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Bücher werden online zugänglicher, doch sie sind weniger relevant als je zuvor. Mihai Nadin im Interview zu Fragen einer Überwindung der Werte der Schriftkultur
Ein Zeichen der Zeit? Seit wenigen Tagen erlaubt es der große amerikanische Verlag Random House, online in seinem Buchangebot zu stöbern und Seiten aus seinen Büchern in die eigene Homepage einzubinden. Immer mehr Verlage folgen dem „Search Inside“-Prinzip von Amazon; auch Google setzt seinen Plan, mehrere Millionen Bücher zum kostenlosen Download anzubieten, konsequent um. Handelt es sich dabei tatsächlich um eine Medienrevolution? Telepolis befragte dazu Mihai Nadin , einen unnachsichtigen Kritiker der Schriftkultur.
Nadin ist Semiotiker, Computer- und Systemforscher; geboren 1938 in Rumänien, lehrte und forschte er u.a. als Professor für Computational Design in Wuppertal und leitet seit 2004 an der University of Texas das Institut für Research in Anticipatory Systems (ANTE). Nadin kritisiert trotz techno-kultureller Potenziale, die eine neue Nachhaltigkeit begründen könnten, die bestehende Fortsetzung einer Produktionslogik des Industriezeitalters und seiner Denkgewohnheiten. Sein Plädoyer gilt einer individualisierten Technik, an die sich Menschen nicht anpassen müssen, sondern die ihnen dabei hilft, kreative und antizipative Verhaltensweisen anzunehmen.
Die Hypertext-Idee ist längst verblasst, und der akademische Teil des Web gleicht immer mehr einer riesigen PDF-Wüste. Es scheint, als könnten wir die Ideen der Druckkultur nicht überwinden. Doch dass Google zahllose Bücher bereits kostenlos Online anbietet, wurde in der Presse als Medienrevolution bezeichnet. Was meinen Sie dazu, als Autor von "Jenseits der Schriftkultur"?
Mihai Nadin: Mein Buch gab es schon lange vor Google gratis im Web, im englischen Original und auch in deutscher Übersetzung. Ich habe das zuerst auf meiner Webseite angeboten, dann im Projekt Gutenberg, das immer noch der größte Versuch ist, Bücher über das Internet verfügbar zu machen. Das sind dann meist Werke, die nicht mehr Copyright-geschützt sind. Doch weder meine Entscheidung, das anzubieten, noch das Angebot von Google verdient die Bezeichnung "Medienrevolution". Als Publikationsmedium ist das Internet eine wichtige technische Errungenschaft. Wenn man von einer Revolution spricht, so würde das einem völlig neuen Verständnis vom Buch entsprechen, oder von jeder vorstellbaren medialen Ausdrucksform wie Musik, Tanz, Film, Theater, usw. Wenn wir von Medien als Produkten sprechen, dann bleiben wir Gefangene des industriellen Modells und seiner Marktmechanismen.
Sicher, Autoren müssen von etwas leben, genau wie die Leute, die Schrauben oder Tische herstellen, oder Brot oder Wein. Wenn man den Hahn aufdrehen könnte und aus der Leitung käme Beaujolais, dann wäre das auch interessant, aber würde man von einer Revolution sprechen? Revolution bedeutet grundlegenden Wandel, und damit Diskontinuität. Wenn man eine große Bibliothek von Büchern anlegt, die über das Internet erhältlich sind, dann ändert das nur die Form unseres Zugangs zu Büchern. Die Revolution aber versteckt sich hinter der Tatsache, dass das Buch weniger relevant ist als je zuvor, und dass es weiterhin an Relevanz verlieren wird. Damit ändert sich auch unser Verständnis dessen, wie und warum wir schreiben, wie wir Wissen teilen und über welche Formen wir die Dynamik wissenschaftlicher, technologischer und künstlerischer Wirklichkeiten vermitteln.
Das amerikanische Google-Projekt trifft auch auf Widerstand. Der Direktor der französischen Nationalbibliothek, Jean-Noel Jeanneney, macht sich für eine europäische Alternative stark.
Mihai Nadin: Das ist doch aber genauso von Werten der Vergangenheit geprägt und geht nicht über das gestrige Industrie-Modell hinaus. Es fehlt der Mut, wirkliche Alternativen auszuloten. Vor allem die Autoren sind noch nicht willens, die enormen Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen das Publizieren übers Internet bietet. Eine veraltete Gesetzeslage schützt das so genannte geistige Eigentum, doch dabei dreht sich doch alles um die Kontrolle durch all jene, die dieses Eigentum nicht geschaffen haben, sondern nur an dessen Verwertung interessiert sind. Es ist ein absurdes, Konsumations-getriebenes Marktmodell.
Wir brauchen eine Alternative, und die besteht nicht in einer neuen Druckerpresse, sei sie nun digital oder anders. Sie besteht im freien Wissenszugang, denn Wert entsteht im Gebrauch, nicht in der Verbreitung. In meinen Büchern steht dies alles genauer nachzulesen – man findet sie übrigens auch bei Google Books. Aber dort kommen sie mit der üblichen Werbung, was ja erklärt, warum ein Suchmaschinenbetreiber zu einem der erfolgreichsten Unternehmen der Welt werden konnte.
In einer automatisierten Umgebung braucht man halt keine Schriftkultur
Die Verwendung von Computern in fast allen Lebens- und Arbeitsbereichen hat ja inzwischen für Alternativen zur Verschriftlichung des Denkens als exklusiver Kulturleistung gesorgt, für neue Formen jenseits der Literalität. Kultur und Computer scheinen aber immer noch im Widerspruch zu stehen.
Mihai Nadin: Alternativen zur Verschriftlichung des Denkens haben nur wenig (falls überhaupt) mit Computern bzw. Technologie zu tun. Und doch bilden Computer und Kultur nicht, wie so viele meinen, einen Widerspruch. Computer sind Teil der Kultur, und zusammen mit allem anderen, was zur Kultur gehört und innerhalb der Kultur entsteht, stehen sie für einen neuen Stand der menschlichen Zivilisation.
Fundamental ist die Tatsache, dass der Computer und das Digitale nicht die Kommunikation bestimmen, obwohl Computer sowie Datenverarbeitung und Kommunikation (als Handlung, aber auch als Ergebnis des Kommunizierens) sich gegenseitig beeinflussen. Beide sind letztlich Ausdruck einer viel tiefer reichenden Dynamik, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, eine Effizienz zu erreichen, die der neuen Skala menschlicher Tätigkeit entspricht.
Wenn wir uns doch im Zeitalter sich vervielfältigender Optionen zur Sprache und zur Schriftkultur befinden: Bedeutet dies eine Zäsur, die anstelle von Schriftlichkeit jetzt Programmierbarkeit setzt? In welchem Sinn sehen Sie Programmierbarkeit als eine kulturelle Kategorie? Wir nehmen ja meist nur die Resultate wahr, wenn etwa durch gelungene Programmierung Anwendungen besser funktionieren... die Programme selbst können aber nur Spezialisten wahrnehmen.
Mihai Nadin: Programmierbarkeit ist keine Alternative zur Schriftkultur und auch nicht eine der gerade erwähnten neuen Optionen. Alles, was keine spontane Reaktion ist (actio-reactio), ist Ausdruck eines Programms. Ja, Programme sind nicht anderes als Vermittlungen – genauer: mentale oder physikalische Maschinen, die vermitteln. Insofern wurde schon immer programmiert, in Schrift oder auch nicht. Computerprogramme sind Ausdruck der automatisierten Mathematik. Die Automatisierung von Handlungen (Kontoführung, Raketenabschuss, Textverarbeitung, Steuerung von Maschinen aller Art, Bierbrauen, etc.), die durch eine andere als die natürliche Sprache (viele meinen, die Mathematik sei universell!) beschrieben werden, ist durch Computerprogramme ermöglicht. Automaten, ob nun durch Rechner oder durch Hitze, Wasserfall, usw. gesteuerte Mechanismen, sind Teil der Kultur und prägen die Kultur.
Manchmal gibt es keine wahrnehmbaren Ergebnisse eines Programms, z.B. alle Katastrophen, kleine oder große, die durch Automaten vermeidbar werden. Meist sind die Ergebnisse nur am Ende einer langen Kette von Programmen erkennbar – das tägliche Brot, der Käse, die Wurst. Auch Autofahren, Fliegen, usw. befinden sich in der programmierten Sequenz ziemlich weit weg vom relativen Ursprung. Weizenkörner und Wasser (im Bezug auf Brot), die künstliche (gibt es die natürliche noch?) Befruchtung der Kuh, die genetische Programmierung der auf Fleisch konzentrierten Tierzüchtung (in Bezug auf unsere Wurst), und ähnliches. Und hinter neueren Konzepten stehen Programme, die wieder Programme erzeugen. Das wahnsinnige Programm, das wir Mobilität nennen können, ist so weit entfernt von den vielen Anwendungen, die irgendwann zum Auto und Autobahnen oder zum Flugzeug und Landungspisten werden, dass wir den Zusammenhang zwischen gelungener Programmierung und besserer Leistung gar nicht mehr nachvollziehen können.
Und jedes Mal verschwindet mehr und mehr von der Notwendigkeit der Schriftkultur zugunsten von anderen Optionen. Dass man heute mehr Musik als in der Vergangenheit produziert, kopiert und auch hört, wird keiner bestreiten. Die mediale Dynamik der Gegenwart resultiert aus der Konfrontation von Kräften, die in der Pragmatik angesiedelt sind. In einer automatisierten Umgebung braucht man halt keine Schriftkultur.
Das eigentliche Überwinden des Alphabetismus findet als Prozess in der Pragmatik statt, die der globalen Skala der Menschheit entspricht. Die rapide und teilweise brutale Ausweitung nicht auf Sprache und Schriftkultur bezogener Handlungen in unserer Zeit erleben wir als zunehmende Instabilität, die sich in Arbeitslosigkeit, Terrorismus und anderem äußert. Also geht es zuletzt um das, was uns definiert: wir sind, was wir tun (wir führen Kriege, feiern Karneval, machen Urlaub, studieren, beuten andere aus, befragen uns gegenseitig, usw.). Ist das mögliche Nichtstun unser Ende? Oder der Anfang einer anderen Zivilisation – bisher Paradies genannt?
Ich möchte damit nochmal auf die Werte zu sprechen kommen. Es grassiert die Rede von der Wissensgesellschaft. Gleichzeitig wird ein völlig überholter Wissensbegriff gefördert, etwa repetitives Wissen, wie es etwa tagsüber in der Schule abgefragt oder abends in stupiden TV-Shows vorgeführt wird. Die Medienkultur prämiert oberflächliche Werte. Welche Idee neuer Werte ist vorstellbar?
Mihai Nadin: Werte gibt es nur in Bezug auf das, was wir machen, d.h. in Bezug auf unsere Selbstfeststellung einer gewissen Identität. Wir sind, was wir tun, und wir tun, was für uns Wert hat oder Werte ergibt. Trivial: Wir essen etwas, und es hat den Wert des befriedigten Bedürfnisses. Aber wir suchen uns einen Käse aus, der nicht bloß ein Ernährungsbedürfnis erfüllt, sondern der Genusserwartungen entspricht, die innerhalb unserer Kultur entstanden sind. Also: Werte sind kulturbedingt - bisher nichts Neues!
Was ich sagen will ist einfach: zwischen Darstellung und Konstituierung, also zwischen Repräsentation und Handlung oder Funktion besteht keine eindeutige Beziehung. Bereits in meinem Buch "Zeichen und Wert" (1981) habe ich thematisiert, wie die widersprüchliche Einheit des Zeichens als Darstellungsmittel (es stellt etwas dar, das es gibt), aber auch als Medium unserer Konstruktionen (es erzeugt etwas Neues) zeigt, dass Werte letztlich Konstrukte sind – und das lässt die Fragen alarmierter Technophoben etwas hohl klingen.
Technologien, egal ob digitale, nukleare, biologische, nano oder wie immer sie heißen mögen, können die Werte nicht bestimmen, die uns als Individuen oder als Gemeinschaften definieren. Nicht Werte entstehen durch Technologie, sondern diese kommt als Ausdruck unseres Wertesystems zustande. Darum ist Technologie nie bestimmend – nicht einmal, wenn sie verdammt schlecht ist. Falls unsere Handlungen entsprechend unserer Werte damit zum Ausdruck kommen und die Ausdehnung unserer Optionen unterstützen, ist alles in Ordnung – falls nicht, dann stehen wir vor einer Herausforderung. Das finde ich sogar ermutigend, denn unsere Werte sollen nicht Thema der Technologie oder Wissenschaft sein, sondern einfach unseren Interaktionen entsprechen.
Und wie verträgt sich das mit der kulturellen Tradition?
Mihai Nadin: Werte bilden die Schnittstelle zwischen dem, was war (oft auf das Wesentliche reduziert) und dem, was wird. Aber dass die ganze geschichtsbasierte Rechtslage die Werte von gestern verkörpert, ist eigentlich unannehmbar. Und dumm. Dass wir alle uns die Mühe geben, diejenigen Werte, die uns geprägt haben, weiter zu führen, oder auch nur so tun, als ob die auch heute noch Sinn machen, ist eigentlich ein Skandal. Die Werte der Zukunft entstehen im Konflikt, im Kampf zwischen dem, was war, und dem, was sein muss. Klingt anarchistisch? Da sind mir Etiketten unwichtig, es ist die Dynamik, die mich interessiert.