Brutalismus: Wiedererweckung der Betonriesen
Seite 3: Von der Schwere des Betons zur Leichtigkeit des Seins
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Eine verschüttete Quelle des Brutalismus sei noch freigelegt: Nach dem Krieg hatten sich Künstler aller Sparten in London zusammengefunden, um die "Independent Group" zu gründen. Das treibende Motiv war die Verarbeitung der Kriegserfahrung. Manifestartig hieß es, die Zerstörungen durch Bomben seien der Surrealismus des wirklichen Lebens.
Das klingt befremdlich, mag sich jedoch aus dem Selbstbild der Briten erklären, wie es damals in ihr Nationalbewusstsein einging. Danach wähnt man sich sicher auf der Insel und kann sich nicht vorstellen, dass Bombenteppiche die Stadt in Trümmer legen. Man bewahrt Haltung, wenn es losgeht. Die Dinge kommen einem irgendwie surreal vor.
Die Aufbruchszeit nach 1945 beflügelte alle Künste in England bis zur Pop Art und "Archigra"'. Eduardo Paolozzi war stark engagiert in der Independent Group. Die Smithsons waren auch dabei, bevor sie zu einer neuen Gruppe, Team X, wechselten. In Paris traf man sich mit den wirklichen Surrealisten.
Ob das alles nun kritisch oder konstruktiv zur Moderne steht, dürfte gleich sein. Für ein klares Urteil sind die Werke des Brutalismus zu vielfältig und weltweit gestreut. Wie gestreut liegen auch die schweren Brocken in der Landschaft, die sich gegen das Wegräumen sperren. Die Bunker der Maginot-Linie, des Atlantik- und des Westwalls sind Betonbrutalismus par excellence. Sie sind wie Findlinge, as found.
Die "Extrem-Ästhetik" von Bunkerbauten war 1956, als der Kalte Krieg bereits tobte, Thema im Rahmen einer Ausstellung einer Ausstellung. Die Smithsons stellten im Modell einen Bunker nach, der nur aus Innenraum bestand. Die Surrealität des Überlebens war auf die Spitze getrieben. Die eingelagerten Lebensmittel sollten mit Gammastrahlen bombardiert werden.
Der Hochbunker in der Pallasstraße in Berlin-Schöneberg gibt sich hingegen unverstellt. Er widerstand der Sprengung. Schließlich wurde eine Wohnanlage gleichsam auf ihn draufgesattelt.
Die symbolische Funktion brutalistischer Solitäre strahlt im internationalen Maßstab nach zwei Seiten aus. Einerseits sind sie regional ausdifferenziert. Als Repräsentativbauten für politische oder kulturelle Verwendung trugen sie zum "Nation Building" bei.
Imposant ist das von Le Corbusier entworfene Parlamentsgebäude im indischen Chandigarh. Auf der anderen Seite verstoßen die Solitäre bewusst gegen die architektonischen Konventionen ihrer Umgebung. Sie scheren sich nicht ums Milieu.
Berlin
Stichpunkte zu einigen Berliner Beispielen, die zu Denkmälern aufgerückt sind:
ICC: Urbild eines gestrandeten Wals. Baujahr 1975-79. Ehem. Kongresszentrum; Chancen auf Wiederbelebung. High-Tech-Architektur. 120.000 m3 Beton. Innen eine Stadt in der Stadt. Alu-Haut. Der damalige Bundespräsident zur Einweihung: Das ICC steht noch, wenn die "Cheopspyramide schon längst verwittert ist.".
Bierpinsel: Vom selben Architektenpaar wie vor. 1976 eröffnet. Korbähnlicher Aussichtsturm über mehreren innerstädtischen Verkehrsebenen. Turmrestaurant auf zwei Etagen. Sichtbeton mit Kunststoffpaneelen. Wie eine Raumkapsel. Pop Art. Leerstand seit 2010.
Mäusebunker: Ehemals Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin, 1981 fertiggestellt. Image eines Panzerkreuzers. Aura von Qual, Horror und Folter. Außen Sichtbeton, innen viel Edelstahl. Die Chancen auf Erhalt steigen. Offen für neue Nutzungen.
Ehem. Kirche St. Agnes: in Berlin-Kreuzberg. Zeugnis des "Betonkirchenbrutalismus". 1967 fertiggestellt. Architekt: Werner Düttmann, der als Senatsbaudirektor viele Spuren in der Stadt hinterlassen hat. Das Kirchenschiff mit indirektem Licht vermittelt den Eindruck eines absoluten Raumes. Heute zum Galeriegebäude umgebaut.
Jugend vom Betonbrutalismus angezogen
Jugendliche neigen zur Gruppenbildung, um für sich zu sein. Im öffentlichen Raum suchen sie Plätze auf, die das Auge von Erwachsenen ob ihrer vermeintlichen Hässlichkeit übersieht, das heißt, ausblendet. Für Jugendliche sind es Rückzugsorte, gebildet etwa aus den "Setzungen" in die Jahre gekommener Nachkriegsbauten und einer vom Verkehr erdrosselten Infrastruktur.
Das bevorzugte Material der taktischen Rückzugsbewegungen einer jungen Stadtguerilla ist Beton. Beton verfällt und symbolisiert den Verfall, siehe Brücken.
Ist "brut" also doch mit "brutal", gewaltsam, zu übersetzen? Die Jugendlichen (und jungen Architekt:innen), die sich vom Betonbrutalismus angezogen fühlen, urteilen im Grunde wertfrei. Sie wissen, dass die Brutalität der Architektur und die der Gesellschaft einander entsprechen. Für die Jugendlichen ist es eine Gesellschaft "as found".
Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Bertolt Brecht
Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.
Karl Marx
Um den Wert der Betonbauten zu erkennen, braucht es nicht erst zu Abrissen zu kommen. Die "schlafenden Riesen" wachen auf. Es sieht so aus, als könnten sie sich aus den eigenen Trümmern neu erschaffen.