Brutalismus: Wiedererweckung der Betonriesen

Seite 2: Gesucht: Ausdrucksformen der Arbeiterklasse

Analogien zwischen gebauter Realität und gesellschaftlichen Verhältnissen sind in erster Linie sinnbildlich. Prognosen zur Zukunft der Gesellschaft können daraus nicht abgeleitet werden.

Aber die Smithsons nähern sich dem Problem an, wenn sie die "Parallele von Leben und Kunst" postulieren. Kommt die Architektur als dritte Parallele hinzu, ist ein Gesamtkunstwerk entstanden.

Für die brutalistische Architektur stellt Banham die überraschende Alternative "Ethik oder Ästhetik" auf. Ethik hat den Vorrang. Sie zielt auf die sozial- und wohnungspolitische Verantwortung der Planer.

Architektur des Sozialstaates

Der schwedische Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit diente den englischen Brutalisten als Vorbild, um die "moralischen Imperative" der Moderne wiederzubeleben. Eine "Architektur des Sozialstaates" war verlangt, wie sie etwa dem Neuen Bauen im Deutschland der Zwanziger Jahre zugrunde gelegen hatte.

In der Tat hatte der Bauhausdirektor Hannes Meyer ein Bauen für "Volksbedarf statt Luxusbedarf" proklamiert. Was dem Bauhaus noch fehlte, war die "demokratische Monumentalität".

In den skandinavischen Ländern stellten sich moderne Architekten wie Alvar Aalto dem Bauen für den sozialen Fortschritt zur Verfügung. Die Adaption des schwedischen Modells durch die englischen Verfechter des Brutalismus verfestigt die Hypothese, dass der Begriff aus Schweden importiert sei.

Die neue reformerische Architektur und Stadtplanung legte eine Abkehr von der "Backsteinsprache" der Reihensiedlungen nahe. Gesucht wurde stattdessen nach authentischen Ausdrucksformen der britischen Arbeiterklasse.

Sachlich, funktionsbetont und schnörkellos

Der Brutalismus war die angemessene Form. Die Bauten waren sachlich, funktionsbetont und schnörkellos. Als Ornament reichte der Abdruck der Maserung der Schalungsbretter auf der Betonoberfläche. Die Bauten waren kostengünstig. Sie waren in Serie zu produzieren, geeignet für den sozialen Wohnungsbau. Die Masse machte es.2

Das Aufbauprogramm umfasste auch größere Vorhaben der öffentlichen Hand wie Krankenhäuser, Schulen und Bibliotheken. Das damals vorbildliche englische System der gesundheitlichen Versorgung ist heute marode, was wieder eine Parallele zu den brutalistischen Hinterlassenschaften darstellt, die vergammeln.

Florian Dreher zufolge entwickelte sich der Betonbrutalismus in Richtung einer Reduktion auf die reine Materialoberflächenbeschaffenheit. Die in Beton gegossene soziale Reform steuerte auf ihr Scheitern zu. Die Ästhetik im Sinne eines "L'art pout l'art" siegte. Das schien Banham vorauszusehen.

Das erste Werk, mit welchem die Smithsons einen "neuen", in Wahrheit etwas ungefähren Brutalismus für sich in Anspruch nahmen, war die Schule in Hunstanton/Norfolk von 1954. Der Bau sieht aus wie eine Hommage an Mies van der Rohe und war durchaus so gemeint.

Er ist leicht, licht und formal reduziert. Die hauptsächlichen Materialien sind Stahl, Glas und Backstein. Schon hier betonte das Architektenpaar am praktischen Beispiel seine Materialtreue, den Umgang mit der Natur des Baustoffs "as found". Aber Beton war bei diesem frühen Brutalismus noch abwesend.

Der Raumeindruck des Schulgebäudes ist fließend. Einen schöneren Wiederanschluss an die Vorkriegsmoderne kann man sich kaum vorstellen.

Auch im Städtebau der Nachkriegszeit wollte das Paar Akzente setzen. Es schlug vor, einem dichten Straßennetz ein System von Plattformen überzuziehen, die den Fußgängern vorbehalten sind. Brücken, Rampen oder Laubengänge dienen der Erschließung. Verschiedene Ebenen sind über Rolltreppen zu erreichen.

Diese "Streets in the Sky" können als Versuch gelten, den öffentlichen Raum für Fußgänger zurückzugewinnen, steckten jedoch den Raum für die autogerechte Stadt ab. Diese radikale Verkehrslösung blieb Berlin erspart. Die Smithsons konnten ihren Entwurf in einem Berliner Wettbewerb von 1957/58 nicht durchsetzen. Parallelen dieser Ideen zu Le Corbusier und seinen Stadtutopien liegen auf der Hand.

Le Corbusier war bereits vor dem Krieg über der Schwärmerei für seine Idealstadt in eine Art Autobahn-Lyrik verfallen: "Der gewaltige Säulengang, der am Horizont als verblassender Streifen verschwindet, ist eine erhöhte Autobahn..."

Und in der Nacht hinterlässt der Strom der Wagen "leuchtende Zeichen, die Sternschnuppen gleichen". (Plan Voisin)