Brasilien: Wachstum - Wohlstand - Instabilität
Die zentralen sozio-ökonomischen Daten zeigen ein Land im Aufbruch
Ein abgeschwächtes Bevölkerungswachstum, eine boomende, sich modernisierende Wirtschaft sowie eine neue Sozialpolitik reduzierten die Armut deutlich. Teile des Erfolgs beruhen auf einer einseitigen Ausrichtung auf den Rohstoffsektor insbesondere der Ölförderung. Die brasilianische Regierung versucht wirtschaftspolitisch gegenzusteuern.
Bevölkerungsentwicklung - analog zu den Industriestaaten
Nach den Daten der Population Devision der Vereinten Nationen (VN) hat sich Brasilien in den letzten 60 Jahren außerordentlich dynamisch entwickelt. Die Bevölkerung stieg von 54 Mio. auf 197 Mio. Menschen; wobei sich die jährliche Zunahme deutlich verlangsamte. Der Bevölkerungsanstieg sank von drei Prozent pro Jahr in den 1950er Jahren auf gegenwärtig unter ein Prozent. Laut Prognose der VN wird Brasilien im mittleren Szenario mit 250 Mio. seine maximale Bevölkerungsanzahl um das Jahr 2050 erreichen. Dem folgt wahrscheinlich ein Rückgang auf 200 Mio. bis Ende des Jahrhunderts.
Diese Bevölkerungsentwicklung hat mehrere Ursachen. Einerseits sank die Zahl der Geburten pro Frau von über sechs Kindern in den 1970er Jahren unter den Reproduktionswert von 2,1. Andererseits erhöhte sich die Lebenserwartung von 50 auf 74 Jahre und die Kindersterblichkeit konnte von 135 auf 19 pro 1.000 Lebendgeburten gesenkt werden.
Brasilien entwickelt sich im demographischen Bereich (zeitversetzt) ähnlich wie Deutschland. So stieg das brasilianische Durchschnittsalter seit den 1950er Jahren von 19 auf 29 Jahre und wird gegen Mitte des 21.Jahrhunderts wie in Deutschland 47 Jahren betragen. Gleichzeitig verschiebt sich die Bedeutung der Altersgruppen. Stellten bis in die 1970er Jahre Menschen unter 20 Jahren in Brasilien die Mehrheit der Bevölkerung, beträgt ihr Anteil gegenwärtig nur noch 33 Prozent. Spiegelbildlich stieg der Anteil der über 65-jährigen kontinuierlich von 3,5 auf über 8 Prozent. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts werden 40 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein. Ein Wert, den Deutschland schon 2040 erreicht.
Allerdings kann Deutschland seine demographische Entwicklung durch eine anhaltende Migration abfedern. Brasilien ist jedoch seit den 1970er Jahren ein Auswanderungsland - mit teilweise netto mehr als 100.000 Emigranten pro Jahr. Ein Verlust an Humankapitel, der auch in den nächsten Jahrzehnten nicht aufhören wird und den demographischen Wandel verlustreich beschleunigt.
Wirtschaft - Instabilität und Armut
Die Wirtschaftsentwicklung Brasiliens ist durch Instabilität gekennzeichnet. Mit Ausnahme der 1970er Jahre, mit ihren sehr hohen Wachstumsraten (teilweise im zweistelligen Bereich), fanden in jedem Jahrzehnt seit den 1960er Jahren tiefe Wirtschaftskrisen statt. Sie gingen mit einer deutlichen Verarmung der Bevölkerung einher. Die Einbrüche folgten dabei der Entwicklung der Weltwirtschaft. Brasilien konnte sich bisher nie, wie beispielsweise China den weltwirtschaftlichen Instabilitäten entziehen. Die brasilianische Wirtschaft folgte der seiner wichtigsten Handelspartner. Beispiele sind die Krisen im Rahmen der 2. Erdölkrise Anfang der 1980er Jahre und der Wirtschaftseinbruch 1990/91.
Die Wirtschaftskrisen hinterließen deutliche Einschnitte im sozialen Bereich. So stagnierte in den 1980er-1990er Jahren das Einkommen der Bevölkerung. Die Zunahme der Bevölkerung absorbierte das niedrige Wirtschaftswachstum. Erst in den Jahren nach der Jahrhundertwende erreichte Brasilien deutliche ökonomische Zuwächse. Hintergrund ist auch eine partielle Abkopplung von den Märkten Nordamerikas und Europas. Die neuen Handelspartner in Asien, insbesondere China, garantieren (noch) eine stabilere Entwicklung.
Umbruch in der Wirtschaftsstruktur
Seit den 1960er Jahren vollzog sich ein tiefgreifender Wandel in der Wirtschaftsstruktur Brasiliens. Kennzeichnend ist ein Rückgang der ökonomischen Bedeutung des Agrarsektors. Sein Anteil am BIP sank von 17 auf unter 6 Prozent. Parallel ging auch der Anteil der Beschäftigten zurück - von knapp 30 auf 17 Prozent. Dahinter steht auch ein umfassender Urbanisierungsprozess - angetrieben durch Migration, höhere Kindersterblichkeit und geringere Lebenserwartung in den ländlichen Gebieten. Der Anteil der städtischen Bevölkerung stieg von 36 Prozent im Jahre 1950 auf gegenwärtig 84 Prozent. Dieser Trend wird sich bis Mitte des Jahrhunderts - wenn auch verlangsamt - fortsetzten. Dann werden 90 Prozent der Bevölkerung in den Städten leben.
Die Industrieproduktion erreichte ihren Höhepunkt in den 1980er Jahren mit einem Anteil von 45 Prozent am BIP. Seitdem schwindet ihre wirtschaftliche Bedeutung und liegt inzwischen unter 30 Prozent. Interessanterweise stabilisiert sich der Anteil der Industriebeschäftigten seit den 1990er Jahren bei 21 Prozent. Am stärksten konnte der Dienstleistungssektor zulegen. Hier tätige Unternehmen erwirtschaften inzwischen über 65 Prozent aller Werte. Gleichzeitig arbeiten ca. 60 Prozent aller Beschäftigten in diesem Sektor.
Abschwächung der sozialen Probleme
Der Arbeitsmarkt entwickelte sich im letzten Jahrzehnt positiv. Wie die OECD im Economic Surveys: Brazil 2011 herausarbeitete, sinkt die Arbeitslosenrate kontinuierlich. Sie lag 2010 bei 7 Prozent. Der Arbeitskräftebedarf, insbesondere im Baugewerbe und bei den Dienstleistungen, übersteigt den Zuwachs an Arbeitskräften. Entsprechend steigen die Löhne, inklusive des Mindestlohns, deutlich. (OECD Economic Surveys: Brazil 2011; S. 16.)
Mit der Verstetigung des Wirtschaftswachstums, einem boomenden Arbeitsmarkt sowie einer gezielten Sozialpolitik konnte Brasilien die sozialen Probleme deutlich verringern. In den 1990er lebte 35 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle. Insbesondere mit dem Sozialprogramm Bolsa Familia gelang eine nachhaltige Reduzierung auf fast 20 Prozent. Das Sozialprogramm gilt als eines der größten und erfolgreichsten weltweit. Es erfasst ca. 11 Mio. Familien mit Kindern, geschätzte 46 Mio. Menschen.
Vorangegangene soziale Initiativen und Erhöhungen der Mindestlöhne verbesserten zwar die Situation der (unteren) Mittelschicht, erreichten aber kaum die Unterschichten. Mit der Eindämmung der Armut verbesserte sich auch die Einkommensverteilung (GINI-Koeffizient). Im Gegensatz zu den Staaten der OECD, in denen die Einkommensungleichheit in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen hat.
Positive Entwicklungen zeigen sich auch bei anderen Sozialindikatoren. So weist der Welthungerindex für die 1980er Jahre noch einen Anteil der Unterernährten von über 10 Prozent der Bevölkerung aus. Inzwischen ist ein deutlicher Rückgang des Hungers unter die Schwelle von 5 Prozent festzustellen (WHI 2011, S. 17).
Ebenfalls stieg der Human Development Index von 0,549 im Jahre 1980 auf gegenwärtig 0,718. Wobei Brasilien ab 1995 höhere Werte als der weltweite Durchschnitt erreicht und diesen Abstand seit 2000 immer schneller erweitert. Allerdings liegt Brasilien bei den genannten Indikatoren hinter anderen großen Staaten Südamerikas.
Segen und Fluch des Öls
Seit Mitte der 1990er Jahre weitete Brasilien seine Ölproduktion auf über 2 Mio. Barrel pro Tag aus. Da der Verbrauch nicht im gleichen Maße zunahm, wandelte sich Brasilien in einen Öl-Nettoexporteur - Export 2010: 180 Mio. Barrel. Ursächlich für den Anstieg waren Reformen im nationalen Ölmarkt sowie Kürzungen der Subventionen für Ölimporte. Der staatliche Konzern Petrobras plant die Ölproduktion bis 2017 durch Anzapfen neuer Lagerstätten vor der Küste Brasiliens um eine weitere Million Barrel pro Tag zu steigern.
Der Ölexport verstärkt seit 2000 die Haushaltsüberschüsse von 2-3 Prozent zum BIP pro Jahr. Brasilien konnte so seine Verschuldung trotz Erweiterung der Staatsausgaben auf unter 40 Prozent zum BIP senken (OECD Economic Surveys: Brazil 2011, S. 40f).
Allerdings zeigen sich zunehmend negative Seiten des Öl- und Rohstoffbooms. Brasilien droht eine "Infektion" mit der Dutch Disease - der "holländischen Krankheit". Ein Indikator für diese Entwicklung in Brasilien ist die zunehmende Dominanz des Rohstoffsektors beim Außenhandel bei gleichzeitig nur minimalem Anteil an den Arbeitskräften - nur 0,3 Prozent.
So schreibt die Germany Trade and Invest in einem 2009 erschienem Bericht zur brasilianischen Wirtschaft:
Von 2000 bis 2009 stieg der Anteil der Lebensmittel am Exportvolumen kontinuierlich von 17 auf 23 Prozent und der Anteil der Rohstoffe von 16 auf 22 Prozent. Andererseits sank der Anteil der Vorerzeugnisse stetig von 20 auf 13 Prozent und der Anteil der Maschinen und Fahrzeuge von 28 auf 17 Prozent.
Gleichzeitig bleiben Investitionen und Sparquote deutlich hinter anderen Weltregionen zurück. Ebenfalls stößt die öffentliche Infrastruktur an ihre Leistungsgrenzen. So sind unter anderem nur 14 Prozent aller Straßen befestigt und gehen 16 Prozent des Stroms in den Transportnetzen verloren (OECD Economic Surveys: Brazil 2011; S. 102.). Die deutliche Erhöhung der (staatlichen) Investitionen ist nur eine der zukünftigen Herausforderungen, um den derzeitigen Wirtschaftsaufschwung zu verstetigen.
Die brasilianische Regierung ist sich dieser Probleme durchaus bewusst. Sie versucht durch strukturelle Reformen eine Verbreiterung der Wirtschaftsentwicklung zu erreichen. Ebenfalls sollen durch den Aufbau von Sozial- ("Fundo Social do Pre Sal") und Strukturfonds (Fundo Soberano do Brasil) Teile der Einnahmen für die Zukunft angespart werden. Ob diese Politik erfolgreich ist, wird die Zukunft zeigen.
Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Die nächste Ausgabe zum Thema "Brasilien" erscheint im Juli 2012.