Britische Regierung verfolgt nicht mehr die Strategie der Herdenimmunität
Nach heftiger Kritik an der Coronavirus-Strategie, die zu hunderttausenden Toten führen kann, setzt man jetzt auch auf soziale Distanz, aber nur auf der Basis der Freiwilligkeit, was wenig verändern wird
Großbritannien hat nach dem Brexit eine Position gegenüber der Coronavirus-Pandemie eingenommen, mit der das Land unter der Führung von Boris Johnson eine Außenseiterrolle spielt. Wichtig war den Brexiteers schließlich, unabhängig von Resteuropa zu werden, die Grenzen kontrollieren und eigene Entscheidungen treffen zu können.
Zwar haben auch die EU-Mitgliedsländer nicht auf eine gemeinsame EU-Strategie gewartet, sondern sind alleine mit Maßnahmen vorgeprescht, aber nachträglich versucht die EU-Kommission die Maßnahmen zu koordinieren, etwa durch Regeln für Grenzschließungen im Schengenraum, und verhängte nun ein 30-tägiges Einreiseverbot in die EU, ausgenommen sollen EU-Bürger, Mitarbeiter im Warenverkehr, Diplomaten oder auch Briten sein, obgleich dort die Strategie der Regierung, die Ausbreitung des Virus nicht wesentlich einzuschränken, um eine schnelle Herdenimmunität zu erreichen, eine Gefahr für die Menschen in der EU sein könnte.
Experiment mit der Bevölkerung
Vergangenen Dienstag hatte die britische Regierung erste Maßnahmen bekanntgegeben. Sie waren alles andere als streng und eher Ausdruck eines gechillten Laissez-faire, betont wurde, dass sie auf "klinischen und wissenschaftlichen Beweisen" sowie "sorgfältigen Modellen" basiere. Wer bei sich selbst Symptome wahrnimmt, solle sich für 7 Tage isolieren (nicht 14 wie das anderswo in der Welt geraten oder angeordnet wird). Das Wichtigste, was man tun könne, sei, seine Hände gründlich mit Seife oft zu waschen. Das Gesundheitsministerium erklärte, man dürfe die nächste Stufe des Schutzes, also weitergehende Vorgaben der sozialen Distanzierung, bloß nicht zu früh einführen. Um eine maximale Wirkung zu erreichen, müsse das Richtige zum richtigen Zeitpunkt geschehen. Und davon war man überzeugt.
Keine Verbote auszusprechen, heißt natürlich, die Infektion sich ausbreiten zu lassen. Die Hoffnung dahinter war, auf diese Weise eine "Herdenimmunität" zu erreichen. Dazu ist gut, wenn die Menschen weiterhin in Massen unterwegs sind. Wenn 60 oder 70 Prozent der Bevölkerung erkrankt waren und eine gewisse Immunität erreicht haben, wäre eine unkontrollierte Ausbreitung nicht mehr möglich und die Bevölkerung weitgehend geschützt. Aber was es bedeutet, eine solche Ausbreitung zu akzeptieren, basiert auf wie auch immer gearteten Mutmaßungen und ist in erster Linie ein großes Gesellschaftsexperiment. "Herdenimmunität" wurde bislang nur durch Impfkampagnen bewirkt, keiner weiß, ob die Strategie auch auf eine Epidemie anwendbar sein kann.
Wissenschaftler erwarten Hunderttausende von Toten
Am Tag zuvor hatten Epidemiologen vom Imperial College London die Folgen von zwei Vorgehensweisen bewertet: der Verlangsamung oder Abschwächung der Epidemie und einer scharfen Bekämpfung mit dem Ziel, die Epidemie einzudämmen. Die Verlangsamung der Ausbreitung würde die Belastung des Gesundheitssystems um zwei Drittel senken und die Todesfälle um die Hälfte. Gleichwohl würde es zu 260.000 Toten und einer massiven Überlastung des Gesundheitssystems kommen. Die zweite Strategie ist die Unterdrückung der Epidemie mit massiven Verboten wie der sozialen Distanzierung der gesamten Bevölkerung, Quarantäne für Infizierte und ihren Familien. China und Südkorea hätten dies geschafft, es sei aber keineswegs sicher, ob dies auf Dauer erfolgreich ist. Durchgehalten werden müsste dies 18 Monate, bis es einen Impfstoff gibt. Ohne Kontrollmaßnahmen, wie dies die britische Regierung erst einmal verfolgt hatte, würden 80 Prozent der Bevölkerung infiziert, über eine halbe Million würde sterben.
Und dann wurde auch noch am Sonntag eine geheime Studie von Public Health England (PHE) für die Führung der Gesundheitssystem NHS bekannt. Danach müsste man damit rechnen, dass die Epidemie bis zum Frühling nächsten Jahres andauern und zu Krankenhauseinweisung von 7,9 Millionen Briten führen kann. 80 Prozent würden infiziert werden. Bei einer Mortalitätsrate von 1 Prozent würden mehr als 500.000 Briten sterben. Witty geht von einer Todesrate von 0,6 aus, damit würde die Regierung aber immer noch mehr als 300.000 Todesfälle riskieren.
Zudem forderten Wissenschaftler die Regierung auf, die wissenschaftlichen Grundlagen für ihre Strategie auf den Tisch zu legen. Das setzte die Regierung unter Druck, zumal die Zahl der Infizierten weiter steigt, von Montag auf Diensttag um 407 auf nun 1950 Fälle, 60 Menschen sind gestorben. Unter dem Eindruck der Zahlen der Wissenschaftler des Imperial College London, veränderte die Johnson-Regierung ihre Strategie, freilich nicht entscheidend und alles auf freiwilliger Basis. Der Gesundheitsminister erklärte bereits am Montag, dass Herdenimmunität nicht das Ziel sei.
Gestern hatte die britische Regierung ihre neue, ein klein wenig verschärfte Seuchenbekämpfungsstrategie verkündet. Wichtig war ihr, dass dieser auf "klinischen und wissenschaftlichen Beweisen" basiert. Man ist also ganz rational, folgt den Experten und geht gut britisch von einem utilitaristischen Ansatz aus. Beschlossen wurde, wie es heißt, die Phase der Eindämmung der Viruspandemie zu verlassen und in die Phase der Verzögerung umzuschalten, nachdem der leitende Amtsarzt des Landes, Professor Chris Witty, die Gefährlichkeit von mäßig zu hoch hochgestuft hatten.
Regierungschef Boris Johnson erklärte die halbe Kehrtwendung, die aber lange nicht die Maßnahmen in anderen Ländern ergreift, dadurch, dass das Problem eigentlich nicht in einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems liege, sondern an der Menge der Infizierten. Daher empfehle man nun die Vermeidung unnötiger Kontakte und den Schutz von Gefährdeten. Die Empfehlungen bezeichnete er als "extrem", warnte aber, dass man womöglich in den nächsten Tagen noch weiter gehen könnte, um Menschenleben zu schützen.
Obwohl Johnson verkündete, dass die Regierung wisse, wie man den Feind besiegt, will er sich eine Türe für einen schnellen Schwenk offenlassen: "Wir wissen, dass, wenn wir als Land dem wissenschaftlichen Rat folgen, der nun erfolgt ist, dass wir ihn besiegen." Das Problem beim laxen Vorgehen ist vor allem, dass sich die Epidemie schnell so verbreiten kann, dass das Gesundheitssystem überfordert wird und viele Menschen sterben müssen, weil auch später eingeführte Verbote, wie sie in der EU jetzt eingeführt wurden, nicht mehr rechtzeitig greifen können.
Das neue Konzept der sozialen Distanz wird lediglich für besonders gefährdete Personengruppen empfohlen (über 70 Jahre, Schwangere, Kranke, Fettleibige, Menschen mit schwachem Immunsystem etc.). Ansonsten geht das Leben weiter wie zuvor, auch wenn geraten wird, die Hände oft zu waschen, den Kontakt mit Menschen zu vermeiden, die COVID-19-Symptome zeigen, auf unnötige Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verzichten, möglichst vom Home Office aus zu arbeiten, Massenansammlungen und Treffen in Pubs, Kinos, Restaurants etc. ebenso zu vermeiden wie Treffen mit Freunden und der Familie. Stattdessen solle man "Teletechnik" wie Telefon, Internet und Soziale Medien nutzen, um Kontakt zu halten. Außenminister Dominic Raab erklärte gestern zudem, man empfehle allen Briten, auf unnötige Auslandsreisen zu verzichten.
Nach dem wissenschaftlichen Chefberater Patrick Vallance wäre das beste Szenario, dass 20.000 Menschen an der Coronavirus-Epidemie sterben. Es sei zumindest die Hoffnung, die Zahl der Toten auf diese Zahl herunterzubringen. Das sei im Vergleich mit den Influenza-Toten von etwa 8000 jährlich ein gutes Ergebnis.Aber das würde das Gesundheitssystem weiterhin sehr belasten.
Die Frage wird sein, ob die britische Bevölkerung auch unter dem Eindruck der Erfahrungen im Ausland die Empfehlungen freiwillig und massenhaft umsetzt und einhält oder ob sie erst einmal das gewohnte Leben fortsetzt - und damit die schnelle Ausbreitung riskiert, also den ursprünglichen Plan der Regierung und ihrer Berater verfolgt. Noch jedenfalls spielt die britische Regierung mit hohem Einsatz, weil sie nicht wagt, Verbote zu erlassen, wahrscheinlich in der Sorge, dann das Image als Brexit-Freiheitskämpfer zu verlieren. Aber das Land ist mit seiner Coronavirus-Strategie bereits eine einsame Insel.
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