Corbyn in eine Zwickmühle. Durch Corbyns Unterschrift unter eine gemeinsame Erklärung mit den neoliberalen Oppositionsparteien im Unterhaus besteht für ihn die Gefahr, von der Bevölkerung als Teil des "Establishments" wahrgenommen zu werden.
Corbyns Anziehungskraft besteht jedoch gerade darin, das "Establishment" im Interesse "der Vielen" bekämpfen zu wollen. Von einem thematisch durch den Brexit dominierten Wahlkampf könnten Boris Johnson und hinter ihm Nigel Farage von der Brexit-Partei profitieren, während Corbyns anti-neoliberale Botschaft verwässern würde. Das ist die Karte, auf die Johnson nun setzt.
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