Städte in der Krise: Warum wir unsere Bausünden so lieben

Seite 2: Die angepasste Stadt und das lernende Haus

Der Denkmalschutz konnte außer bei Repräsentativbauten nicht verhindern, dass sich bisher die Abrissfraktion als durchsetzungsfähiger erwiesen hat. Prototypen einer großflächigen Zerstörung für Neues sind das Paris Baron Haussmanns oder die Idealstadt-Entwürfe Le Corbusiers. In beiden Fällen sehen die Urheber in einer Tabula rasa den besten Gewinn für eine neue Stadt.

Das ist wörtlich zu nehmen. Die aus der Renaissance und dem Absolutismus hervorgegangene Idealstadt hat den Boden für Planquadrate bereitet. Der Primat liegt nunmehr auf der Kalkulation, wie viel Rendite pro Fläche erwirtschaftet werden kann.

Das drückt sich heutzutage rechnerisch in der Geschossflächenzahl aus, aber auch gestalterisch in dem allseits um sich greifenden Raster der Fassaden. Im Stadtgrundriss findet es sich als "Grid".

Das ist die "Kreative Zerstörung" der kapitalistischen Bauweise. In einem andauernden Prozess wird alles zerstört, was aufgebaut wurde. Was neu ist, wird ständig entwertet, bis es selbst durch das noch Neuere aufgelöst wird. Konnotiert wird, dass das Neue automatisch das Bessere ist. Das Hochhaus wird durch das noch höhere ersetzt.

Vornehmlich alte europäische Städte verfügen über Antidots gegen Zerstörung. Der Erdboden in Rom ist wie eine poröse Haut. Schicht hat sich an Schicht angelagert. Genau genommen sind es viele Häute, die mehr oder minder durchlässig sind für neue Einflüsse. Eine Schicht überschreibt die andere. Das Übereinander schließt auf zum Nebeneinander. Die Geschichte der Stadt existiert im Jetzt.

Die Topografie der Stadt reicht bis in die Archäologie. Das Neue wird nicht bekämpft, sondern absorbiert. Hybride entstehen. Architekturstile vermischen und verwischen sich und mit ihnen die Bewohnerschaft. Allerdings blieb auch Rom unter Mussolini nicht vom Einbruch der zerstörerischen Tabula rasa verschont.

Die Überlagerung der Schichten reicht bis in die Atmosphäre, nicht sichtbar, aber fühlbar. Walter Benjamin schreibt nicht nur über Rom: "Wer eine Stadt betritt, fühlt sich wie in einem Traumgewebe, wo einem Geschehnis von heute das Vergangenste sich angliedert."

Trotz ihrer Steinschwere sind Städte empfindlich wie eine Äolsharfe für die lebendigen historischen Luftschwingungen. – Das wird nicht der Klang der Abrissbirne sein.

Stewart Brand stellt fest, dass Häuser während ihrer Lebensdauer mehrere Metamorphosen durchmachen. Zwar werden die Veränderungen von den jeweiligen Bewohnern vorgenommen, doch geht der Gesamtprozess über die einzelnen hinweg. Es ist der Lernprozess des Hauses als Gattungswesen.

Einfamilienhäuser etwa können erweitert, aufgestockt oder zurückgebaut und die Fassade kann verändert sein. Eine Veranda kann vorgesetzt oder entfernt und die Garage in eine Werkstatt umgewandelt sein. Die Garagen, in denen in jungen Jahren Bill Gates, Jeff Bezos oder Steve Jobs an ihrem späteren Weltruhm bastelten, sind in Amerika zur Ikone geworden. Das aktuelle Stichwort zum Thema ist der klimafreundliche Umbau der Häuser.

Das "lernende Haus" ist ein Möglichkeitsraum für sich ändernde Nutzungen und Funktionen. Die Struktur des Hauses und die der im Rückzug befindlichen Familie passen sich wechselseitig und über Generationen einander an. Leerstehende Gebäude und Brachen sind nutzungsoffen für Zwischennutzer.

Die Zeit des Instandbesetzens ist übergegangen in Raum für künstlerische Projekte. Sie sind der Platzhalter für Bestandserhaltungen, möglicherweise aber auch für Neubauten. Gentrifizierung nicht ausgeschlossen.

Leerstehende gewerbliche Hochhäuser ermöglichen die Variation von Grundrissen und eignen sich gut zur Umwandlung in Wohnimmobilien im Luxussegment. Stewart Brand bezieht auch Neubauten in das Lebenszyklus-Modell ein.

Er schlägt vor, die Umbau- und Rückbaufähigkeit schon bei der Planung und beim Bau einzubeziehen. So ist beim Neubau gewerblicher Bauten die Frage nicht unerheblich, wie und wo die Leitungen zu verlegen sind, um künftigen Änderungen nicht "im Wege" zu stehen.

Nicht minder sollten die künftigen Bewohner in die Phase des Endausbaus einbezogen werden. Beim Bauen sollte nicht gleich ein Endzustand definiert werden. Das Unvollkommene wird so zum Attribut des Hauses. Lacaton und Vassal haben ein bestehendes Wohnhaus großflächig erweitert, ohne einzelne hinzugewonnene Räume zu determinieren. Die Bewohner sollen selbst entscheiden, wie sie den Raum nutzen wollen.

Das ganze Programm solch "unfertigen" Bauens richtet sich gegen Verkrustungen der Moderne. Hatte noch das Bauhaus die Maxime "Form follows function" sich zu eigen gemacht, so drehen Verfechter des lernenden Hauses wie Stewart Brant die Formel ein Stück weiter: Function reforms form.

Die Funktion setzt sich gegen die Erstarrungen der Form durch. Die Vertreter des Neuen Bauens brauchen sich diesen Schuh nicht anzuziehen. Sie hatten schon 1931 das Konzept des "wachsenden Hauses" aufgebracht. Und das ist nichts anderes als das lernende.