Städte in der Krise: Warum wir unsere Bausünden so lieben

"Neustadt" / Emscherkunstweg. Pressefoto: Julius von Bismarck / Marta Dyachenko

Erhalt und Umbau des Bestandes können Wohnungsnot mindern. Doch die Architektenzunft hat noch andere Leichen im Keller. Was unsere Städte mit Hühnerkäfigen verbindet.

"Bauen, Bauen, Bauen" Die Politik setzte Alarmsignale ab. 400.000 neue Wohnungen jährlich würden gegen die Wohnungsnot aufgeboten, versprochen. Etwas undeutlicher wird die Politsprache beim darauffolgenden Eingeständnis, so weit wie je von jenem Ziel entfernt zu sein. Die Latte ist gerissen.

Eine winzige Kleinigkeit wurde übersehen, besser: umgangen. Jede Nachfrage ist zahlungskräftige Nachfrage, jeder Bedarf tritt auf dem Markt als Kaufkraft auf, die in unseren Tagen stark schwankt. Die Kapitalzinsen spielen eine dominante Rolle. Der Ankündigungspolitik der Regierung pflegt angesichts dieser Macht gewohnheitsmäßig die Luft auszugehen.

In diesem Spiel hat das Bestehende gegenüber dem neu zu Errichtenden einen tendenziell geringeren Wert. Aber sein Gebrauchswert hat Steigerungspotential. Werden die Leerstände von Wohnungen und aufgelassenen Gewerbe- und Verwaltungsgebäuden mobilisiert, ist man schneller dem Ziel nahegekommen als durch Neubau.

Laut einer Schätzung könnten vier Millionen Wohnungen aus dem Bestand rekrutiert werden. Es ist schon da, worauf der Bedarf sich richtet. Der Erhalt durch Umbau oder Sanierung ist ökonomischer als Neubau. Und die ökologischen Vorteile liegen auf der Hand.

55 Prozent des Abfallaufkommens in Deutschland gehen aufs Konto der Bauindustrie. Weltweit ist die Branche für ca. 40 Prozent der CO2-Exmissionen verantwortlich. Durch Wiederverwendung der Baustoffe und Materialien könnte insgesamt die graue Energie, die bei der primären Produktion jener Güter aufgewendet und gespeichert wurde, gestreckt werden. Das gilt insbesondere für Um- und Anbauten, aber auch für Aufstockungen sowie für Ersatzneubauten.

Dieses Re-Use-Konzept würde die kontinuierliche Entwertung der Baulichkeiten Richtung Null und damit Richtung Abriss durch ein Lebenszyklus-Modell ablösen. Ansätze gibt es durchaus, aber die eigentliche Problematik steckt in Kampf neu gegen alt.

Es kommt weniger darauf an, wie viel gebaut wird. Das Wie ist entscheidend. Häuser, Quartiere und Städte sind soziale Gebilde. Erst, wenn die Bewohner sich in ihr Wohnumfeld eingelebt haben, wenn ihr Quartier für sie einen positiv besetzten Namen hat, ist Beständigkeit erreicht.

Allerdings ist die Formel "Bestandserhalt statt Neubau" zu dogmatisch. Auch sie klammert etwas aus. Die Abschätzung des Nutzens und des Werts von Gütern, die aus dem Gebrauch herausfallen, war über die Jahrhunderte höchst unterschiedlich. Nahrungsmittelreste wurden an Haustiere verfüttert.

Aus Talg wurden Kerzen und Margarine. Das Milieu, in welchem der entsprechende Kleinhandel gedieh, ist mit dem Knittelvers umschrieben: "Lumpen, Eisen, Knochen und Papier / Ausgeschlagene Zähne sammeln wir."

Die Wertigkeit des Wiederverwendbaren differiert stark von Milieu zu Milieu, je nach der Dringlichkeit und Art des Bedarfs. Im gehobenen Segment agieren heute die "Bobos", die in ihrer urbanistischen Ausprägung etwa mit "Utra-Gentrifier" einzudeutschen sind.

Sie haben eine "Sperrmüllmentalität". Sie demonstrieren ihre Verachtung gegenüber dem Konsum. Die Ausdifferenzierung der Bedürfnisse und der Kaufkraft gegensätzlicher Schichten macht deutlich, dass hinter der Parole "Bestand erhalten" und "Altes bewahren" die soziale Frage steht. Sie macht den eigentlichen Unterschied.

Auch was die Beschaffung und Aufbereitung wiederverwendbaren Baumaterials angeht, sollte berücksichtigt werden, dass die Logistik den gleichen Marktmechanismen unterworfen ist wie der Baumarkt insgesamt. Heißt es deshalb in einer Veröffentlichung des Umweltbundesamtes: "Die Wiederverwendung von Bauteilen ist nur selten wirtschaftlich"? Das sollte jedoch nicht daran hindern, das System sukzessive besser zu machen und etwa adäquate, regional basierte Bauprodukt-Börsen einzurichten.