Brutalismus: Wiedererweckung der Betonriesen

"Mäusebunker", Berlin. Bild: Bernhard Wiens

Die rohen Bauten entstammen der Sozialstaatsidee. Sie wurden in "demokratischer Monumentalität" hingeklotzt. Heute sind sie nur noch rau, aber herzlich.

Für die einen sind sie gestrandete Wale, Betonmonster oder Hochsicherheitstrakte, für die anderen sind sie die Fortsetzung der Moderne mit anderen Mitteln und Materialien. Die einen möchten sie abreißen, die anderen, die "Zement-Neurotiker", sehen in ihnen das Potenzial, symbolisch die Risse in der Gesellschaft zu kitten.

Sie, das sind die Groß- und Betonbauten der fortschrittsbesoffenen Auf- und Ausbaujahre. Zahlreiche Zuschreibungen, Wünsche wie Ängste, lasteten damals auf ihnen. Ist die Zeit für eine Katharsis gekommen?

Standen – und stehen – die Bauten des (Beton-)"Brutalismus", wie sie getauft wurden, quer zur Moderne, oder entwickelten sie sie weiter im Sinne eines Sozial- und Wohnungsbauprogramms der Massengesellschaft, gekrönt durch die Monumentalität der für sich stehenden Repräsentativbauten?

Die englischen Gründer der "Bewegung", das Architektenpaar Peter und Alison Smithson auf der einen Seite und der Architekturkritiker Reyner Banham auf der anderen wussten es selbst nicht so genau. Brutalismus sei kein eigener Stil.

Die Frage nahm philosophische Ausmaße an: Was war eher: der Begriff oder die Sache? Schwer zu sagen, zumal die Herkunft des Begriffs nicht genau zu lokalisieren ist.

Banham tippt auf Schweden und dementiert in seinem 1966 erschienen Buch Brutalismus in der Architektur: Ethik oder Ästhetik gleich selbst seine früheren Hypothesen. Schließlich zerstritten sich die Protagonisten. Fest steht, dass sich Le Corbusier auf die Bauweise mit "Béton brut" berief, die er schon vor dem Krieg beherzigte.

Brutalismus: Wiedererweckung der Betonriesen (19 Bilder)

"Mäusebunker", Berlin. Bild: Bernhard Wiens

Auch die Etymologie hilft nicht weiter. Was ist "brut"? In die deutsche Übersetzung spielt "brutal" hinein. Das setzt dem Betrachter die falsche Brille auf. Im Original ist roh im Sinne von unbehandelt, unverkleidet gemeint. Das heißt: Sichtbeton.

Die Regeln des Neuen Brutalismus

Einen Fingerzeig geben die Regeln des Neuen Brutalismus, die Banham 1955 aufstellte: Die tragende Stahlbetonkonstruktion ist sichtbar zu machen. Mit dieser Forderung ist der Brutalismus der Moderne verbunden. Die inhaltliche Struktur wird an der ausgestellten (Skelett-)Konstruktion sichtbar. Die skulpturale Durchbildung erleichtert dies.

Weiter Banhams Regeln: Die den Materialien eigenen Qualitäten sind vorzuzeigen. Die extreme Wertschätzung des Materials ist ein Alleinstellungsmerkmal der brutalistischen Architektur, die sich der "Ehrlichkeit" rühmt, mit dem Material "as found" umzugehen.

Die Materialien sind in ihren Grundeigenschaften "zu sehen wie sie sind". Sie sind sensibel zu behandeln mit Rücksicht auf die "Holzigkeit" von Holz oder die "Sandigkeit" von Sand. Es muss nicht immer nur Beton sein. Es kann etwa auch "Backsteinbrutalismus" sein.

Die brutalistische Architekturtheorie, wenn es sie denn gibt, geht so weit, das Platonsche Höhlengleichnis aus den Angeln zu heben, wonach das, was wir sehen, Erscheinung ist, die uns über die tiefer sitzende Wahrheit hinwegtäuscht.

Dagegen Banham: Etwas ist tatsächlich so, wie es vorgibt zu sein. Es "sieht so aus, als sei es aus Glas, Ziegel, Stahl und Beton gemacht, und es ist aus Glas, Ziegel, Stahl und Beton gemacht. Wasser und Elektrizität kommen nicht aus unerklärten Löchern aus der Wand, sondern sind mit sichtbaren Rohren und Leitungen zur Verbrauchsstelle geführt."1

In den Boomzeiten des Brutalismus, so in den 1960er- und 1970er-Jahren, waren die Bauherren gerne stolz auf die Unmengen an Beton, die bei Großbauten buchstäblich vergossen wurden. Aber auch bei Beton ist die Menge kein Qualitätskriterium.

Die blockartigen, trutzigen Formen, zu denen Betondesign neigt, können Angst einflößen, wenn aufgeblasen. Dafür, dass es auch anders sein kann, gibt es jedoch genügend Zeugnisse, etwa die Wohnhäuser des Berliner Architektenduos Baller, die beschwingt, licht und kommunikativ sind.

Béton brut ist ein ambivalenter Baustoff: anziehend und abweisend, licht und dunkel, göttlich wie das Pantheon und teuflisch. Er bekommt Altersrunzeln.

"Ich bin hässlich, aber du musst mich lieben."

Der Architekt Georg Kohlmaier ist den "rhetorischen" Fähigkeiten betonbrutalistischer Bauwerke auf den Grund gegangen. Ihn dünkt, als würden sie sagen: "Ich bin hässlich, aber du musst mich lieben."

Kohlmaier ist nebenbei mit einem eigenen Werk im Reigen der Berliner Großbauten vertreten. Er entwarf das ehemalige Mathematikgebäude (1981) der TU Berlin als einen "Fun Palace" mit Anflügen von Pop Art.

Béton brut hat auf der anderen Seite mythologische Bezüge zur Unterwelt, genauer zum Reich, in dem die Götter der Erde (chtonisch) ansässig sind. In dieser Erzählung wäre Beton das flüssige Material, die kochende Lava, die aus der vulkanischen Erde hervorschießt und an der Oberfläche versteinert. Das ist seine "Petrifizierung". Beton, heißt es folgerichtig, ist "wie aus einem Guss".

Die mythologische Erzählung kann wieder in die soziale Realität rückübersetzt werden. Die Lehre vom Positivismus (E. Durkheim u.a.) besagt im Kern, dass gesellschaftliche Verhältnisse so zu betrachten und zu behandeln seien, als wären sie ein natürliches, physikalisch zu erfassendes Ding.

Sie werden als Naturtatsache as found vergegenständlicht. Heraus kommt die Versteinerung der sozialen und politischen Verhältnisse. Dieses natürlich beschaffene Ding, Beton, ist der Spiegel der Versteinerung der Gesellschaft, heute mehr denn je.