"Brandt dit licht dan koppen dicht!"
Erste regelmäßige Radiosendung
Für eine Ansage war keine Zeit. So setzte Hanso Idzerda am 6. November 1919 nur den Tonabnehmer in Bewegung. Ein Grenadiermarsch ertönte, Turf in je ransel ("Torf in deinen Ranzen"), und die weltweit erste regelmäßige Radiosendung nahm ihren Anfang.
Radio Soirée-musicale hieß das Programm, Premiere war an einem Donnerstagabend, in einem improvisierten Studio in Scheveningen bei Den Haag. Auch alle folgenden Sendungen durften erst nach Anbruch der Nacht über den Äther. Hauptgrund waren Sicherheitsbedenken: Nur ungern teilte das niederländische Militär seine Frequenzen mit Funkamateuren, aus Angst vor Missbrauch. Knapp ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs schien diese Furcht nicht völlig unbegründet.
Durch die Sendung führte ein Moderator, der die ganze Zeit stumm blieb. Idzerda legte lediglich Platten auf, ohne vorherige Ansage. "Er hatte alle Hände voll zu tun, damit die Übertragung technisch sauber ablief", vermutet Peter Van den Meerschaut, Verfasser einer Magisterarbeit über den Radiopionier. Von der Sendung existieren keine Aufzeichnungen mehr, aber Van den Meerschaut vermutet, dass "Idzerda sich nicht mit Wortbeiträgen ablenken mochte."
Allein die Selbstvorstellung hätte einiges an Moderationszeit verlangt. Hanso Henricus Schotanus à Steringa-Idzerda lautete der volle Name, in Westfriesland nichts Ungewöhnliches. Idz, wie ihn seine Freunde nannten, wurde 1885 in eine Leeuwardener Arztdynastie geboren. Seine Lebensgeschichte hat der Journalist Kees de Raadt aufgeschrieben. Danach war Idzerda bereits seit frühester Jugend an technischen Apparaten interessiert. Endgültig schwor er der Familientradition ab, als er nach der Schule ins Nachbarland zog. Am Rheinischen Technikum Bingen schrieb sich Idzerda in Elektrotechnik ein. Das Studium schloss er ein Jahr vor Kriegsausbruch als Ingenieur ab.
Zurück in den Niederlanden ließ sich Idzerda als "Berater für die Anwendung der Elektrizität in allen Bereichen" nieder. Er gründete eine Firma, Technisch Bureau Wireless, deren einziger Zweck das drahtlose Versenden und Empfangen von Radiosignalen war. Die dazu benötigten komplizierten Apparate stellte Idzerda selbst her.
Der Standort für seine Firma war nicht zufällig ausgewählt. In Scheveningen residierte das Kriegsministerium, die Küstenstation organisierte vom Nordseestrand aus den Funkverkehr auf sämtlichen Weltmeeren, und auch der niederländische Rijkstelegraaf war im Seebad angesiedelt. Nur mit der Technik haperte es noch.
Die drahtlose Telegrafie war bereits 1896 von Guglielmo Marconi entwickelt worden, der später dafür den Nobelpreis für Physik erhielt. Allerdings konnten per Morsezeichen nur einzelne Töne versendet werden, das Übertragen kompletter Wörter oder auch von Musik war nicht möglich. Ebenso wenig der Empfang: Dazu bedurfte es eines Kristalldetektors, verstärkt durch meterlange Antennen, die zur Vermeidung von Störungen möglichst hoch an der Sendestation angebracht wurden.
Für einen Quantensprung in der Leistungsfähigkeit sorgte der Einsatz von Radioröhren. Telefunken in Berlin hatte sie entwickelt, eingesetzt wurden sie zunächst nur zu militärischen Zwecken. Hier kam Idzerda das Glück zu Hilfe. Als ein Zeppelin während eines Aufklärungsflugs in den Niederlanden notlandete, beschlagnahmten die Behörden die komplette Inneneinrichtung. Idzerda erfuhr davon, beschaffte sich eine Röhre und machte sich, gemeinsam mit Ingenieuren der Firma Philips in Eindhoven, an ihre Verbesserung.
Endlich war es möglich, ganze Wörter und Melodien zu übertragen und zu empfangen. Was jetzt noch fehlte, war ein Sender. Bereits im März 1918 hatte Idzerda auf der Utrechter Messe sein Gerät vorgestellt - mit Erfolg. Einem breiteren Publikum präsentierte er sich im Jahr darauf. Es gelang ihm, über eine Strecke von 1200 Metern gesprochene Signale an einen Empfänger zu übertragen. Rasch vergrößerte sich die Reichweite auf rund 25 Kilometer. Idzerda reichte das nicht. Einem Journalisten verriet er, binnen kurzem die kompletten Niederlande abdecken zu können.
Am 6. November 1919 war es dann so weit: Idzerda ging auf Sendung. Damit sein Publikum davon erfuhr, kündigte er sie am Tag zuvor im Nieuwe Rotterdamsche Courant an. Auch die Lieder, die er spielte, waren gelistet. Nach dem Grenadiermarsch folgten Schlager wie Het meisje dat men nooit vergeet und auch Religiöses, The Holy City oder Ave Maria. Das Programm änderte sich im Lauf der Jahre nur moderat. Gelegentlich gab es Live-Aufnahmen aus dem nahen Scheveninger Kurhaus, das über Gemeindetelefonkabel mit der Sendezentrale verbunden war. Am 1. September 1923 etwa wurde das Konzert zu Königin Wilhelminas 25-jährigem Thronjubiläum übertragen. Auch Amateurbands wie die Haager Combo The Jazz Devils kamen zu Ehren.
In der Anfangszeit gab es, legt man die Zahl der verkauften Röhren zugrunde, rund 2000 Empfänger. An Neukunden verdiente Idzerda gleich mehrfach: Er bot Kurse für Radioamateure an und war am Verkauf aller Philips-Röhren beteiligt, nicht zuletzt über seine eigene Firma. Die hieß nun, werbewirksam seriös, Nederlandsche Radio Industrie.
Doch verschlangen die Radioübertragungen auch Geld. Schuld war Idzerdas Perfektionismus. Er verwendete nur bestes Material und bereitete alles akribisch vor. In all seinen Sendungen scheint es nur eine Panne gegeben zu haben. Für eine Liveübertragung hatte Idzerda einige Musiker in sein Studio geladen. Ein Geiger verhakte sich mit seinem Streichbogen im Baldachin, der zur besseren Akustik an der Decke schirmartig über das Standmikrofon gespannt war. Nur "een klein incident", beruhigte Idzerda seine Hörer sofort. Um künftige Zwischenfälle zu vermeiden, warnte zusätzlich zur Kontrolleuchte ein Hinweisschild vor eingeschalteten Mikrofonen: "BRANDT DIT LICHT dan KOPPEN DICHT!" "Klappe halten" war dann angesagt.
Zweimal wöchentlich ging Idzerda zunächst auf Sendung, jedes Mal musste er Gebühren berappen. Die Qualität der Sendungen wurde immer besser, die Reichweite immer größer. Bald konnte sein Programm sogar in England empfangen werden. Die Daily Mail wurde auf die Sendungen aufmerksam und sponsorte Idzerda. Nach der Gründung der BBC im Herbst 1922 begann diese Einnahmequelle zu versiegen. Im Frühjahr kam nationale Konkurrenz hinzu, Radio Hilversum. Eine Zeitlang hielt Idzerda durch, dann meldete seine Firma Konkurs an. Am 24. November 1924, nach Hunderten Ausstrahlungen, ging die letzte Radio Soirée-musicale auf Sendung.
Idzerda versuchte es noch ein paar Jahre mit einem Privatsender, konnte aber nicht an die Erfolge des Vorgängers anknüpfen. Schließlich gab er auf, verkaufte alle Gerätschaften und eröffnete eine Familienpension, im Seebad Scheveningen ein sicheres Einkommen. Der Radiopionier geriet in Vergessenheit.
Idzerdas weiteres Leben verlief unglücklich. Zum Verhängnis wurde ihm ausgerechnet das technische Interesse, das seinen Aufstieg ermöglicht hatte. Als eine deutsche V2-Rakete auf dem Weg nach England in der Nähe von Den Haag niedergangen war, schaute Idzerda sich die Trümmer an. Eine Wehrmachtpatrouille, die zufällig vorbeikam, jagte ihn fort. Idzerda kehrte wenig später zurück und lief derselben Patrouille in die Arme. Diesmal kam er nicht so glimpflich davon. Idzerda wurde als Spion verhaftet, ins südholländische Wassenaar verbracht und am 3. November 1944 ohne vorherigen Prozess von der Gestapo erschossen.
Niemand informierte Idzerdas Angehörige. Die Leiche hatten die Deutschen einfach verscharrt. Erst ein Jahr später, am 28. September 1945, wurde sie entdeckt, auf dem Gelände der deutschen V2-Einsatzzentrale in den Niederlanden, und daraufhin auf dem Soldatenfriedhof von Wassenaar beerdigt. Die Hinterbliebenen erfuhren erst Ende des Winters die näheren Umstände und gaben Idzerdas Tod per Annonce öffentlich bekannt. Später wurde Idzerda umgebettet und im Den Haager Familiengrab bestattet, neben seiner Ehefrau Wilhelmina.
Am 6. November feiern die Niederländer ihren Radiopionier. Zeitungsartikeln, Radio- und Fernsehbeiträge erinnern dann an Hanso Idzerda, den Mann, der ihnen die Musik ins Wohnzimmer lieferte und den die Deutschen umbrachten.