Brasiliens Verfassung fürs Internet

Brasilien ist weltweit Vorreiter bei der Internet-Gesetzgebung. Nun hat das Land ein Gesetz verabschiedet, das die Netzneutralität sichert und den Schutz der Privatsphäre im Netz festlegt

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Der brasilianische Bundessenat hat am Dienstag einstimmig und ohne Änderungen das neue Internet-Gesetz (Marco Civil da Internet) angenommen. Bereits Ende März hatte die andere Parlamentskammer, das Abgeordnetenhaus, nach mehrmonatiger Debatte grünes Licht gegeben. Der Gesetzestext regelt die Rechte und Pflichten von Internetnutzern, -dienstleistern und -anwendern und schafft den Rahmen, um die Privatsphäre und Unverletzlichkeit der persönlichen Daten von Privatpersonen, Unternehmen und staatlichen Institutionen sowie den freien Zugang zum Netz zu garantieren und zu schützen.

Unternehmen und Internetanbietern ist es danach künftig verboten, persönliche Daten der Nutzer für kommerzielle Zwecke zu verwenden. Diese müssen zudem über Nutzung und Speicherung ihrer Daten informiert werden. Darüber hinaus ist festgelegt, in welchen Fällen die Justiz Zugriff auf Daten und Kommunikation von Nutzern beantragen kann. Anfragen an Internet-Suchmaschinen dürfen nur noch maximal sechs Monate lang gespeichert werden. Garantiert wird auch die Netzneutralität, d.h. den Anbietern ist es nicht erlaubt, bestimmte Internetinhalte gegen Aufpreis schneller durch die Netze zu leiten – ein Punkt, der in den USA gerade heftig diskutiert wird.

Das radikalste Vorhaben ist allerdings auf der Strecke geblieben: Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah vor, Internetkonzerne wie Microsoft, Google oder Facebook zu verpflichten, die Daten brasilianischer Internetnutzer auf Servern in Brasilien zu speichern. Gerade die großen Telekommunikationsunternehmen widersetzten sich aber dieser Regelung. Sie wurde schließlich von der Regierung gestrichen, um das Gesetz mit den Stimmen der Opposition durchzubringen. Allerdings werden die Unternehmen in dem Gesetz zur Zusammenarbeit mit der brasilianischen Justiz verpflichtet. Klagen von Brasilianern gegen die genannten Unternehmen werden demnach künftig vor brasilianischen und nicht vor US-amerikanischen Gerichten verhandelt.

Verfassung fürs Netz

Brasilien gehört damit zu den weltweit führenden und fortschrittlichsten Staaten bei der Regelung ziviler und politischer Rechte im Internet. Von Daten- und Verbraucherschützern wird das Gesetz nicht zuletzt deshalb auch als "erste Verfassung fürs Netz" bezeichnet. Beispielhaft ist auch die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung des Gesetzes. Der Rohentwurf des Internet-Gesetzes war seit 2009 zunächst im Netz selbst unter Mitwirkung zahlreicher Internetnutzer entwickelt und dann von der Regierung 2011 auf den Weg gebracht worden. Obwohl von der Regierung zu einem wichtigen Anliegen erklärt, zogen sich die Auseinandersetzungen um das Gesetz dann aber mehr als zwei Jahre hin, da sich die Opposition zunächst querstellte.

Mit Bekanntwerden der weltweiten Überwachungs- und Spionagetätigkeiten des US-Geheimdienstes NSA gewann die Debatte um das Internet-Gesetz an Bedeutung und nahm auch in der Öffentlichkeit einen immer breiteren Raum ein. Vor der Abstimmung übergab das globale regierungsunabhängige Kampagnen-Netzwerk Avaaz dem brasilianischen Senat Unterschriften von 350.000 Bürgern, die sich für die Verabschiedung des Gesetzes aussprachen. Brasilien ist das "erste große Land, das Netzneutralität in seine Verfassung aufnimmt", würdigte Avaaz-Kampagnenchef Michael Freitas Mohallem die Abstimmung.

Auch der Senator Ricardo Ferraço von der mitregierenden PMDB zeigte sich zufrieden: "Das Ergebnis ist ein reifer, ausgewogener und intelligenter Gesetzestext, der die Rechte und Pflichten der Nutzer ausbalanciert." Elektronische Spionage, wie jene der NSA, werde künftig erschwert, mit den neuen Regeln zur Verfügbarkeit personenbezogener Daten könne das Kommunikationsgeheimnis sicherlich besser geschützt werden, so Ferraço.

Reaktion auf NSA-Skandal

Überhaupt ist das nun verabschiedete Internet-Gesetz in vielen Teilen eine Reaktion auf den sogenannten NSA-Skandal. Aus von dem ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden veröffentlichten geheimen Dokumenten war im Sommer vergangenen Jahres bekannt geworden, dass der US-Geheimdienst die Daten und den Emailverkehr brasilianischer Bürger ausspioniert und selbst den staatlichen Erdölkonzern Petrobras und sogar die Regierung bespitzelt hatte.

Ungehalten über die enthüllten Spionagetätigkeiten hatte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff daraufhin ihren geplanten Staatsbesuch in den USA und das Zusammentreffen mit US-Präsident Barack Obama abgesagt. In ihrer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) Ende September 2013 in New York kritisierte Rousseff die Bespitzelung durch den NSA scharf. Zudem kündigte sie Vorschläge für die Einführung einer multilateralen Vereinbarung zur Regulierung und Nutzung des Internets an. Damit sollten Meinungsfreiheit, Privatsphäre und Neutralität des Netzwerks gewährleistet werden. Auch unterbreitete Brasilien den USA ein Abkommen, das die Achtung der Souveränität beider Staaten gewährleisten und Spionageaktivitäten verbieten sollte.

Zusammen mit Deutschland brachte Brasilien darüber hinaus im Oktober 2013 eine Initiative bei der UNO ein, die Kontrolle des Internets durch die USA einzuschränken und die Privatsphäre im Netz besser zu schützen. Gleichzeitig ordnete Rousseff eine Reihe von Maßnahmen an, mit denen die Unabhängigkeit und eine bessere Sicherheit Brasiliens im Internet erreicht werden soll. Unter anderem schlug sie die Einrichtung transatlantischer Glasfaserkabel vor, um eine direkte Datenübertragung zwischen Europa und Brasilien zu gewährleisten.

Auch will sich Brasilien besser mit seinen südamerikanischen Nachbarn vernetzen, um von den durch die USA verlaufenden Verbindungen unabhängiger zu werden. Ein eigener Kommunikationssatellit soll 2016 ins All geschossen werden. Darüber hinaus überlegt die Regierung in Brasilia, künftig nur noch Hard- und Software zuzulassen, die den brasilianischen Datenschutzrichtlinien entsprechen. Die brasilianische Post soll bald einen verschlüsselten Dienst für E-Mails einführen.

Kritische Stimmen

Das nun verabschiedete Internet-Gesetz ist also nur ein erster Schritt dieser Bemühungen. Auch wenn von den meisten Experten und Kommentatoren freudig begrüßt, gibt es ein paar kritische Stimmen. "Das einzig Problematische ist das Speichern von Daten der Nutzer", sagt Luiz Fernando Moncau, Professor am Zentrum für Technik und Gesellschaft an der privaten juristischen Hochschule FGV Direito Rio, in der Tageszeitung Zeitung Folha de S. Paulo. Er schlägt vor, das Speichern nur solcher Daten zu erlauben, die für strafrechtlich Untersuchungen herangezogen werden. Andere Experten kritisieren noch bestehende Unklarheiten beim Veröffentlichen und Löschen persönlicher Daten sowie die Austarierung zwischen Schutz der Privatsphäre und Meinungsfreiheit.

Demi Getschko, Präsident von NIC.br, dem Brasilianischen Netzwerk-Informations-Zentrum und einer der Verteidiger der Internet-Gesetzes, sieht dagegen keine Fehler bei der neuen Regelung. Ein paar kleine Dinge könne man immer anders machen. Auch Präsidentin Rousseff äußerte sich zufrieden. Für sie ist die Verabschiedung des Gesetzes ein Punktsieg. Den Gesetzestext würdigte sie als Werkzeug der Meinungsfreiheit, des Schutzes der Privatsphäre sowie der Menschenrechte. "Kein Land sollte mehr Macht als andere im Netz haben", so Rousseff. Die Überwachung der Kommunikation richte sich gegen die eigentliche Natur des Internets, denn die sei "plural, offen und frei".