Brexit: Zweierlei Unfaires
Brüssel fordert "Level Playing Fields" und übt bei den Verhandlungen mit der Möglichkeit der Nichtanerkennung von Zivil- und Handelsrechtsurteilen Druck aus
Ende letzter Woche erklärte der EU-Unterhändler Michel Barnier, die vierte Runde der Verhandlungen zur zweiten Ausstiegsetappe Großbritanniens aus der EU habe - wie die drei anderen davor - "keine wesentlichen Fortschritte" gebracht. Sein britisches Gegenstück David Frost äußerte sich mit der Formulierung, es habe "begrenzte Fortschritte" gegeben, nur begrenzt zuversichtlicher.
Kern der Meinungsverschiedenheiten ist eine unterschiedliche Auslegung des im letzten Jahr vereinbarten "Level Playing Fields". Diese an den Ballsport angelehnte Metapher soll aussagen, dass alle Teilnehmer unter den gleichen Bedingungen spielen. Beim Fußball geschieht das auf recht simple Weise, indem nach einer Halbzeit die Spielfeldhälften gewechselt werden. Beim künftigen Verhältnis zwischen Brüssel und London ist es etwas komplizierter.
"Dynamic Alignment"
Hier verlangt Brüssel bislang, dass London nicht nur bereits vereinbarte Produktionsvorschriften zum Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz übernimmt, sondern auch alle zukünftigen - und zwar automatisch. London sieht in so einem "Dynamic Alignment" einen unverhältnismäßigen Eingriff in die zurückgewonnene Souveränität und möchte, dass sich die Volksvertreter dort zukünftige Brüsseler Regeln erst ansehen dürfen, bevor sie ihnen zustimmen - oder nicht. Einen britischen Kompromissvorschlag, dass Brüssel diese Position akzeptiert, wenn London dafür einige EU-Zölle auf britische Waren hinnimmt, bei denen die EU nach eigenen Angaben Bedenken vor britischen Billigangeboten hat, lehnt Barnier einem Bericht der Daily Mail zufolge ab.
Bei einem anderen Streitpunkt geht es um nur etwa 0,1 Prozent der Bruttoinlandsprodukte des Vereinigten Königreichs und der EU, aber um einen Bereich, der auf der Insel symbolisch aufgeladen ist. Dort glauben viele Bewohner von Hafenstädten, dass Margret Thatcher sie zu billig verkaufte, als sie sich Anfang der 1980er Jahre auf das GFP-Kontingentsystem einließ, welches den Fischereiflotten aller EU-Länder Zugang zu den britischen Gewässern gewährt. Eine Überfischung soll in diesem System dadurch verhindert werden, dass Brüssel den Mitgliedsländern Fangkontingente zuteilt, die sich an den Fangmengen der Jahre 1973 bis 1978 orientieren.
Barnier will an diesem alten System festhalten. Der britische Premierminister Boris Johnson argumentiert dagegen, dass eine nach dem Vorbild des EU-Fischereiabkommens mit Norwegen gestaltete und jedes Jahr neu ausgehandelte Kontingentregelung nicht nur britische Fischer, sondern auch britische Fische besser schützen würde. Mit ihr könnten nämlich lokale Bestandsdaten berücksichtigt werden, die nicht überall gleich sind.
Abkommen von Lugano
Gibt es zivil- und handelsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Norwegen und der EU, kommt das Abkommen von Lugano zur Anwendung. In diesem internationalen Vertrag ist festgelegt, wo sich Gerichtsstände befinden, und welche Entscheidungen unter welchen Voraussetzungen anerkannt und vollstreckt werden. In der Vergangenheit klappte das so zufriedenstellend, dass der britische Premierminister im April einen Antrag auf die Teilnahme seines Landes an diesem Abkommen stellte, an dem es bis zum 31. Dezember noch als EU-Mitgliedsland beteiligt ist.
Norwegen, die Schweiz und Island befürworten diesen Antrag bereits - aber für eine Aufnahme ist ein einstimmiges Votum nötig, und die EU hält sich ihre Position dazu noch offen. Sie nutzt das Lugano-Übereinkommen damit als Druckmittel, mit dem sie London zu Zugeständnissen bei den beiden oben genannten Streitfragen zwingen will. Der Financial Times zufolge sind deshalb britische Anwälte bereits nervös geworden und warnen vor Nachteilen wie einem Bedeutungsverlust des Gerichtsstandortes London. Darüber hinaus empfindet man aber auch das Brüsseler Vorgehen als sehr unfair, weil das Lugano-Übereinkommen eine "bestehende multilaterale Konvention" sei, "die ausdrücklich allen Ländern der Welt offen steht" und weil das Vereinigte Königreich "mit den Ländern, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, in Fragen des internationalen Privatrechts jahrzehntelang vor der Einführung des Binnenmarktes und der EU zusammengearbeitet" habe.
Nun sollen Vertreter des UK und der EU auf einer höheren Ebene als der von Barnier und Frost einen Ausweg aus den festgefahrenen Verhandlungen finden. Sie sollen sich auch nicht mehr bloß in einer Videokonferenz treffen, sondern persönlich. Wer und wann das konkret sein wird, steht noch nicht genau fest. Als wahrscheinlich gilt jedoch, dass sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Ratspräsident Charles Michel noch vor dem nächsten EU-Gipfel am 19. Juni mit dem britischen Premierminister Boris Johnson treffen, damit sie den dort versammelten Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer eventuelle Kompromissvorschläge und neue Ideen unterbreiten können.
Für den Fall, dass man bis zum Jahresende keine Kompromisse findet, hat Andrew Bailey, der Gouverneur der Bank of England, einem Bericht des Nachrichtensender Sky News nach den anderen britischen Banken letzte Woche zu verstärkten Vorbereitungen für einen doch noch harten britischen Ausstieg in der zweiten Etappe geraten. Offiziell gibt es von der Notenbank dazu aber keinen Kommentar.
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