Britischer Kolonialismus und russische Dorfgemeinde – Zerstörung und Überlebenshoffnung

Zwei in britischen Diensten stehende Soldaten (Sepoys), 1857 wegen Rebellion gehenkt. Bild: Public Domain

Kleines Marx-Lexikon - achte und letzte Folge

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In dieser Folge: Obschtschina / Kolonialismus / Tanz

Obschtschina

Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muss sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozess durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?
Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich ist, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Eigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.

(MEW 19/296; vgl. auch S. 396ff.)

Marx, der dies ein Jahr vor seinem Tod 1883 zusammen mit Engels schrieb, ahnte die kommenden Umbrüche voraus. Diese Prophetie rührt jedoch nicht von einem teleologischen Geschichtsverständnis her, einem "notwendigen Gang" der Geschichte und dergleichen, sondern von einem Gespür für Ungleichzeitigkeiten.

Die Protagonisten der Oktoberrevolution waren hingegen befangen in einem kommunistischen Endzeitdenken oder gar Chiliasmus, der gepaart war mit dem Katzenjammer, dass Russland wegen der Unterentwicklung des Proletariats eigentlich nicht reif sei für die Revolution. Folglich konnten sie mit diesem versteckten Hinweis auf die Obschtschina nicht viel anfangen. 1892 setzte auch Engels nicht mehr auf die Obschtschina, da sie nicht mehr zu retten sei. (MEW 38/305)1. Aber um die Unstimmigkeiten komplett zu machen, war seine Begründung nunmehr, dass der Kapitalismus sich in Russland durchsetze.

Diese alte Form der Dorfgemeinschaft mit Gemeinbesitz trat im mitteleuropäischen Mittelalter unter anderen Bedingungen und in anderer Gestalt unter dem Namen "Allmende" auf. Und solange die Revolution nicht im Gange ist, formieren sich in Zwischenräumen des heutigen Kapitalismus schon einmal Initiativen, die die Fragen stellen: Wem gehört die Stadt? Wem gehört das Wasser? usw. Gegen die zunehmende Privatisierung und Marginalisierung des öffentlichen Raumes protestieren sie unter dem Schlachtruf: Reclaim the Commons. Ihre klassische Wirtschaftsform ist die Genossenschaft.

These:
Kann die Obschtschina, die russische Dorfgemeinde mit Gemeinbesitz, den Kapitalismus überspringen? Marx zeigt Bereitschaft, von einem Geschichtsdeterminismus abzuweichen.

Kolonialismus

Als Korrespondent der New York Daily Tribune berichtete Marx zwischen 1852 und 1862 von London aus über kolonialistische und imperialistische Herrschaft weltweit. Die meisten Artikel widmen sich der "British Rule in India". Nach den Holländern pfropfte die Ostindische Kompanie ihren Despotismus dem Despotismus der asiatischen Produktionsweise um den Preis der Vernichtung auf. "England hat das ganze Gefüge der indischen Gesellschaft niedergerissen, ohne dass bisher auch nur die Spur eines Neuaufbaus sichtbar geworden wäre."(MEW 9/129) Die Niederschlagung eines Aufstandes von 1857 wurde an Grausamkeit nur noch von den Opium-Kriegen gegen China übertroffen.

1857-59: Aufstand gegen die britischen Kolonialherren. Sepoys verteilen Beute. Bild: Public Domain

Häusliche Produktion, Manufaktur und Agrikultur waren die Basis der indischen Produktionsweise.

Jene auf der Familie beruhenden Gemeinwesen hatten ihre reale Grundlage im Hausgewerbe, in jener eigenartigen Verbindung von Handweberei, Handspinnerei und handbetriebenem Ackerbau, die sie in den Stand setzten, sich selbst zu versorgen.

(MEW 9/132)

Das Gewerbe wurde ausradiert. Die Vernachlässigung der Bewässerungsanlagen ließ die Agrikultur verkümmern. Die Gemeinden wurden aufgelöst.

Es war der britische Eindringling, der den indischen Handwebstuhl zerstörte und das Spinnrad zerbrach. England begann damit, dass es den indischen Kattun vom europäischen Markt verdrängte; dann führte es Maschinengarn nach Hindustan ein und überschwemmte schließlich das eigentliche Mutterland des Kattuns mit Kattunwaren.

(MEW 9/130)

Treibende Kraft waren die Dampfmaschinen.

Kennzeichen der asiatischen, in Sonderheit indischen Produktionsweise ist das Fehlen jedweden Privateigentums an Grund und Boden. Die Beziehung des Produzenten zu den objektiven Bedingungen der Arbeit ist vermittelt durch sein Dasein als Gemeindemitglied, schreibt Marx.2 Die Individuen befinden sich in einer bloß akzidentiellen Lage gegenüber ihrem naturwüchsigen Gemeinwesen als Substanz. Das liest sich wie eine Urform des Kommunismus, aber Marx weist auch hier darauf hin, dass es sich um alles andere als Arkadien, unentfremdetes Sein handelte.

Er moniert die "Naturwüchsigkeit". Über den verstreuten Kommunen mit ihren Gemeineigentum steht eine Zentralregierung, die ursprünglich einmal den Bau und Betrieb von Bewässerungsanlagen regulierte, aber inzwischen despotisch geworden ist. Die Menschen lassen die Zentralregierung und deren Händel mit konkurrierenden Mächten wie ein Naturereignis über sich ergehen, solange nur ihr Dorf ungeteilt ist. Ihre Mentalität ist borniert, Tiere sind ihre Götter, und die Produktionsverhältnisse sind statisch.

Veränderungen liegen außerhalb des Horizonts. Das unterscheidet diese Produktionsweise von anderen wie der antiken, der germanischen und der feudalen, die zwar auch gemäßigte Formen des Gemeineigentums kennen, aber den Keim zur jeweils höher entwickelten Gesellschaftsformation in sich tragen und somit absterben, zumindest nur in Residuen weiter existieren. Da kommt wieder der Hegelianer in Marx durch. Hatte doch Hegel tatsächlich geschrieben: Indien und China liegen außerhalb der Weltgeschichte.

Der Kapitalismus steht in der geschichtsphilosophischen Reihe ganz hinten. Er hat die Tendenz zur weltweiten Expansion. Ist diese an ihre Grenzen gestoßen, sind die Umschlagsbedingungen gegeben, dass der Kapitalismus sich selbst vernichtet. Die bornierte asiatische Produktionsweise erfüllt jedoch die Bedingungen auf dem Weg dorthin nicht. Daran ändern auch die Aufstände nichts. Der kapitalistische Imperialismus muss sich erst in Indien und China durchsetzen, um die Voraussetzungen für den Kommunismus auch dort zu schaffen.

Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewusste Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.

(MEW 9/133)

Solche Sätze wirken fast schon stereotyp in ihrer Emphase. Kritiker übersehen, dass Marx als Journalist einen scharfen Blick auch für Einzelheiten hatte. Ganz en passant überlegt er, ob es in China nicht doch Bruchstellen zur Entwicklung eines Kapitalismus gebe. Auch Japan habe aus eigener Kraft eine Modernisierung eingeleitet. Wie beschrieben, lässt Marx auch bei der russischen Obschtschina Ausnahmen von der theoretischen Dogmatik zu. Sie könnte die kapitalistische Stufe überspringen.

Im 23. Kapitel des 'Kapitals' schreibt Marx, dass die Ursprüngliche Akkumulation die europäischen Massen unter das Juggernaut-Rad des Kapitals schleudert. Die Allegorie spielt an auf einen hinduistischen Kult, bei dem Gläubige vom Prozessionswagen überrollt zu werden drohten. Das Bild legt Parallelen zwischen der Ursprünglichen Akkumulation und der Zerstörung indischer Gemeinwesen durch die Engländer nahe.

Was ist aus der "British Rule" geworden? Die Länder sind unabhängig geworden. Die Import/Export-Ströme haben sich verändert. Hat sich aber am Wesentlichen etwas verändert, wenn die internationale Textilschwemme auf Vertreibung der Menschen vom Land, auf Lohndrückerei und gefährlichen Arbeitsbedingungen beruht? Die Streiks und Demonstrationen der Textilarbeiterinnen in Bangladesch und Pakistan sind gar nicht mehr so asiatisch, sie sind sehr marxistisch.

Der Kolonialismus wirkte verheerend auf die "asiatische Produktionsweise". Der Kapitalismus stößt jedoch mit der weltweiten Usurpation an seine eigenen Grenzen, nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren der Selbstzerstörung.

Tanz

Tanz? Marx, der Choreograph? Der Choreograph der bürgerlichen Gesellschaft?

In der Einleitung "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" schreibt Marx 1844: "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt." (MEW 1/381)

Der französische Sozialphilosoph Jean Baudrillard (1929-2007) hat das zugespitzt: Man muss die Dinge bis zum Äußersten treiben, bis sie von selbst in sich zusammenstürzen. - Und wer nicht recht weiß, was Dialektik ist, erfährt hier an einem Anwendungsfall, was sie anrichten kann. Tänzerisch.

Die listigste Kritik ist die, welche die Gesellschaft in Bewegung setzt, damit sie von selbst über sich hinaustreibt.

Schluss:

Eine Karikatur von 1843 zeigt Karl Marx als gefesselten Prometheus. Es ist eine Allegorie auf das Verbot der Rheinischen Zeitung, deren Chefredakteur Marx gewesen war. Der "Vordenker" Prometheus raubt den Göttern das Feuer, also auch die Erleuchtung, und bringt es den Menschen. Dafür wird er bestraft. Das Bild wird Marx gefallen haben. Er war ein Rebell, der mit Zensur, Strafverfolgung und Ausweisung zu kämpfen hatte. Seine erste Rebellion hatte sich gegen den Vater gerichtet. Der Konflikt wurde friedlich in einem bewegenden Briefwechsel ausgetragen. Konflikte dieser Art hat Sigmund Freud klassisch beschrieben, für die Antike, aber auch für das 19. Jahrhundert.

Karl Marx, der gefesselte Prometheus. Lithographie von 1843. Bild: Public Domain

Daraus auf die folgenden Geschicke im Leben des Karl Marx zu schließen, wäre eine so anmaßende wie triviale Vor-Festlegung. Aber die weitere Biographie zeigt empirisch, dass Marx fest eingebunden war in die autoritären Strukturen des 19. Jahrhunderts, gegen die er zugleich rebellierte. Die Diktatur des Proletariats ist das Symbol jenes Autoritarismus. Die Frage ist hier nicht, ob sie gerechtfertigt ist oder nicht. Bertolt Brecht fasst das Dilemma der Notwendigkeiten revolutionärer Gewalt in Verse: "Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so." Ein schöner Satz, doch irgendwie schwingen schlechtes Gewissen und Selbstmitleid mit.

Die Antithese wurde von den Anarchisten vertreten: Ablehnung jedweden Autoritarismus, Befreiung des Menschen aus den Fesseln hier und jetzt. Diese Unmittelbarkeit setzt eine Mentalität der Menschen voraus, die sie sofort reif macht für den Kommunismus. Marx räumt mit dieser Idee auf. Der Weg zum Kommunismus ist steinig. Marx legt der Praxis der Revolution und seinem eigenen revolutionären Denken Zügel an, um den Erfolg zu garantieren. Aber setzt er nicht eine Maxime voraus, die die Menschen zum Guten lenkt? Die Kommunisten sind die Sachwalter jener Maxime und helfen nach. Die Begeisterung, die aus der 11. Feuerbachthese spricht (siehe: Philosophie), ist mit dem profanen Nachdenken über die Umsetzung verflogen. Die subjektiven und die objektiven Momente der Revolution lassen sich schwer zusammenbringen.

Über der Notwendigkeit, mit welcher der Kapitalismus die Kräfte seiner eigenen Negation entfaltet, erhebt sich nach wie vor der Staat (der Übergangsphase), der mit neuen Inhalten gefüllt wird, um von oben herab die Kontrolle über die Vergesellschaftung und die Kontrolle über das nachhinkende Bewusstsein von Menschen zu übernehmen, die noch mit den Eierschalen des Alten behaftet sind. Dieses politische, notfalls gewaltsame Handeln wird letztlich auch durch Notwendigkeit gerechtfertigt - Notwendigkeit, durchsetzt mit Willkür.

Ende der 1920er Jahre stellten die jungen linken Soziologen des "Instituts für Sozialforschung" fest, dass die sozialen Widersprüche derart zugespitzt waren und der gesellschaftliche Reichtum auf Grund der Entfesselung der Produktivkräfte derart aufgestaut war, dass die Zeit nach einer Revolution dränge. Doch zu ihrer Verwunderung liefen immer mehr Arbeiter zu Adolf Hitler über. Die Person des Diktators, nicht anders als der Name Lenins oder Stalins, ist schon die Antwort auf das Paradox: Die Menschen suchten Führerschaft. Sie waren autoritätsgebunden. Sie suchten nach verlorenen Zeiten. Sie merkten nicht, dass es ein Rückfall in die Barbarei sein würde. Das Bewusstsein wich vom gesellschaftlichen Sein ab.

In der "Deutschen Ideologie" schreiben Marx und Engels, dass "jeder Trieb, jedes Bedürfnis als eine Macht 'in dem Individuum über dem Individuum' sich behaupte, sobald die Umstände deren Befriedigung verhindern." (MEW 3/86) Es ist die Herrschaft des Gedankens im Individuum über es. Die Ausgeburten seines Kopfes wachsen über seinen Kopf. (MEW 3/144)

Gäbe es diese Fundstelle nicht, müsste man sagen: Marx hat die Psyche vergessen. Andere wie Michel Foucault, Theodor W. Adorno oder Klaus Heinrich haben sie im 20. Jahrhundert nachgetragen.

Akkumulation, ursprüngliche (Teil 5) / Ausbeutung (Teil 2) / Bonaparte (Teil 3) / Bonapartismus (Teil 3) / Charaktermaske (Teil 1) / Diktatur des Proletariats (Teil 6) / Entfremdung (Teil 2) / Expropriation der Expropriateure (Teil 5) / Fetisch (Teil 1) / Gewalt (Teil 5) / Hegel (Teil 4) / Holzdiebstahl (Teil 1) / Ideologie (Teil 4) / Judenfrage (Teil 4) / Kolonialismus (Teil 8) / Kommunismus (Teil 6) / Lumpenproletariat (Teil 3) / Obschtschina (Teil 8) / Pariser Kommune (Teil 6) / Pariser Manuskripte (Teil 2) / Philosophie (Teil 4) / Stundenzetteltheorie (Teil 7) / Tanz (Teil 8) / Tisch (Teil 1) / Utopischer Sozialismus (Teil 7) / Wert (Teil 2).