Brain drain tax

Auch wenn ein finanzieller Ausgleich durch Industrienationen, die die internationalen Facheliten bei sich beschäftigen, sinnvoll sein mag, setzt eine direkte Steuer auf die Mobilität von Individuen falsche Zeichen

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Wenn im Himmel über Los Angeles Flugzeuge mit Werbebannern kreisen, die für die Internetadresse www.move-back.com werben, ist die angesprochene Zielgruppe eher klein. Deutsche IT-Experten, die in den USA beschäftigt sind, will die Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart mit dieser Aktion zurück nach Deutschland locken: Ein Job wartet schon.

Der Mangel an qualifizierten Fachkräften, vor allem im IT-Bereich, hat dazu geführt, dass die westlichen Industrienationen um Experten aus der ganzen Welt konkurrieren. Solange ihre Nützlichkeit erwiesen ist, sind zumindest hoch- und höchstqualifizierte Arbeitskräfte derzeit unabhängig von Herkunft und Hautfarbe willkommen, wie die aktuelle Einwanderungsdebatte in Deutschland zeigt. So gut es ist, dass diese Debatte nicht mehr nur von diffusen Ängsten dominiert wird, welche Konsequenzen sich für die Länder ergeben, aus denen die Hoch- und Höchstqualifizierten angeworben werden, wird selten hinterfragt. Dabei herrscht in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern die Sorge, dass die Abwanderung von Wissensarbeitern, der sogenannte "brain drain", ihr Entwicklungspotential empfindlich bremsen wird. So benennt der indische Minister für Wissenschaft und Technologie Leslie Gunawardena den "brain drain" als eines der dringlichsten Probleme von Entwicklungsländern angesichts der Globalisierung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass inzwischen von Wissenschaftlern, Organisationen und Regierungen die Notwendigkeit einer "brain drain tax" diskutiert wird.

Eine solche Steuer wird als Möglichkeit gesehen, zumindest finanziell, die Verluste durch die Migration von Wissensarbeitern zu kompensieren. Selbst das United Nations Development Programme (UNDP hält die Idee einer solchen Steuer in ihrem diesjährigen Human Development Report für "ernsthaft erwägenswert". Im selben Bericht werden konkrete Zahlen für Indien genannt: Indien verliere jährlich 2 Milliarden US-Dollar durch die Abwanderung von Wissensarbeitern. So stellte dann auch bei der Veröffentlichung des Berichts in Neu Delhi im Juli dieses Jahres der indische IT-Minister Pramod Mahajan entrüstet fest: "Ein armes Land wie Indien subventioniert das Bildungssystem und die Ökonomie der USA."

Ein Gesetz, das letztes Jahr in den USA verabschiedet wurde, erlaubt die Ausgabe von jährlich 200.000 H-1B Visa in den nächsten 3 Jahren. Der UNDP-Report geht davon aus, dass wie bisher die Hälfte dieser Visa an indische IT-Fachkräfte gehen wird. Allein deren Ausbildung kostet den indischen Staat schätzungsweise 15-20 Tausend US-Dollar pro Person. Die Summe von 2 Milliarden Dollar ist allerdings lediglich ein grober Anhaltspunkt. Die konjunkturellen Schwankungen des globalen Arbeitsmarktes werden nicht berücksichtigt. Die Zahl der Neuanstellungen von Indern in den USA dürfte inzwischen weitaus geringer sein. Ein Teil der Inhaber von H-1B Visa ist zurück in Indien, entweder für immer, oder in der Hoffnung während der Krise in einem Land mit geringeren Lebenshaltungskosten zu überwintern. Was allerdings auch nicht in den Zahlen des UNDP-Reports enthalten ist, ist der Verlust der indischen Ökonomie, wenn sie in entscheidenden Entwicklungsphasen ihre Mitarbeiter nicht halten oder keine neuen Fachkräfte akquirieren kann. Will Indien als Softwareproduzent mit den führenden Nationen auf dem Weltmarkt gleichziehen, ist dies ohne ausreichende Arbeitskräfte nicht möglich. Da hilft es auch nicht, wenn nach dem Boom die benötigten Experten wieder vorhanden sind.

Damit befinden sich die Länder mit einem Netto-Verlust von Wissensarbeitern in einem typischen Teufelskreis. Um die benötigten Arbeitskräfte im Land zu halten bzw. zurückzuholen, müssen die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Experten verbessert werden. Um die dafür erforderlichen Strukturen aufzubauen, werden diese Spezialisten wiederum dringend benötigt.

Einen Ausweg aus diesem Teufelskreis soll die "brain drain tax" bringen. Konkret sind die Vorschläge dazu allerdings noch nicht, verschiedene Konzepte werden diskutiert. Eine vorgeschlagene Alternative ist eine "exit tax", die das anwerbende Unternehmen oder der neue Angestellte, nachdem Visa und Arbeitserlaubnis gewährt wurden, an das Herkunftsland zahlen soll. Der zu zahlende Betrag könnte sich an den Prämien für Headhunter orientieren, die bis zu zwei Monatsgehälter als Gebühr verlangen. Eine andere Möglichkeit ist die zwangsweise Rückzahlung von Stipendien oder anderen Formen von Unterstützung, sobald nach dem Ausbildungsabschluss das Heimatland verlassen wird. Schwieriger durchzusetzen sind Besteuerungsmodelle, die bi- oder multilaterale Abkommen erfordern, wie der Vorschlag einer "flat tax". Bei dieser Steuer soll im Gegensatz zur "exit tax" kein einmaliger Betrag, sondern monatlich ein geringer Teil des Einkommens durch den Angestellten oder seinen Arbeitgeber an das Herkunftsland überwiesen werden. Am weittestgehendsten ist der Vorschlag, dass eine multilaterale Organisation automatische Geldtransfers zwischen den Herkunftsstaaten und den Einwanderungsländern regelt.

Ungeachtet der Frage, ob sich die Industriestaaten auf multi- oder bilaterale Abkommen zur Besteuerung der Migration von Wissensarbeitern einlassen würden, bleibt die problematische Differenzierung, welche Auslandsaufenthalte überhaupt besteuert werden sollen. Auslandserfahrungen sind in Wissenschaft und Industrie schließlich erwünscht, für bestimmte Positionen wird sie geradezu gefordert. So ist es nicht einfach zu bestimmen, wann ein "brain drain" vorliegt und wann ganz im Gegenteil von einem "brain gain" durch die verschiedenen Formen von Auslandserfahrungen gesprochen werden kann.

So ist es in Indien durchaus umstritten, ob überhaupt ein "brain drain" vorhanden ist. Das Bild Indiens als Land der Armut, Fakire und heiligen Kühe ist in den letzten Jahren zwar nicht verschwunden, aber zumindest durch das Image des High-Tech-Landes mit hochqualifizierten Fachkräften ergänzt worden. Dazu hat die erfolgreiche Arbeit indischer Programmierer im Ausland stark beigetragen und dem Land Indien einen Standortvorteil in der Konkurrenz um ausländische Investoren verschafft. Auch andere Faktoren beeinflussen die Aufrechnung von Verlust und Gewinn durch die Abwanderung von Fachkräften: Der Re-Import von Erfahrungen, die Aneignung neuer Techniken und Geldtransfers durch die indische Diaspora. So kehren beispielsweise in Irland viele IT-Experten zurück, nachdem sich dort die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verbesserten, wobei sie der heimischen Wirtschaft neue Impulse geben. Dabei ist nicht einmal eine persönliche Rückkehr der Migranten erforderlich, positive Effekte können auch über den Aufbau von Netzwerken zwischen den Einwanderungsländern und Indien erreicht werden. Das Geld, das an die zurückgebliebenen Familien und auf Bankguthaben in Indien überwiesen wird, überstieg schon 1997/98, also bevor die USA die Ausgabe von H1-B Visa enorm erhöhte, den Betrag von 2 Milliarden Dollar: Schätzungen gehen von 10 Milliarden Dollar aus. Zur selben Zeit wurden 204 Milliarden US-Dollar von Auslandsindern auf indischen Banken gelagert. An den indischen Staat oder das Ausbildungssystem geht dieses Geld allerdings nicht.

Inwieweit in der Realität die Abwanderung von Wissensarbeitern durch positive Effekte aufgehoben wird, ist schwer zu entscheiden. Zumindest der indische Ökonom Binod Khadria, der grundsätzlich große Hoffnungen auf positive Effekte durch im Ausland arbeitende Inder setzt, kann derzeit noch keine positiven Rückflüsse ausmachen. Auch wenn Auslandsinder eine Nische im Weltarbeitsmarkt gefunden haben, wird Khadria in einem Artikel des free press journals zitiert, gebe es bisher keine signifikanten "trickle down effekts" für die indische Ökonomie. So kann durchaus die Notwendigkeit einer "brain drain tax" begründet werden Einen negativen Beiklang hat die Diskussion um die "brain drain tax" auf einer anderen Ebene. Bildung wird zwar massiv vom Staat subventioniert, die eigentliche Aneignung von Wissen ist aber eine individuelle Leistung. Durch den Begriff "brain drain" wird das Individuum auf Humankapital reduziert und gleichzeitig fest einem Nationalstaat zugeordnet. So ist die ganze Debatte im Kern in nationalen Begriffen gefangen. Das "brain drain" Argument ist damit offen für Positionen, in denen Inder in Indien und Deutsche in Deutschland zu bleiben haben. Auch wenn ein finanzieller Ausgleich durch Industrienationen, die die internationalen Facheliten bei sich beschäftigen, sinnvoll sein mag, setzt eine direkte Steuer auf die Mobilität von Individuen falsche Zeichen.