Brüche
Stuttgart 21: Demokratische Legitimierungskrise und Verblendung
Am Donnerstag, den 30.9., kam es in Stuttgart zu verschiedenen Brüchen: Nasenbeine, der Landfrieden und nicht wenige Herzen wurden von der Polizei gebrochen (siehe Stuttgart 21 - Konflikt eskaliert). Seitdem gibt sich die bürgerliche Demokratie von ihrem eigenen Benehmen erschrocken.
Erstaunliches geschieht in Baden-Württemberg, dem deutschen Bundesland, dessen Polizei zwar über Wasserwerfer verfügt, aber so gut wie nie einsetzt. Letzte Woche Donnerstag war es dann so weit, und die Helden der Exekutive bewiesen, dass sie ihr Gerät dennoch zu bedienen wissen, ob es sich nun um Wasserwerfer, Pfefferspray oder Schlagstöcke handelt.
Da die Staatsgewalt ausnahmsweise einmal nicht Autonome, Kurden, Fußballfans oder sonstige Außerirdische in die Mangel genommen hat, ist das Entsetzen groß. Der Mittelstand, der sich von diesen Außerirdischen immer weit genug entfernt wusste, aber an Stuttgart 21 (siehe dazu Rechnung ohne Wirt) so wenig Gefallen findet, dass seine Empörung in Protest umschlägt, sieht sich auf untunliche Weise mit dem "Gesocks" in eine Ecke gestellt: "Das könnt ihr doch mit uns nicht machen!"
Wenn auch die anderen immer kriegen, was sie verdienen - die braven Schwaben sind beleidigt, dass ihre Polizei ihnen die Fresse poliert, dass sie, die sich für die Mitte des Volks, für den eigentlichen Volkssouverän halten, Opfer eines ansonsten beharrlich geleugneten Gewaltverhältnisses werden. Wenig bezeichnet die Haltung der Grünen und der Linken deutlicher als der Schaum vor dem Mund angesichts der Polizeigewalt gegen Rentner und Schüler. Als stünden diese Bevölkerungsgruppen irgendwie unter Naturschutz. Während die Chaoten, die Außerirdischen, immer völlig zu Recht mit den Serviceleistungen von muskulösen Freunden & Helfern des Kapitalismus zu tun bekommen haben, ob in Berlin-Kreuzberg, in Hamburg, in Wackersdorf oder im Wendland.
Weil er Steuern zahlt, möchte der brave Bürger auch auf Bäume klettern und die Polizei am Durchsetzen von irrsinnigen Großprojekten hindern dürfen, ohne darauf hingewiesen zu werden, dass er Steuern zahlen, wählen und stillhalten soll - was doch die Form der Demokratie ist, die ihm ansonsten so vortrefflich behagt. Ja, fürwahr, es kommt zu unangenehmen Missverständnissen, wo das Stimmvieh glaubt, es sei schon etwas gesagt, wenn es ruft: Wir sind das Volk!
Achse der Korrupten
Aber da sind noch mehr Brüche. Der Bahnhof wird abgebrochen; der pasteurisierte und homogenisierte Kleister, mit dem die Medien die Realität Tag für Tag zukleistern, wirkt auf einmal wie angetrocknet, brüchig geworden. Adorno hatte seinerzeit für diese Klebemasse den Begriff "Verblendungszusammenhang" erfunden, "Verblödungszusammenhang" mag heute treffender sein.
Der Verblödungszusammenhang, der von einer Achse der Korrupten (Journalisten, Politikern, Bahnmanagern) Tag für Tag durch eine Unzahl von Medienbeiträgen immer neu hergestellt wird, stößt an seine Grenzen, wo der Normalbürger, der sich ansonsten nur allzu gern innerhalb dieser Grenzen aufhält, wie ein Kind, dem die Wahrheit über den Nikolaus dämmert, verbittert ausruft: "Die lügen ja alle!"
Und plötzlich klingt die Redewendungen von der "Deeskalation", von der "ausgestreckten Hand", von der "Besonnenheit", wie das, was sie sind: bestelltes und bezahltes Gerede von professionellen Lügnern, der fadenscheinig gewordene Samt um die eiserne Faust der Interessenwahrung. Politiker fordern Demonstranten zur Friedfertigkeit auf, die sie vorher haben zusammenschlagen lassen. Wenn sie vor die Mikrofone treten, sehen sie aus wie die Pressebeauftragten der Cosa Nostra. Die Pfaffen sind bestürzt, dass die Nutzlosigkeit ihrer runden Tische und Gesprächskaffeekränzchen offen zutage tritt. Die prügelnde Polizei gibt sich entsetzt von der Aggressivität der Demonstranten, die sogar aufjaulten, wenn sie Schläge bezogen.
"Legitimationsgerede"
Besonders nachdrücklich macht sich Rüdiger Grube lächerlich, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG. Wie ein Papagei, der sich erst auf seinen Lieblingsspruch versteift hat, begreift er nicht, dass seine Behauptung, Stuttgart 21 sei "demokratisch ausreichend legitimiert", langsam den bürgerlichen Konsens zu den Legitimationsmechanismen in unserer fabelhaften Konsensdemokratie anzugreifen beginnt. Wenn er zusätzlich behauptet, dass "bei uns" die Parlamente entscheiden, "und niemand sonst", dann beweist er, dass er noch lesen lernen muss.
Erstens die Zeitung, in der sein Legitimationsgerede angesichts fröhlich vor sich hin explodierender Projektkosten dem Gelächter jedes denkenden Menschen preisgegeben wird, und zweitens das Grundgesetz, besonders Artikel 20, Absatz 2. Das S21-Planungschaos hinter den Kulissen spielt natürlich bei Herrn Grubes legitimem Theater keine Rolle, und was die Geschichte angeht, verlässt er sich zu Propagandazwecken auf selektive Wahrnehmung: Stuttgart 21 werde vor seiner Durchsetzung bekämpft und nach seiner Durchsetzung geliebt, wie andere Großprojekte auch, z.B. die Messe auf den Fildern.
Das nie gebaute Atomkraftwerk Wyhl und den mit Stuttgart 21 an Schwachsinnigkeit vergleichbaren Großflughafen im Schönbuch - ebenfalls zum Glück nie gebaut - vergisst Herr Grube dabei genehm.
Was mit dem unterirdisch dummen S21-Projekt nun wird, weiß keiner. Aber eins ist gewiss: Dass das Bürgertum in Stuttgart derzeit in den Spiegel sieht und sein eigenes Gesicht nicht so recht leiden mag, ist ein Bruch, den es zunächst einmal nur zu goutieren gilt. Trotz aller politischen und publizistischen Verteufelung von "gesellschaftlichen Spaltungen" und trotz aller schafsfrommen Hoffnungen auf die Rückkehr zum üblichen Kleister-Konsens.